Hera, 1976
Sie umfasste seine Schultern mit einem harten Griff und bohrte ihre Finger in das Fleisch.
»Ich bin bei dir sicher? Wahrheit oder Lüge?«, stieß Elonidas zwischen klappernden Zähnen hervor.
»Wahrheit«, sagte sie so sanft wie möglich, denn ihn zu halten und gleichzeitig behutsam zu bleiben war nicht leicht. Es kam mittlerweile nicht mehr so oft vor wie in den Anfangsjahren, doch manchmal genügte ein Geräusch oder ein Geruch, und es katapultierte ihn zurück in die Folterkammer der Nazis. Dann vergaß er, wer er war, und vor allem auch, wo er war. Sie hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, was es bedeutete, mit einem Menschen, der so etwas hatte ertragen müssen, zusammenzuleben. Nichts davon war ihr in den Sinn gekommen, auch wenn er in seinem Brief versucht hatte zu erklären, dass er zerbrochen war.
Es dauerte zehnmal länger, sich wieder zusammenzusetzen, als zu zerbrechen. Zerbrach man immer wieder, war es unumgänglich, dass man irgendwann Teile vergaß, sie an einem falschen Ort unterbrachte oder eben gar nicht mehr einfügen konnte. Dann war man zwar noch die Person von einst, aber auch irgendwie nicht mehr. Sie wusste, was es hieß, nachts nicht schlafen zu können, weil die Bilder des Grauens der Kriegszeiten sich in die Netzhaut eingebrannt hatten, weil die Angst um die Kinder so dicht unter der Haut lauerte, dass sie jederzeit hervorbrechen und von ihr Besitz ergreifen konnte, oder weil sie nicht aufhören konnte, daran zu denken, dass sie einen irrationalen Augenblick lang an gebratenes Fleisch hatte denken müssen, als der Wind den Rauch vom Haus zu ihr herübergeweht hatte. Von dem Haus, in dem ihre Mutter bei lebendigem Leib verbrannt worden war. Schrecken war nichts Neues für sie, doch was sie Elonidas angetan hatten, war weitaus mehr: Sie hatten ihn brechen wollen, und er hatte sich nur retten können, indem er sich die Zunge beinahe durchgebissen hatte, denn so konnte er seine Landsleute nicht dazu bringen, ihm ihre Geheimnisse anzuvertrauen. Es waren nur wenige Monate gewesen, die er in dem Konzentrationslager verbracht hatte, doch am Ende reichten Tage aus, um die Seele eines Menschen für immer zu schädigen. Es war vollkommen verrückt. Sie entwickelten moderne Techniken, konnten fliegen und mit Autos in wenigen Minuten viele Kilometer zurücklegen. Der Fortschritt war unaufhaltsam, aber sie selbst, die Menschen, waren fragiler als Glas.
Sie ließ ihre Hand auf seiner Schulter – sie war wie eine Art Anker im Hier und Jetzt. Er zitterte noch immer, und oft konnte oder wollte er ihr nicht erzählen, was ihn so sehr erschütterte. Er hatte ihr Gesicht gesehen, als er ihr das erste Mal etwas von den Folterungen berichtete – damals, nachdem er so um sich geschlagen und ihr dabei wirklich wehgetan hatte. Es hatte ihm so unendlich leidgetan, und daher hatte er sich erklären wollen. Gott sei Dank war Andreas da schon ausgezogen. Der Junge hatte sich aufgemacht, um in Westberlin – das in einem abgetrennten Teil des Landes, umgeben von russischem Gebiet, lag – Leuten Musik auf einem Plattenteller vorzuspielen. Eine wirklich außergewöhnliche Art, sein Geld zu verdienen, doch sie hatte ihn nicht aufhalten wollen. Mit Elonidas und ihr zu leben wäre weder sinnvoll für ihn noch für sie beide gewesen. Das hatte sie schnell bemerkt, und Hera hatte für einen Moment gehofft, Andreas würde nach Kreta zurückkehren und wieder mit seinem Bruder zusammen sein.
Es war so unfassbar erschütternd gewesen, zu hören, was man den KZ-Insassen angetan hatte und mit welch sadistischen Freuden ihnen diese Qualen zugefügt worden waren. Elonidas berichtete mit tonloser Stimme von dem Gestank, bestehend aus Angst, Blut, Erbrochenem und Exkrementen. Noch heute verstand er nicht, warum er am Leben war, doch etwas in ihm hatte sich als unbeugbar herausgestellt, und die Höllenpein hatte diesen Kern nur härter gemacht. Was ihn damals gerettet hatte, war in den Jahren danach zu einem ewigen Kreislauf geworden, und er hatte mehr als anderthalb Jahrzehnte gebraucht, um sich selbst nicht mehr als dunkles Loch zu betrachten, das jede Freude absorbierte und vernichtete. Erst danach war er in der Lage gewesen, sie zu bitten, wieder Teil seines Lebens zu werden. Ihm fehlten oft die Worte, denn die Schwärze war ein Teil von ihm geworden, und er arbeitete jeden Tag daran, sich nicht aufsaugen zu lassen.
Es waren kleine Dinge, die ihm halfen: eine Tasse guter Kaffee, ihre Hand auf seiner Schulter, Spaziergänge an der Elbe – all das unterstützte ihn dabei, Mensch zu bleiben und nicht nur eine Hülle ohne Seele zu sein. Sie hatten sich mit dem kleinen Lokal eine Existenz geschaffen, und Elonidas stand mit geröteten Wangen über dem Herd, während sie die Gäste bediente. Auch im Kochen fand er seinen Frieden. Die Karte bestand aus traditionellen kretischen Gerichten, und es duftete bei ihnen immer nach einer Prise Zimt. Sein Kleftiko – ein fleischhaltiger Eintopf – war so beliebt, dass alle Tische bereits im Voraus ausgebucht waren, wenn sie es auf die Wochenkarte schrieben.
Obwohl sie froh war, diese Jahre mit ihm geschenkt zu bekommen, vermisste sie die klare Luft Kretas und die Anhöhen des Psiloritis genauso wie das türkisblaue Meer. Die Amerikaner hatten ihren Mann unterstützt, wo es nur ging, daher hatte er sogar einen Führerschein, und sie konnten immer mal wieder Ausflüge an die Nordsee machen, doch das ersetzte die Heimat für sie nie. In den ersten Jahren hatte sie das Thema behutsam angeschnitten, da sie nicht verstanden hatte, was er seiner Heimat vorwarf, denn schließlich lebte er stattdessen im Land der grausamen Monster.
»Als sie mich deportierten, wusste ich, was mich erwartete – also zumindest glaubte ich, es zu wissen. Ich ahnte, dass sie mir Schmerzen zufügen und meinen Körper noch weiter zerstören würden. Das volle Ausmaß menschlicher Abgründe konnte ich mir natürlich nicht vorstellen. Aber weißt du, Hera, das war der Feind! Von Anfang an war klar, dass das der Feind ist.« Er legte eine Pause ein, in der sein Blick in die Ferne schweifte, und sie fürchtete schon, ihn an seine schmerzlichen Erinnerungen zu verlieren. Doch dann fuhr er fort: »Aber es war mein Nachbar, der mich ausgeliefert hat. Wir sind zusammen aufgewachsen in Anogia. Wir haben uns gegenseitig ausgeholfen und abends zusammengesessen bei Wein und Tsikoudia. Wie soll ich je wieder jemandem dort trauen? Ich kann das einfach nicht vergessen oder gar verzeihen – und seitdem ich gehört habe, dass sie Brokalakis begnadigt haben, weiß ich, dass meine Entscheidung richtig war. Sie ist sogar noch unumstößlicher geworden. Und über den Mann, der beinahe so etwas wie ein Bruder für mich war, gibt es keine gesicherten Informationen. Welche Schlüsse lässt das zu? Wenn die Regierung solche Verräter unterstützt, dann kann das nicht mehr mein Zuhause sein. Bitte versteh mich doch.«
Sie verstand ihn. Er und Ioannis Miserakis waren mehr als Freunde gewesen, und am Ende hatte ihn dieser mit genauen Hinweisen über sein Versteck an die Deutschen ausgeliefert. Alexandros Brokalakis hatte die ersten Anhaltspunkte verraten, und sie wusste heute, dass es ein Fehler gewesen war, ihn nicht zu suchen, um ihn dann aufzuknüpfen. Doch am Ende des Tages hatte sie eben nur genug Kraft gehabt, sich und die Jungen am Leben zu erhalten, und der Rachefeldzug war auf der Strecke geblieben.
»Hier weiß ich, woran ich bin. Ich habe den Deutschen nie vertraut, und ich suche keine Freundschaft mit ihnen. Sie können mir den Glauben an das Gute aber nicht rauben. Das konnten sie nie. Aber meine Nachbarn, die haben das gekonnt, und diese Wunde heilt nie mehr. Kehre ich zurück, wird sie mich zu einem bösen Menschen machen. Das war ich nie, und das will ich nicht sein. Bitte, Hera, du musst mich verstehen. Sag es nicht einfach so daher, wenn du es nicht tust, sondern nur, wenn du wirklich begreifst, was es mit mir gemacht hat, an dem zu verzweifeln, was ich für unerschütterlich hielt!«
Sie schwieg lange und kratzte so lange an der Nagelhaut ihres Daumens, bis Blut floss. Sie verstand ihn. Wirklich! Doch sie hatte einen Sohn für ihn zurückgelassen, und das nagte an ihr, egal, wie sehr er mit seinem furchtbaren Schicksal haderte. Sie wollte es erklären, doch das hatte sie schon mehr als einmal getan, daher schwieg sie weiter, bis die Stille zwischen ihnen zu einer Mauer wurde.
Also setzte sie sich kerzengerade hin, blendete alles aus, was sie selbst betraf, und versetzte sich in seine Rolle: ein Mann, der bereit war, alles für seine Landsleute zu tun, der bereit war, sein Leben zu opfern, um sie alle zu retten. Er hauste in Höhlen und hungerte mehr als sie, auch wenn ihre Familien versuchten, die Männer zu versorgen. Er hatte niemanden, der ihm Halt und Wärme gab, und auch wenn die Rebellen einander nah waren, so ersetzte es nicht die bedingungslose Liebe der Familie. Und dann schleifte man ihn über den staubig-steinigen Boden, zerbrach seine Knochen, zerfetzte seine Haut, legte Sehnen und Nerven offen, trat unter Gelächter auf seine Hände, bis die Fingerknochen brachen, und versetzte ihn in einen Dauerzustand aus allumfassender Panik. Und das alles, weil ihn Menschen, denen er vertraut hatte, in die Arena geworfen hatten, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen. Für Geld! Vielleicht auch, um die eigene Haut zu retten, aber vor allem für Geld.
Brokalakis hatte nichts davon gehabt, aber Miserakis war auf jeden Fall erst einmal weitergezogen und in die Dienste der Deutschen getreten, hatte die Waffe überall im Land gegen seine Mitbürger erhoben und sie abgeknallt. So viel wussten sie. Doch er war vor kein Kriegsgericht gestellt worden, denn es war davon auszugehen, dass er die letzten Gefechte mit den Alliierten nicht überlebt hatte. War das eine gerechte Strafe für einen Massenmörder?
»Ich verstehe dich!«, sagte sie mit fester Stimme. Es war die Wahrheit. Es änderte nichts daran, dass sie die Heimat vermisste und sich um Giorgos sorgte, aber es führte dazu, Elonidas keine Vorwürfe mehr zu machen, auch wenn sie diese nie laut ausgesprochen hatte.
Sie hatten sich in ihrem überschaubaren Leben eingerichtet, und es gab keine Erschütterungen in ihrem Alltag. Andreas kam sie hin und wieder besuchen, und sie hatte das Gefühl, dass auch er ihr immer mehr entglitt. Giorgos war schon zu einem Fremden geworden, denn die wenigen Telefonate, die sie führten, waren immer sonderbar distanziert, und oft meinte sie, auch einen unterdrückten Groll in seiner Stimme zu hören. Obwohl es ihr nach den Gesprächen immer schlecht ging, stellte sie diese nicht ein. Er war ihr Kind, und sie war schuld an der Entwicklung. Sie hatte seine Missbilligung verdient.
Elonidas verkrampfte sich, und sie erhöhte den Druck ihrer Hand auf seine Schulter.
»Du liebst mich … Wahrheit oder Lüge?«
»Wahrheit«, sagte sie.
In den anfänglichen Jahren ihrer Ehe hatte sie kaum eine Chance gehabt, ihn wirklich lieben zu lernen. Sie hatte ihn gerngehabt, und das war als Grundlage für eine funktionierende Ehe schon wirklich gut gewesen, denn viele waren auch ohne dieses Gernhaben verheiratet worden. Doch der Krieg hatte ihnen keine Chance gegeben zusammenzuwachsen, und so hatte sie seinen Mut bewundert und gleichzeitig die Tatsache gehasst, dass ihm andere Menschen wichtiger waren als seine Frau und die beiden kleinen Jungen. Die vergangenen Jahre hatten sie einander so nah gebracht, wie Partner es nur sein konnten, auch wenn sie ihre Nächte in getrennten Betten verbrachten. Es ging nicht um Sex, sondern darum, ihre Seelen miteinander zu verbinden. Das hatten viele Paare nicht, und dass er ihr vertraute, war ein Geschenk. Die Zuversicht war also nicht vollkommen verloren gegangen. Sie hatte ihm nie Anlass gegeben, an ihrer Liebe zu zweifeln, und immer, wenn er nicht mehr gewusst hatte, wie er sich aus dem Sog der dunklen Kräfte befreien konnte, hatte sie ihm gesagt: »Bevor du zu sehr zweifelst und daran verzweifelst – frag mich einfach. Ich werde dich niemals belügen!«
Dieses Versprechen hielt sie ein. Keine Frage war zu unangenehm oder zu kritisch. Manche konnte sie sofort beantworten, und über andere musste sie einen Augenblick nachdenken, denn im Regelfall hatten sie etwas mit seiner Einschätzung bestimmter Lebenssituationen oder Gefühle zu tun. Die Folter hatte dazu beigetragen, dass er sich seiner selbst nicht immer sicher sein konnte, und er brauchte Orientierung von außen.
Elonidas entspannte sich langsam wieder. Sie konnte unter ihrem Griff spüren, wie die Anspannung aus seiner Schulter wich, und atmete auf. Wieder eine Krisensituation geschafft. Diese Momente waren seltener geworden, doch sie war auch keine zwanzig mehr und steckte Belastendes daher nicht wie früher ohne Weiteres weg. Während ihr Mann sich nun leicht nach vorn beugte und seufzend ausatmete, legte Hera eine Hand auf ihr Herz, um den galoppierenden Schlag zu beruhigen. Alles war gut, auch sie konnte sich entkrampfen.
Elonidas wurde, wie es häufig in letzter Zeit geschah, von einem heftigen Husten geschüttelt, und noch während sie sich selbst gut zusprach, hörte sie, wie er ihren Namen krächzte. Darin lag eine solche Furcht, dass sie augenblicklich erschauerte. So wie damals, als sein Brief gekommen war und der innere Frost sie hatte starr werden lassen. Er richtete sich auf, drehte sich halb zu ihr um und zeigte ihr seine Hand, die er beim Husten vor den Mund gehalten hatte: Feine rote Sprenkel verteilten sich darauf, und auch auf seiner Unterlippe konnte sie einen Blutstropfen sehen.
Die Diagnose lautete Lungenkarzinom im fortgeschrittenen Stadium, und die Ärzte gaben ihm mit einer entsprechenden palliativen Begleitung nur noch wenige Monate. Wieder haderte Hera so sehr mit Gott, dass sie ihm wild drohte, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Auf sie als echte Gläubige in seinen Reihen würde er wohl zukünftig verzichten müssen!