33. Kapitel

Hera, Gegenwart

Sie fühlte sich zum Sterben müde. Die Geschichten mussten erzählt werden – keine Frage –, und gleichzeitig saugte dieses Eintauchen in die Vergangenheit jede Lebensenergie aus ihr heraus. Katharinas Reaktion war verständlich, denn aus der heutigen Perspektive sah sie es genau wie ihre Enkeltochter: Sie hatten sich ebenso barbarisch verhalten wie die Menschen, die sie mit dem ausgestreckten Zeigefinger verurteilt hatten. Man durfte eben nie vergessen, dass dabei immer mindestens drei Finger auch auf einen selbst zeigten. Sie hatten sich schuldig gemacht an der Familie des Verbrechers Brokalakis, und nicht nur, indem sie zugesehen hatten, was die vollkommen verlorene Frau ihren Kindern angetan hatte. Sie würde Katharina in Bezug auf die damaligen Geschehnisse nicht schonen.

Langsam erhob sie sich und ging zu dem dunklen Buffet, in dem sie nicht nur Geschirr und Gläser aufbewahrte, sondern auch die Dinge, die ihr wichtig waren. Sie nahm die Truhe aus Olivenholz heraus, auf deren Deckel ein Olivenzweig eingeschnitzt worden war. Langsam ließ sie ihre arthritischen Finger über die Intarsien gleiten, dann trug sie den alten Schuhkarton, der darin war, zum Tisch und öffnete ihn. Unter weiteren kleinen Kistchen, in denen sie einige Schmuckstücke aufbewahrte, die Katharina erben sollte, befanden sich Fotos und vor allem ein Brief, den sie nun schon rund sechs Jahrzehnte aufbewahrte. Die Tinte war verblasst, und manche Worte waren kaum noch zu lesen. Doch sie kannte jede Zeile auswendig, denn es war ihre Antwort auf den Stein im Meer gewesen. Mal war das Ritual gut ausgegangen und mal nicht – doch bei ihr war es eine Frage des Blickwinkels. Für ihre Vorfahrin Litsa, die als Erste das Ritual durchgeführt hatte, hatte es gewiss keinen Interpretationsspielraum gegeben – der geliebte Mann war gestorben. Doch alles im Leben war eine Frage der Perspektive. Sie war alt und wusste genau, wovon sie sprach, denn mit ihrem Wissen von heute hätte sie so vieles anders gemacht. Doch die Dinge konnten nicht mehr geändert werden – getan war getan, und auch Gesagtes ließ sich nicht mehr zurücknehmen.

Sie nahm die vergilbten Fotos heraus: Andreas auf dem Weihnachtsmarkt am Jungfernstieg in Hamburg – mit einem dieser schrecklich süßen kandierten Äpfel. Elonidas und sie an den Landungsbrücken – der Wind pfiff ihr durchs Haar, und sein Blick ruhte auf ihr. Sie konnte die Liebe darin sehen. In seinem Blick war sie immer da gewesen – gemischt mit etwas, das sie als Dankbarkeit interpretiert hatte –, nur ausdrücken hatte er sie nicht allzu gut können. Er war zerbrochen, und in der Zeit, in der er sich mühselig wieder zusammengesetzt hatte, war es ihm nicht gelungen, alles wieder an den richtigen Platz zu bringen. Zudem waren jede Menge Teile so kaputt, dass sich nichts mehr damit anfangen ließ. Sie hatten gute Tage – so wie an diesem hier an der Elbe. Aber es gab auch viele sehr schlimme Tage und vor allem Nächte. Nachdem er sie während eines schauderhaften Traumes verletzt hatte – er hatte wild um sich geschlagen, und dabei war seine Hand ungebremst in ihrem Gesicht gelandet, und ihre Lippe hatte an einem Riss zu bluten begonnen –, zog er ins Gästezimmer um. Die Scham und die Schuld, ihr Schmerzen zugefügt zu haben, beugten ihn wochenlang vor Gram.

»Du wolltest mir doch nicht wehtun, Elonida«, sagte sie bestimmt hundertmal, um ihn zu beruhigen. Doch nichts konnte ihn trösten.

Sie hatten sich in ihrem Leben arrangiert und ein kleines griechisches Restaurant in der Nähe des Hamburger Michels aufgemacht. Es hatte nur acht Tische gehabt, aber diese waren immer voll gewesen. Und mit den Reparationszahlungen, die ihr Mann als ehemaliger Insasse eines KZs bekommen hatte, waren sie gut über die Runden gekommen.

Sie zog das nächste Bild heraus: Es zeigte Elonidas in einem ledernen Ohrensessel. Sein Kopf war leicht zur Seite geneigt, und er schlief. Sie hatte nicht anders gekonnt, als ihn zu fotografieren, denn sein Gesicht war so entspannt wie selten, und Elonidas sah beinahe aus wie der junge, feurige Kerl, den sie so gern gehabt hatte und für den sie vom Meer in die Berge gezogen war. Sie strich über sein Gesicht. Liebe war etwas Kostbares, und sie hatte damals eine Entscheidung getroffen, ohne sich darüber im Klaren zu sein, was diese an Konsequenzen mit sich bringen würde. Sie war zu alt, um nachsichtig mit sich zu sein. Wäre sie in der Heimat geblieben – nach all den Jahren, in denen sie Elonidas totgeglaubt hatte –, dann wäre Giorgos gewiss kein Mörder geworden. Davon war sie mittlerweile überzeugt, und sie ging daher hart mit sich ins Gericht. Eine Entscheidung für den Ehemann, und sie hatte nicht gesehen, dass sich auf der Rückseite der Medaille in diesem Moment eine Entscheidung gegen ihren Sohn abgezeichnet hatte.

Sie seufzte und griff zum Telefon.

Katharina war sofort dran: »Ist es wirklich okay für dich, wenn wir jetzt weitermachen? Selbst ich bin noch aufgewühlt, und es ist nicht meine Geschichte … Na ja … doch irgendwie schon … Aber ich habe sie nicht durchlebt.«

»Ich hätte nicht angerufen, wäre es anders.« Hera wusste, dass ihre Stimme kühl und hart klang, doch sie musste sich kontrollieren. Nur so würde sie weitersprechen können. Sie holte tief Luft. »Man hatte Brokalakis in den Höhlen gefunden, doch anstatt ihn in alter Manier an einen Baum zu knüpfen und seine Eingeweide durch einen Schnitt am Bauch nach draußen zu zerren, um ihn eines langsamen und qualvollen Todes sterben zu lassen – denn zu dem hatte er schließlich auch unsere Männer durch seinen Verrat verurteilt –, haben wir ihn an die Behörden ausgeliefert. Er wurde inhaftiert, und ich erfuhr später, dass nicht er es gewesen war, der Elonidas als Anführer der Andarten gebrandmarkt hatte, sondern einer unserer nächsten Nachbarn, ein enger Freund deines Großvaters. Es war entsetzlich! Aber Brokalakis’ Frau und seinen Sohn ließen wir weiterhin unter erbarmungswürdigen Umständen dahinvegetieren. Vielleicht fühlten wir uns nach seiner Verurteilung als Kriegsverbrecher sogar noch mehr im Recht, dies zu tun. Ich weiß es nicht mehr genau. Doch als der Tag kam, an dem der Junge zum Opfer wurde – das war ein schwarzer Tag für mich.«

»Was ist geschehen?«, fragte ihre Enkelin beinahe atemlos.

»Meine Söhne waren gute Jungs. Sie halfen mir, wo immer es ging, und lernten in der Schule unter den Fittichen eines strengen Lehrers. Wir wollten ihnen Bildung mitgeben. Sie sollten lesen, schreiben und rechnen können, denn all das waren wichtige Voraussetzungen für eine bessere Zukunft. Doch an manchen Tagen warf der Lehrer einige Kinder aus dem Unterricht und ließ sie schwere körperliche Arbeit verrichten. Sie mussten große Steine sammeln, die dann auf der Nida-Hochebene ausgelegt wurden – so, wie wir es damals im Krieg gemacht haben, um die Deutschen daran zu hindern, dort mit ihren Flugzeugen zu landen. Es gab immer einen Auslöser für den Rauswurf – er nannte ihn böse Augen Manchmal brannte die Wut wie Feuer darin, und bei Andreas und Giorgos war das recht regelmäßig der Fall. Die Geschichten über ihren Vater, den Helden, und die daraus resultierende Vaterlosigkeit hatten sie zornig gemacht. Zudem war ich gewiss keine einfache Mutter.« Sie sagte es in einem gleichförmigem Ton, aber es hatte sie viel Mühe gekostet, das für sich zu akzeptieren. An den Tagen, als man ihre Mutter lebendig verbrannt und ihren blutenden Mann aus dem Dorf gezerrt hatte, war etwas in ihr kaputtgegangen, und um damit leben zu können, hatte sie sich eine harte Schale zugelegt. Sie hatte die anderen im Dorf zu Höchstleistungen angetrieben und war stets als gutes Vorbild vorangegangen. Sie hatte ihre Angst bezwungen und sich jedem Eindringling mutig entgegengestellt. Sie hatte eine geladene Waffe unter dem Rock getragen, jederzeit bereit, die Menschen um sich herum zu verteidigen. Sie hatte die Gemeinschaft vor ihre Söhne gestellt, und die beiden waren ausgebrochen, wann immer sich ihnen eine Möglichkeit bot. »Wahrscheinlich war ich keine gute Mutter für zwei heranwachsende Jungs. Doch ich wollte uns alle aus dem Elend befreien und uns eine Zukunft verschaffen. Ich habe gearbeitet, bis ich todmüde umgefallen bin, habe geschlafen und weitergearbeitet. Anogia wuchs wieder zu einem schönen Dorf heran, und wir verdienten mit der Wolle und den Stoffen so viel Geld, dass wir unseren Kindern sogar eines Tages Schuhe kaufen konnten. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Die Hungersnot, der Krieg, die zerstörten Häuser – wir haben bei null angefangen und … Was wollte ich sagen? Ach so, ja, meine Söhne. Eines Tages mussten sie wieder Steine schleppen, und ihnen kam der kleine Nikos Brokalakis in die Quere. Nach dem Tod seiner Schwester war er zu einem schweigsamen Geist geworden – wie seine Mutter. Wir sahen ihn, blendeten ihn aber gern aus. Hin und wieder warf ihm jemand ein Stück Brot oder so hin – wie einem wilden Hund.« Sie verstummte und spürte erneut Reue in sich aufsteigen. Doch es war zu spät.

»Was haben sie getan, Yara? Wollten sie den Jungen …?« Katharina ließ den Satz unvollendet.

»Sie hatten beide große Steinbrocken zu tragen, und als sie Nikos hinter einem Busch fanden, von wo aus er sie anscheinend beobachtet hatte, erfüllte das Böse ihre Seelen. Das Kind stolperte. Es war so dürr … Sie ließen einen Brocken auf ihn fallen und verletzten dabei sein Bein schwer. Es … es war eine offene Wunde mit einem schlimmen Bruch.«

»War es mein Vater?«

»Ich weiß es nicht. Sie haben es nie gesagt. Sie haben immer darauf bestanden, beide gleichermaßen schuldig zu sein.«

Sie schwiegen, und Hera zog ein Foto ihrer Söhne hervor. Es war bei der Taufe des kleinen Elonidas entstanden – Katharinas Bruder. Giorgos und Andreas strotzten so voller Leben – zwei wahnsinnig gut aussehende Männer in den besten Jahren, auf dem Weg zum Erfolg. Sie hätte es wissen müssen, dass da unter der zivilisierten Schicht noch immer jene wütenden Kinder tobten. Doch sie hatte es ausgeblendet und sich der Hoffnung verschrieben, dass die Zeit alle Wunden heile – und das, obwohl sie gesehen hatte, dass es bei ihrem Mann nicht der Fall gewesen war. Die Zeit heilte gar nichts. Vielleicht funktionierte das nur bei oberflächlichen Verletzungen, scheiterte aber, wenn eine Wunde schon einen Spalt in die Seele gehackt hatte.

»Ahnst du, wer es war?« Katharina hakte mit zitternder Stimme erneut nach.

»Es kann jeder von beiden gewesen sein. Der Zorn war bei beiden ein regelmäßiger Begleiter, und ich … ich habe mit strenger Hand regiert … aber … vielleicht hätten sie einfach nur …«

»Einfach nur was?«, hakte Katharina nach.

»… einfach nur Liebe und Nachsicht gebraucht. Und mal umarmt zu werden. Aber ich konnte das nicht. Natürlich habe ich sie ab und zu in den Arm genommen, aber eher, weil man das so tat, nicht weil ich es gefühlt habe. Da … da war nichts mehr zum Fühlen.«

»Das, was du erlebt hast, war furchtbar«, sagte ihre Enkelin einfühlsam, »und die meisten Menschen wären daran vollkommen zerbrochen. So wie die Mutter des kleinen Nikos. Doch du hast weitergemacht, um deinen Söhnen eine Zukunft zu bieten.«

»Das ist lieb, dass du das so sagst, Kathi. Aber ich weiß sehr wohl, dass ich auch Schuld auf mich geladen habe. Doch zurück zu der Geschichte mit dem Felsbrocken. Irgendwann hat die Jungen die Angst gepackt, und sie haben mich geholt. Ich habe Nikos notdürftig zusammengeflickt. Soweit das ohne Arzt möglich war. Er hatte Dreck in der Wunde und hat lange furchtbar gefiebert. Ab da habe ich die Frau nicht mehr gehasst. Vorher schon. Nun war da nur noch mein Mitgefühl für ihre Situation, und ich war auf den Jungen konzentriert. Ich habe immer genug zu essen für beide, für Mutter und Sohn, mitgebracht, doch das Kind, dem meine Söhne das Bein zerstört hatten, um das ging es mir. Ich wollte diese Schuld nicht haben, wollte sie abtragen … aber … Gott, Kathi, ich bin ein furchtbarer Mensch!«

»Das bist du nicht, Yara«, rief Katharina mit so viel Inbrunst, dass Hera es nur zu gern glauben wollte. Doch dem war nicht so. Sie hatte sich in den letzten Jahren mehr als einmal vorgestellt, dass es besser gewesen wäre, Nikos Brokalakis sterben zu lassen. Das machte sie ohne Zweifel zu einer bösen Person. Sie war kurz geneigt, ihrer Enkelin diesen Teil von sich vorzuenthalten, doch dann blieb sie ehrlich. Unter dieser Voraussetzung hatte sie das Gespräch mit Katharina begonnen. Sie sollte alles ohne jegliche Beschönigung erfahren, um sich dann ihr eigenes Bild machen und ihre eigenen Entscheidungen treffen zu können. Sie war aktuell die Letzte in der Reihe der Frauen. Wahrscheinlich würde sie auch nicht auf die Idee kommen, mit Mitte vierzig noch einmal Mutter zu werden. So war es an Athanasios oder Panagiotis, Mädchen zu zeugen, und dann an Katharina, das Erbe des Rituals an ihre Großcousine weiterzugeben. Vielleicht würde es ja irgendwann nur noch Gutes bewirken, ganz gleich, aus welchem Blickwinkel man es betrachtete.

Ihre Enkelin sog scharf den Atem ein, als Hera auch diese zwiespältigen Gefühle für den todkranken Jungen von damals erläuterte.

»Auch wenn du es mir nicht glaubst, Yara, ich verstehe dich wirklich. Aber du hast ihn nicht sterben lassen, sondern hast dem Kleinen geholfen. Daher bist du nicht böse. Oder wir sind es einfach alle, denn jeder Mensch hat ab und zu böse Gedanken. Dessen bin ich mir ganz sicher.«

»Vielleicht hast du recht, vielleicht aber auch nicht. Auf jeden Fall habe ich ihn gepflegt, bis er wieder laufen konnte, und ich habe meine Söhne dazu verpflichtet, den beiden täglich essen zu bringen. Doch ich bin keine Ärztin. Das Bein ist zwar verheilt, aber es blieb ein Schaden zurück, und Nikos konnte nicht mehr richtig laufen. Es war leicht schief zusammengewachsen.«

Katharina holte tief Luft, und Hera erwartete Empörung, doch ihre Gesprächspartnerin wechselte stattdessen unvermittelt das Thema: »Du hast gesagt, der Vater des Jungen wurde inhaftiert und verurteilt. Wie ist die Mutter damit umgegangen? Und wer war der Mann, der Großvater an die Deutschen ausgeliefert hat?«

Hera stockte, kurz bevor sie weitersprach, denn auch das war ein sehr unrühmlicher Teil der Geschichte. »Sie ist eines Tages fortgegangen und nicht wiedergekommen. Wir haben ihren zerschellten Körper einige Wochen später in einer Felsspalte gefunden und sie neben ihrer Tochter beerdigt. Den Jungen haben wir dann irgendwie alle betreut, aber er ist aus Anogia abgehaut, kaum dass er alt genug war, allein durchzukommen. Mit ihm sind ein paar Schafe verschwunden, aber wir haben das hingenommen, obwohl du weißt, was es bedeutet hatte, wenn man das tut.«

Katharina wusste, dass sich die Familien in den Bergen, ohne groß zu zaudern, gegenseitig Kugeln ins Herz schossen, wenn es um Viehdiebstahl ging.

»Ihr habt eure Schuld damit abgegolten geglaubt, nicht wahr?«

»Ja, so haben wir es gesehen.«

»Okay, und wer war nun der Verantwortliche für das, was man Großvater angetan hat?«

»Unser Nachbar Ioannis Miserakis. Er war ein Jugendfreund. Keiner weiß, was mit ihm geschehen ist. Es gab jede Menge Gerüchte, aber das, was ich herausfinden konnte, war, dass er sich den Deutschen angeschlossen und überall im Land auf Griechen geschossen hat. Vielleicht ist er einfach irgendwo in einer Höhle gestorben oder auf der Flucht im Meer ertrunken. Eine ganze Menge Menschen haben versucht, es dem König gleichzutun und sind durch die Samaria-Schlucht nach Agia Roumeli geflüchtet und von dort mit Booten in Richtung Ägypten gesegelt.«

»Was, glaubst du, ist mit ihm passiert? Du hast doch sicher versucht, mehr herauszufinden.«

»Natürlich habe ich das, aber egal, wie sehr man mit mir gelitten hat und wie sehr man meinen Mann auf ein Podest gestellt hat, Nachforschungen gab es nicht umsonst, und je gefährlicher es wurde, Informationen zu erhalten, umso teurer wurden diese. Ich konnte und wollte das Geld nicht dafür aufbringen, denn ich musste für zwei Jungs sorgen, die einem die Haare vom Kopf futtern konnten. Ich habe es irgendwann sein lassen, denn gewiss haben die Alliierten ihn in den letzten Kriegstagen erwischt und erschossen.«

»Wolltest du nicht, dass er, falls er noch lebte, büßen musste?«

»Doch, glaub mir. Das wollte ich! Aber noch viel mehr wollte ich, dass meine Söhne überlebten.«

»Das verstehe ich. Wie ging es dann weiter? Ihr habt den Jungen im Dorf mitversorgt, und er ist mit einigen Schafen auf und davon …«

»Wir haben nicht nach ihm gesucht. Ich habe darauf bestanden, ihn ziehen zu lassen, und habe die Gemeinschaft davon überzeugt, dass es so am besten für alle ist. Er war weg, und damit war auch dieses lebende Mahnmal verschwunden, das uns stets daran erinnert hat, dass auch wir uns schuldig an unseresgleichen gemacht hatten. Denn so war es ja auch. Egal, was wir von der Frau hielten, die Kinder hätten wir beschützen müssen. Er war nicht mehr da, und unser Leben ging weiter. Bis zu dem Tag …« Sie hielt wieder inne, beugte sich über die Truhe und zog den Brief heraus. Er war knittrig und vergilbt. Die Tinte war an vielen Stellen verlaufen, und er sah aus wie ein Relikt aus der Vergangenheit, was er schließlich auch war.

Hera spürte, dass Katharina bereit war. Sie strich den Brief glatt. Diese Geste hatte sich in ihr verankert. So hatte sie auch damals reagiert, als der Postbote in einer Wolke aus rotem Staub mit einem Jeep die Straße entlanggeholpert kam. Der Brief war Monate unterwegs gewesen, und sie hatte sich sehr gewundert über die Post, denn bis auf ein offizielles Schreiben vom Staat, in dem man den vermissten Elonidas Dalaras mit großem Bedauern für tot erklärt und ihn gleichzeitig zum Volkshelden stilisiert hatte, hatte sie noch nie einen Brief erhalten.

»Bis zu jenem Tag, an dem der Brief kam, der unsere Welt aus den Angeln gehoben hat.« Hera nahm ihn in die Hand, betrachtete die Worte und las sie vor:

Hera,

ich lebe. Ich bitte dich um Vergebung.

Es waren schlimme Jahre, in denen ich nicht schreiben konnte.

Die Amerikaner haben für mich herausgefunden, dass du und die Jungen noch in Anogia leben. Die Amerikaner haben mich gerettet, aber ich war trotzdem tot.

Die Monster haben mich damals von zu Hause fortgeschleift, sie haben mich geschlagen, bis jeder Knochen in meinem Körper kaputt war und meine Haut nur noch aus eiternden Wunden bestand. Ich wusste nicht, warum sie mich nicht gleich getötet hatten. Heute weiß ich es. Sie wollten mich leiden sehen und meinen kämpferischen Geist zerbrechen.

Es ist ihnen gelungen. Sie haben mich zerbrochen.

Sie haben mir deutlich gemacht, was ein Körper ertragen kann und wann der Geist endlich tot ist, obwohl der Körper noch dahinvegetiert. Sie haben mich nach Dachau im Süden Deutschlands gebracht. In eines ihrer Lager, das nur dazu da war, Menschen, deren Leben ihnen nichts wert war, in Massen zu quälen und zu töten.

Und dann haben sie mich so lange geschunden, bis ich nicht mehr anders konnte. Sie haben mir immer wieder Schmerzen zugefügt, von denen ich nie geglaubt hätte, sie ertragen zu können, und dann konnte ich sie auch nicht mehr ertragen. Ich war zu schwach. Ich wollte tot sein, aber sie ließen mich nicht sterben.

Sie wollten erreichen, dass ich zu ihrem Handwerkszeug werde, und als ich dann wirklich fort war, meine Seele fort war, da habe ich für sie getan, was sie wollten.

Ich habe unsägliche Qualen erlitten, das soll nichts entschuldigen, nur deutlich machen, dass der Elonidas, den du einst liebtest und kanntest, aufgehört hatte zu existieren.

Als die Amerikaner uns 1945 gerettet haben, wusste ich nicht mehr, wer ich bin, meine Zunge war gelähmt, weil ich sie mir vor Schmerz oft fast durchgebissen hatte, und so konnte ich lange Zeit nicht sprechen.

Sie haben mich mitgenommen nach Amerika, um mich zu heilen, aber da war nichts mehr in mir.

Ich denke nicht, dass sie es nur getan haben, weil sie so gut sind, sondern weil ich ein gutes Studienobjekt für ihre Psychodoktoren war.

Es hat viele Jahre gedauert, bis ich wieder wusste, wer ich bin. Sie haben mich kürzlich zurück nach Deutschland gebracht und mir Arbeit gegeben. Ich bin nun in der Lage, meine Familie zu ernähren. Ich lebe, Hera, und seitdem ich wieder weiß, wer ich bin, seitdem weiß ich auch wieder, wie sehr ich dich und die Jungen geliebt habe. Bitte, kommt zu mir nach Deutschland.

Ich kann nicht mehr nach Hause zurückkehren. So gern ich es möchte. Es geht nicht.

Bitte vergebt mir!

In meinem nächsten Brief sende ich euch das Geld für die Reise.

Wenn du mir nicht vergeben kannst und nicht mit den Jungen in das Land der Kriegstreiber kommen willst, verstehe ich das auch.

Dein Elonidas, Euer Vater

 

Katharinas schwerer Atem drang durch das Telefon. Während Hera auf ihre Reaktion wartete, dachte sie an ihre eigene damals: Sie war in eine eisige Schockstarre verfallen, und die Jungen hatten sie so vorgefunden. Noch Tage danach hatten die beiden immer wieder gefürchtet, sie könnte sterben. So etwas sollte man seinen Kindern nicht antun. Sie hatten den Brief gelesen, ohne dass die Mutter ihnen zur Seite stehen konnte. Auch für die bereits jungen Männer war dieser Brief erschütternd gewesen. Als gute Mutter hätte sie sie vorbereiten und es dann einfühlsam erklären müssen, doch sie hatte wie gelähmt auf dem Boden gelegen und den Jungen noch einen weiteren Schock versetzt.

»Yara«, durchbrach Katharina ihre Gedankenspirale, »das muss wirklich furchtbar für dich, Papa und Onkel Giorgos gewesen sein. Was hat Großvater getan? Warum wollte er in Deutschland bleiben? Ich verstehe das nicht …«

»Sie haben ihn gebrochen, mein Kind. Die Deutschen haben bis zur letzten Minute nicht daran geglaubt, dass sie den Krieg verlieren würden, deshalb haben sie weiter Material gegen uns gesammelt … Elonidas wurde aber nicht zu einem Monster, das andere Insassen gequält hat, keine Sorge. Sie haben ihn eben nur wie eine Marionette an ihren Fäden geführt. Vielleicht hatten sie einfach Spaß daran, so mächtig zu sein, dass sie anderen Lebewesen antun konnten, was immer sie wollten.«

»Wie hast du dich gefühlt? Was ging in dir vor? Hast du nicht Angst gehabt vor dem Menschen, der dich da erwartet, und vor dem fremden Land? Warum bist du gegangen?« Die Fragen sprudelten nun ungebremst aus ihrer Enkelin heraus.

»Ich hatte schreckliche Angst. So schlimm, dass ich wie in einem Tunnel unterwegs war. Ich … ich glaubte, es tun zu müssen, denn ich hatte mir eine zweite Chance für mein Leben gewünscht. Ich war etwas über dreißig. Ich hatte das Glück nur so kurz gekannt. Und bot sich mir hier nicht ebenjene Chance? Ich habe den Stein beschriftet, das Mantra gewählt. Ich bin auf das Wasser hinausgefahren – nach so vielen Jahren das erste Mal wieder. Es war, als könnte ich auf einmal wieder atmen.« Hera erinnerte sich an die Bootsfahrt. Sie war früher mit ihrer Mutter und Sotiria oft draußen gewesen und hatte es geliebt. Die Jahre in den Bergen, der Krieg, all die Verluste … Sie war wie aus Stein gewesen, und jeder Atemzug war irgendwie in ihrem Brustkorb stecken geblieben, ohne wirklich Erleichterung zu bringen. Man sagte das oft so dahin: »Durchschnaufen, tief durchatmen, wieder zu Atem kommen …« Nichts davon war ihr gelungen seit dem Tag im August 1944. Doch als sie Jahre später nach Heraklion gereist war, hatte sie die Möglichkeit genutzt und einen Fischer gebeten, sie mit hinauszunehmen. Auf dem Meer spürte man Freiheit. Es war die Weite, die dies ermöglichte, und der Glaube daran, dass der Ozean wirklich unendlich war.

»Eine zweite Chance worauf?«, hakte Katharina nach.

»Ich hatte es wider besseres Wissen sehr offen formuliert. Obwohl ich wusste, was alles passieren konnte, aber der Wunsch meiner eigenen Mutter war ja per se in Erfüllung gegangen, denn er hatte mir Elonidas beschert, der ein guter Ehemann gewesen war. Also hoffte ich, mit meiner Sehnsucht dem Schicksal einen Schubs in die richtige Richtung zu geben und mich aus meinem steinernen Gefängnis zu befreien. Ja, ich glaube, das war es: Die eisernen Bänder, die mich zusammenhielten, sollten verschwinden, und ich wollte die Möglichkeit, auch ohne diesen Panzer mit anderen Menschen zusammen zu sein. Ob ich einen neuen Mann wollte? Nein. Ich war eine ehrbare Witwe. Ich trug Schwarz!«

»Noch nach so vielen Jahren?« Ihre Enkelin klang verwundert.

»An meinem Status hatte sich ja nichts geändert. Witwe blieb Witwe. Wer konnte schon davon ausgehen, dass der tote Ehegatte wiederauferstand …«

Sie hatte sich zwar eine Veränderung in ihrem Leben gewünscht, aber vor allem, es wieder spüren zu können, so wie auf dem Wasser. Sie wollte lebendig sein und nicht nur lächeln, weil man das eben so machte. Sie wollte Enkelkinder auf ihren Knien schaukeln und eine erfüllende Liebe für sie spüren. Sie wollte kein Uhrwerk sein und immer nur mechanisch angetrieben werden.

Der Brief hatte dies alles erschüttert und sie aus ihrem Leben geschleudert.

»Bis der nächste Brief mit dem angekündigten Geld kam, hatte ich meine Entscheidung getroffen: Ich war bereit, meine Heimat zu verlassen, um etwas zu finden, von dem ich bis dahin nicht gewusst hatte, dass ich es suchte.« Sie wusste, dass dieser Satz simpler klang, als er war. »Ich hätte das Haus in Anogia verkaufen können, doch ich wollte, dass Giorgos – nein, ich muss ehrlich sein, denn das habe ich mir fest vorgenommen –, dass wir alle einen Ausweg haben, falls wir in Deutschland scheitern.«

»Hast du irgendwie gehofft, dass Großvater dann mit zurückkommt und hier mit dir lebt?«

»Vielleicht auch das. Ich wusste da ja noch nicht, wie sehr sie ihn gebrochen hatten und was das mit seiner hochanständigen Seele gemacht hat. Weißt du, Kathi, das war er nämlich: Er war der aufrechteste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Aufrecht und aufrichtig!«

»Was hat er sich davon versprochen, dich zu sich zu holen, dich und die ihm fremden Kinder?«

»Das ist eine wirklich gute Frage. Vielleicht Absolution. Vielleicht auch eine neue Chance. Vielleicht war ihm nicht klar, dass auch wir gelitten hatten und dass wir uns mit dem, was wir besaßen, was wir in uns trugen, arrangiert hatten.«

»Hast du ihn nie gefragt?«

»Doch schon, aber anders. Ich habe ihn oft gefragt, ob es das ist, was er wollte: einen Menschen an seiner Seite, der ihn kannte, als er noch heil war. Und damit kam ich der Wahrheit wohl am nächsten, denn es gab Augenblicke, da habe ich genau das gesehen.« Wieder streichelte sie sein entspanntes Gesicht auf dem Foto.

»Hast du …« Katharina hörte sich zögerlich an. »…hast du ihn noch geliebt?«

»Liebe! Das ist etwas aus Büchern und Filmen. Er war die richtige Wahl, rechtschaffen, und er hatte das Herz am rechten Fleck und konnte für eine Familie sorgen. Noch dazu war er mutig und sah gut aus.« Sie musste kurz lächeln. »Als ich nach Deutschland kam, traf ich einen anderen Menschen. Hinter seinen Augen lauerte immer die Angst, und anfangs fürchtete er sich vor jeder Berührung. Es war nicht so, dass wir am Flughafen aufeinander zugerannt und uns in die Arme gefallen wären. Wir waren einander fremd, und obwohl er mir geschrieben hatte, was ihm zugestoßen war, habe ich doch nicht damit gerechnet, dass man es ihm so ansieht. Hätte ich nicht gewusst, dass er uns abholt, wäre ich an ihm vorbeigelaufen.«

So war es wirklich gewesen. Er sah sich nicht mehr ähnlich. Sie war mager, und ihre Züge waren spitz, doch sie sah noch immer aus wie sie selbst. Er hingegen war ein anderer geworden: Narben durchzogen sein Gesicht – entstellten ihn zwar nicht, gaben seinem Aussehen aber etwas Fremdes. Sein Schädel war kahl geschoren, denn seine Kopfhaut hatte beim Hinterherschleifen am Seil damals massiven Schaden erlitten. Er trug einen gepflegten Vollbart, der bereits graue Haare aufwies, obwohl er gerade erst Anfang vierzig war. In seine einst so warmen braunen Augen hatte der Schrecken eine distanzierte Kühle gezeichnet. Er war es und auch wieder nicht. In diesem Augenblick wurde ihr bewusst, dass die Reise ein Fehler war. Doch es war zu spät. Sie konnte nicht zurück. Oder vielleicht hätte sie es sogar gekonnt, aber es hätte für Hera Dalara – »Mutter Dalaras«, wie man sie zu Hause nannte – einen herben Gesichtsverlust bedeutet. Also blieb sie und sah sich erneut einer schier unlösbaren Aufgabe gegenüber: ein Leben in einem fremden Land mit einem Fremden an ihrer Seite.

Einzig Andreas war ihr eine Stütze. Aber er war erst zwanzig, und auch für ihn war die Konfrontation mit dem Vater eine Herausforderung. Doch da er noch ein Kleinkind gewesen war, als man ihm diesen geraubt hatte, war es für ihn einfach nur ein Kennenlernen ohne Vergleich mit dem Elonidas von früher. Sie gaben sich alle drei furchtbar viel Mühe, und ganz langsam entwickelten sie sich zu einer Art Familie. Nur Giorgos fehlte, und das machte die gesamte Situation noch schwerer. Auch wenn sie sich bewusst entschieden hatte, ihn auf Kreta zu lassen und nicht mit Gewalt aus der Heimat zu reißen, so waren sie ohne ihn nicht vollständig, und dieser Stachel steckte in ihrer aller Fleisch und schmerzte.

Elonidas hatte tatsächlich nie danach gefragt, wie sie das nur hatte tun können, doch sie war sich sicher, dass die Frage in seinem Kopf gelauert hatte – mit all den anderen Geistern, die ihn umtrieben.

»Kann ich etwas für dich tun, Yara?«, wollte Katharina besorgt wissen.

»Nein, nein. Es ist, wie es ist. Unsere Geschichte war wie ein Tanz – mal wild und ungestüm, mal voller Leidenschaft und Nähe, und am Ende hat doch nur jeder für sich die Beine geschwenkt und versucht, den Takt zu halten. Aber das Verrückte war: Ich habe Elonidas nie mehr geliebt als in unseren Jahren in Hamburg.«

»Und er, konnte er das denn noch … lieben?«

»Er hat es mal besser und mal schlechter hinbekommen. Es gab Tage, da übermannten ihn die Erinnerungen und auch die Schmerzen. Obwohl die Amerikaner ihn in ihren besten Krankenhäusern hatten gesundpflegen und auch von renommierten Psychologen hatten behandeln lassen, so blieb er doch ein Mensch, den man grauenvoll gequält hatte und dessen Körper so viele Verletzungen hatte ertragen müssen. Und weil das noch nicht genug war, was das Schicksal ihm abverlangt hatte, bekam er Krebs und …« Sie rieb sich mit der Hand durch das Gesicht. Es war lange her, und doch kam es ihr vor wie gestern, als sie auf diesen hässlichen Stühlen vor dem Schreibtisch des Arztes gesessen und die Diagnose bekommen hatten, die ihn zu einem Tod auf Raten verurteilte. Warum hatte er nicht einfach im Schlaf sterben dürfen? Egal, wie oft sie dem Priester in der Kirche zugehört hatte, sie hatte Gott nicht vergeben, und nachdem er ihr nun auch noch auf diese schreckliche Weise ihre Kinder genommen hatte, würde sie ihm bis zum letzten Atemzug grollen.

»Wir hatten am Ende mehr gute als schlechte Tage – oder warte! Die guten waren eine Mischung aus gut und neutral. Sie überwogen aber. Wir hatten es verdient, diese Jahre miteinander zu verbringen, und unser Restaurant war wirklich klasse …!«

»Ist es das, worauf es hinausläuft: dass die neutralen und guten Tage die schlechten überwiegen? Dass es gar nicht darum geht, nur gute Zeiten zusammen zu haben?«

Katharina hörte sich vollkommen fassungslos an. Als wäre sie gerade aus allen Wolken gefallen. Hatte sie tatsächlich daran geglaubt, dass zwei Menschen immerzu glücklich miteinander sein konnten? Auch Andreas und Olympia hatten doch Meinungsverschiedenheiten gehabt und sich gestritten. »Du weißt, dass das nicht das echte Leben ist, Kind? Oder? Du weißt es?«

»Ich … ach … keine Ahnung. Natürlich weiß ich, dass es auch dazugehört, sich mal zu streiten, aber ehrlich: Meine Eltern haben eher diskutiert als verbittert um etwas zu kämpfen und dann recht behalten zu wollen, denn das ist doch die Grundlage eines jeden richtigen Streits: Man will recht haben! Zumindest geht es mir mit Lambros so: Ich will, dass er versteht, dass ich mich auskenne und nicht so dumm bin, wie er mich gern hätte. Er muss verstehen, dass ich weiß, was für unsere Kinder gut ist.« Katharina hatte sich in Rage geredet und verstummte nun abrupt. Als wäre ihr aufgefallen, dass ihre Wut hier nicht half, aber Hera hatte kein Problem mit dem emotionalen Ausbruch. Sie war so oft wütend gewesen in ihrem Leben, dass sie nur zu genau wusste, wie es sich anfühlte. Oft genug hatte sie sich auch gefragt, was sie eigentlich verbrochen haben musste – oder ob es vielleicht auch an den Taten und Wünschen ihrer Vorfahrinnen lag, dass sie solche Lasten zu tragen hatte. Dann hatte sie die Hoffnung gehabt, alles überstanden zu haben, genug bezahlt zu haben, aber es war nicht ausreichend gewesen. Ihre Söhne waren tot, und sie lebte noch immer. Egal, wie oft sie mit dem Schicksal gehadert und es verflucht hatte – das hatte allem die Krone aufgesetzt. Fast hundert Jahre alt zu sein und Mann und Kinder überlebt zu haben war eine fast unerträgliche Strafe.

»Ich habe dir von dem Ritual erzählt, Kathi, weil es Teil unserer Geschichte ist, aber jetzt, wo ich es getan habe, bereue ich es, denn mir wird bewusst, dass wir vielleicht genau dafür bezahlen.«

»Wie meinst du das?«