Katharina, Gegenwart
Die Gespräche mit ihrer Großmutter erschütterten sie zutiefst, obwohl sie bisher der Ansicht gewesen war, dass größere Erschütterungen kaum noch möglich sein könnten, denn Giorgos’ Tat hatte ihr schon den Glauben an alle Menschenkenntnis und an die Dominanz des Guten im Leben geraubt. Doch nun stellte sie alles infrage und dachte darüber nach, ob die Menschen nicht nur eine zivilisierte Maske trugen und sich darunter grundsätzlich rücksichtslose Monster verbargen.
Sie nahm ihr Handy heraus und gab den Begriff Andartis ein. Sofort wurde ihr ein Wikipedia-Eintrag angezeigt und einige Bilder eines steinernen Monuments auf der Nida-Hochebene. Eine deutsche Künstlerin hatte es mit den Bewohnern von Anogia gestaltet. Sie hatte Steine hinaufgefahren, jene Steine, mit denen man die Deutschen an der Landung dort oben gehindert hatte. Jene Steine, die ihr Vater und ihr Onkel hatten schleppen müssen und mit denen sie einen anderen Jungen schwer verletzt hatten! Fünftausend Steine hatte Karina Raeck, die Frau aus Berlin, mit den Dorfbewohnern verarbeitet, und nach dreijähriger Schaffenszeit war ihr Werk 1991 mit einem festlichen Akt eingeweiht worden. Als Mahnmal für den Frieden thronte es nun für immer auf dem Plateau des Ida-Gebirges. Sie spürte ein sonderbares Ziehen in ihrer Brust, als sie sich ein YouTube-Video anschaute, auf dem der Gedenkort aus der Vogelperspektive gezeigt wurde. Ihr Großvater hatte für den Frieden gekämpft – doch war dies nicht eigentlich schon ein Widerspruch in sich? Bedeutete Frieden nicht ein Leben ohne Gewalt? Natürlich kannte man auf Kreta die ruhmreichen Geschichten jener Männer, die sich gegen Besatzer zur Wehr setzten und so das Volk von der Willkür fremder Herrscher befreien wollten, doch sie hatte sich nie besonders eingehend damit befasst. Sie lebte heute, und das war die Vergangenheit. Zudem sprach man insgesamt lieber über die Geschichten der Götter als die Kriegszeit. Diese wurde verdrängt – was nicht bedeutete, dass sie begraben war und nicht mehr zählte. Doch je weniger von einer Generation an die nächste weitergegeben wurde, umso mehr geriet tatsächlich in Vergessenheit, und irgendwann würde niemand mehr wissen, wie mutig die eigenen Vorfahren gewesen waren – oder wie grausam. Musste man das wirklich in seinem Bewusstsein tragen? Es war verzwickt, und sie spürte die Irritation über diese philosophischen Grundgedanken in sich herumwabern: Konnte man jemals verzeihen? War das Verzeihen an das Vergessen gekoppelt, oder sollte es nicht vielmehr ein Prozess sein, den man in vollkommener Klarheit durchlief?
Wie schon so oft in den letzten Tagen ging sie an die gläserne Brüstung der Terrasse und blickte über die Berge. Ihre Form war über Jahrtausende durch beständige Erosion entstanden, und das war irgendwie trostreich. Ihre Hände glitten über die glatte Brüstung und ohne dass sie sich erklären konnte, wie es geschah, wollte sie das Haus plötzlich behalten.
»Wie behalten?«, stellte sie sich dem Dialog mit sich selbst – vollkommen überrascht von diesem schrägen Ansinnen. Vorgestern noch hatte sie den Glaspalast gehasst und dieses Gefühl auch ihrem Onkel gegenüber gehabt. War sie so leicht zu beeinflussen, dass ein dummes Gedicht ihn auf einmal liebenswert machte? Doch war nicht jeder Mensch auf seine Art liebenswert? Je mehr sie über ihn erfahren und sich verdeutlicht hatte, wie es wohl für ihn gewesen sein musste, zurückgelassen zu werden, desto mehr fühlte sie mit ihm. Vielleicht hatte er sich gewünscht, wichtiger für die Mutter zu sein als der tot geglaubte Mann in Deutschland … Man stellte sich die Dinge immer so einfach vor: Brief kommt, Erstaunen folgt, dann ein unfassbares Hochgefühl … Koffer werden gepackt, und die Reise ins Glück beginnt. »Das gibt es eben nur in Märchen«, murmelte sie und konnte den Schmerz in ihrer Stimme hören, bevor sie ihn im Herzen spürte. »In Wahrheit ist es eine Gratwanderung, die der Ursprung schlimmer Verkettungen ist.« Sie wusste, dass ihre Yaya durchaus recht hatte mit ihren Zweifeln und Selbstgeißelungen: Wäre sie auf Kreta geblieben, hätte sie Giorgos unter ihren Fittichen gehabt. Aber vielleicht war auch wirklich alles Schicksal, und er hätte Nikos Brokalakis – den Jungen aus seiner Kindheit, dessen Humpeln er mitverursacht hatte – sowieso wiedergetroffen. All dieses Hätte, Würde und Könnte zeigte auf, wie wenig beherrschbar das Leben doch war und dass sie alle einer Illusion aufsaßen, solange sie daran glaubten, es selbst gestalten zu können.
Sie verstand plötzlich nicht mehr, warum das Haus verkauft werden sollte. Es konnte doch nichts für die Taten seines Besitzers, und der Zauber, der von ihm ausging, war außergewöhnlich. War es wirklich eine gute Idee, den Glaspalast wildfremden Menschen zu überlassen, anstatt ihn zu einem Ort zu machen, an dem sie die Möglichkeit hatte – oder vielleicht auch sie alle –, sich mit der Vergangenheit auszusöhnen? Was war es nur, das sie so aus der Bahn warf? Wenn die Jungs bei Lambros waren, war sie doch regelmäßig allein – also konnte es nicht daran liegen, dass sie einen Einsamkeitskoller bekam.
Es war, als würde sie auf einmal die Energie des Ortes wahrnehmen. Sie reckte den Kopf in die Sonne und schloss die Augen. Der Wind säuselte leise, und sonst war nichts zu hören. Allein das war schon wundervoll. Es ging nicht um den protzigen Reichtum, den die Villa ausstrahlte, sondern um das, was sich unter der Fassade verbarg. Hatte Giorgos das auch gefühlt? War das Haus wie er? Hatte er hier versucht, sich mit seiner dunklen Seite auszusöhnen, oder begann sie nun, in alles viel zu viel hineinzuinterpretieren?
Abrupt drehte sie sich um. Sie hatte noch zu tun, und dann musste sie unbedingt ins Dorf fahren, um im Laden ein paar Lebensmittel zu kaufen, denn der Kühlschrank beinhaltete nichts Gesundes mehr, und sie konnte sich nicht nur von Chips und Alkohol ernähren. Also sie konnte schon, wollte es aber nicht, denn seit den Geburten neigte sie dazu, schnell zuzunehmen, und es war ein Kampf, diese Kilos wieder loszuwerden. Auch wenn sie sich nicht mehr mit Lambros’ dürren Freundinnen vergleichen wollte, so tat es doch hin und wieder weh, sich dermaßen verändert zu haben. Sich anzunehmen und zu lieben – das war das, was alle tollen Frauenratgeber immerzu proklamierten, doch wie sollte es gelingen, wenn man vor dem Spiegel Scham empfand? Sie mochte die salzigen Naschereien sehr, doch es sprach ab und an auch nichts gegen Salat oder einen Apfel. Vielleicht konnte sie sich in einer der Tavernen auch etwas zu essen mitnehmen, denn sie hatte Bedenken, sich in ein Lokal zu setzen und als Katharina Dalara »erkannt« zu werden. Auch wenn die Zeit die Geschichte ein wenig in den Hintergrund gedrängt hatte, denn die Folgen der Pandemie, des Ukrainekrieges und die explodierenden Energiekosten beschäftigten die Menschen gerade mehr als das Verbrechen ihres Onkels, so blieb es trotzdem eine grausame Tat, und man würde sich auf jeden Fall Blicke zuwerfen und über die Nichte des mörderischen Glaspalast-Besitzers tuscheln. Sie war dem noch nicht gewachsen. Ihre Schale war nach wie vor zu zerbrechlich, und das schützte ihren weichen Kern nicht gut genug.
Also Kappe aufsetzen, Leggings, Shirt und Sneakers anziehen, rein in den Laden, Zeug in den Korb werfen und so rasch wie möglich wieder raus. Nur nicht als aufgetakelte Reiche auffallen, dann konnte sie vielleicht davonkommen, ohne dass man sie ansprach.
Sie begann, tatkräftig die restlichen Sachen aus dem Kleiderschrank in Kartons zu stopfen, und versuchte, nicht bei jedem Teil an ihren Onkel von früher zu denken. Wie er allein nach Heraklion und dann nach Agios Nikolaos gegangen war. Wie er ein junger Mann mit großen Träumen gewesen war und sich in Maria verliebt hatte. Was hatte er wohl damals gefühlt? War er wütend gewesen auf seine Familie? Oder hatte er resigniert? Hatte er seinem Bruder je richtig verziehen, oder waren sie einander nur Steigbügel auf dem Weg an die Spitze gewesen?
Sie würde auf all das keine Antworten finden. Vielleicht hatte er sich Maria gegenüber geöffnet und ihr seine empfindsame Seite gezeigt, vielleicht aber auch nicht. Zeigte man seine Schwachstellen, machte man sich angreifbar. Es war wirklich verrückt, dass man sich auch vor dem Lebenspartner verstellen musste. Vielleicht sogar am meisten, denn auch wenn es noch nicht lange so einfach möglich war, sich scheiden zu lassen – die Kirche war hier sehr streng gewesen –, so trennten sich doch mittlerweile viele Paare, und das ging selten einvernehmlich vonstatten. Zumeist wurde dann jede Menge schmutziger Wäsche gewaschen und ebenjene geteilten Geheimnisse ans Tageslicht gezerrt, so, als würde die Trennung alles außer Kraft setzen, was man einander je versprochen hatte.
Menschen waren einfach sonderbar. Sie hatte sich in den Monaten seit der Scheidung und natürlich auch den Verlusten in ihrer Familie immer mehr in sich zurückgezogen, und nach wie vor fiel es ihr nicht leicht, dieses selbst erbaute Schneckenhaus wieder zu verlassen. Sie vergrub sich nicht zu Hause, das war mit den Kindern gar nicht möglich, es war eher ein inneres Exil. Sie vertraute sich wenigen Freundinnen an – nur ein paar Frauen, die sie seit Jahrzehnten begleiteten und denen sie tatsächlich vertraute. Aber irgendwann war alles einmal gesagt, und sie wollte niemandem mit ihrer Geschichte auf die Nerven gehen: Katharina, die immer nur über ihre gescheiterte Ehe und den miesen Ex-Mann klagte. Das hatte einen bitteren Beigeschmack. Also hatte sie sich in sich zurückgezogen. Die Tage hier oben waren hilfreich für sie, denn einerseits tat es gut, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen: zu weinen, wenn ihr danach war, oder auch wütend zu sein. Gleichzeitig trugen auch die Briefe ihres Vaters dazu bei, dass sie den Schmerz in sich lösen konnte. So verrückt das auch klingen mochte. Je betroffener sie war, umso intensiver fühlte sie, und das half ihr bei der Verarbeitung.
Der Schrank war leer. Sie schloss den Karton, klebte ihn mit dem Abroller zu und beschriftete ihn, schleppte ihn hinunter und beschloss, spätestens morgen die Putzfrau zu bitten, das Zeug abzuholen, denn sie kam kaum noch zur Tür hinaus.
Langsam ging sie die Treppe wieder hinauf, und ihre Gedanken glitten erneut zu all dem, was ihre Yaya ihr erzählt hatte. Bisher hatte Katharina sich vor allem in die Lebenswelt von Giorgos hineinversetzt, denn er schien ihr derjenige zu sein, der am meisten unter den Gegebenheiten zu leiden gehabt hatte. Doch was war eigentlich mit ihrem Vater Andreas gewesen? Er war anfangs mit seinen Eltern in Hamburg geblieben, hatte dann aber eigene Wege eingeschlagen und lange in der pulsierenden heutigen Hauptstadt des Landes gelebt. Natürlich war sie gebildet genug, um zu wissen, dass Berlin – also der Teil, in dem ihr Vater gelebt hatte – hinter einer Mauer gelegen hatte, die von den Russen initiiert worden war und an deren Übergängen man scharf geschossen hatte, um die Bewohner des ostdeutschen Teils an der Flucht zu hindern.
Aus heutiger Sicht war das alles kaum nachzuvollziehen, und es fiel ihr auch schwer zu verstehen, warum ihr Vater sich für Berlin entschieden hatte. Es war doch verrückt, sich an einen Ort zu begeben, bei dem man immer einen Grenzübergang überschreiten musste und Gefahr lief, verhaftet zu werden. Natürlich hatte er an manchen Tagen aus dieser bewegten Zeit erzählt, und die Stadt war immer etwas Besonderes gewesen. Das Leben hatte dort pulsiert, und die Klubs, in denen er als DJ aufgelegt hatte, waren von der Woodstock-Stimmung beeinflusst gewesen und hatten begonnen, das Gefühl von Freiheit zu propagieren. Während ihres Studiums hatte sie in London auch regelmäßig angesagte Klubs besucht, und die DJs waren Kultfiguren gewesen – angehimmelt von Frauen und Männern. Es war wirklich schwer, sich Andreas als eine solche Figur vorzustellen. Es waren die Jahre mit aufstrebenden Bands wie Queen, Kiss, Pink Floyd, Fleetwood Mac, den Rolling Stones und The Eagles. Inmitten all dessen ihr Vater aus einem kleinen Bergdorf auf der Insel Kreta. Sie wusste, dass er in Deutschland noch einmal die Schulbank gedrückt hatte – das Bedürfnis nach Wissen hatte ihn immer angetrieben –, um die mageren Kenntnisse aus der Dorfschule auszuweiten.
Seine Berichte zählten zu jenen, die die Erwachsenen sich nach einigen Gläsern Wein erzählten, während die Kleinen spielten oder sich müde an ihre Eltern lehnten. Als Kinder hatte man zugehört und irgendwie verstanden, dass es spannende Zeiten gewesen waren, hatte sich aber nicht alles zusammenreimen können und war irgendwann eingeschlafen, während die Stimmen um einen herum zu einem gleichmäßigen Säuseln wurden. Am Ende des Tages war es dann auch nur die Geschichte der Eltern, und man hatte sich beim Älterwerden kaum noch dafür interessiert, was diese in jüngeren Jahren erlebt hatten. Zudem waren die Storys über wilde Partynächte auch weniger geworden, je erfolgreicher die Oneiro-Gruppe wurde, und nachdem Giorgos und Maria getrennte Wege gegangen waren, hatten Andreas und Olympia versucht, in ihrer Freizeit auch viel für sich und ihre Beziehung zu tun. Es war zwar unwahrscheinlich erschienen, dass auch sie sich scheiden lassen würden, denn sie hatten sich sehr geliebt, doch es war ihnen wohl bewusst geworden, dass man eine Partnerschaft auch pflegen musste und nicht nur das Geschäftliche in den Vordergrund stellen durfte. Sie waren zwar nicht wie so oft geplant durch die Welt gereist, hatten aber Ausflüge auf der Insel gemacht. Sie waren auch mal für zwei Tage nach Athen geflogen.
Sie würde ihre Yaya danach fragen, denn bestimmt wusste sie auch einiges über Andreas’ Zeit in Berlin.
Katharina setzte sich im Schlafzimmer aufs Bett und ließ den Blick durch den Raum schweifen: Schränke und Schubladen waren geleert. Hier gab es nichts mehr für sie zu tun. Sie griff nach dem Notizbuch ihres Onkels. Ihr Freund hatte sich noch nicht zurückgemeldet, und sie selbst hatte auch fast vergessen, dass sie nach der Bedeutung des Gedichts gefragt hatte. Es war durch die Erzählung ihrer Yaya so weit weggerückt, dass es kaum noch von Bedeutung zu sein schien. Doch jetzt war das Bedürfnis wieder da, zu erfahren, was die Worte über ihn als Mensch preisgaben.
Sie ließ ihre Finger durch die Seiten gleiten und stoppte dann unvermittelt, um den Zufall entscheiden zu lassen, was sie lesen würde. Schon die ersten Zeilen machten deutlich, dass es sich inhaltlich um etwas ganz anderes handelte als den Heldenabgesang aus dem Jahr 2016.
März 2010
Kaltes Herz
Gefroren bist du – starr und ohne Schlag.
Gleichsam auch ich, nur mein Wille noch zählt.
Doch zerrt er an mir, saugt und laugt Lebenssaft aus,
sprengt Brücken in Trümmer aus bleichem Gebein.
Gefroren bin ich – eisig im Wind.
Vor dem Frost flieht, wer immer auch kann.
Nur das kalte Herz kann nicht fort,
muss bleiben, bis es zerspringt.
Erträgt, dass niemand Wärme ihm bringt.
Gefroren sind wir – stumm gefangen.
Das ist also das Ende.
Brauchte sie hierfür tatsächlich jemanden, der ihr half, es zu verstehen, oder war es nicht naheliegend, dass er darum trauerte, dass seine Ehe den Bach hinuntergegangen war? Und was sie herauszulesen glaubte, war, dass ihm seine Schuld daran bewusst war. Wie sonderbar, so über ihren Onkel zu denken. Vielleicht war es besser, das alles nicht weiter auseinanderzunehmen, denn die Gedichte waren sehr persönlich. Spontan nahm sie das Handy und erklärte dem vielbeschäftigten Alexandros, dass es nicht mehr nötig war, die Elegie zu interpretieren.
Die Tage hier oben waren angefüllt mit Kuriositäten: Sie war gekommen, um alles zu vernichten, was Giorgos gehört hatte, und die Familie ein für alle Mal davon zu befreien, und nun fühlte sie Mitleid mit ihm, bedauerte ihren Vater, haderte mit ihrer geliebten Großmutter und hatte ein sonderbares Ritual kennengelernt. Nicht zu vergessen, das plötzlich aufgekommene Bedürfnis, den Glaspalast behalten zu wollen! Sie konnte wirklich keine weiteren Erschütterungen in ihrem Leben brauchen, und gleichzeitig brannte eine nie gekannte Sehnsucht in ihr, die sich die größtmögliche Bewegung herbeiwünschte.
Sie schaute an sich herab – für Meronas war sie passend gekleidet, sodass sie zumindest nicht durch ihr Outfit Aufmerksamkeit erregen würde. Einerseits kam sie sich albern vor, so ein Gewese um einen Lebensmitteleinkauf in einem Bergdorf zu machen, und andererseits hatte sie, kurz nachdem ihre Familie in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt war, überall Anfeindungen erlebt. Sie ging ins Bad, band das Haar im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammen, kippte sich zwei Hände voll kaltem Wasser ins Gesicht und rubbelte es trocken, bis ihre Haut einen frischen, rosigen Farbton bekam. Nachdem sie mit dem kirschfarbenen Labello ihre Lippen nachgezogen hatte, setzte sie ihn kurz ab und malte mit ihm je einen Strich auf jeden Wangenknochen und verblendete die leichte Farbe dort mit dem Finger – damit war die Schminksession beendet. Schließlich machte sie sich nicht zurecht, um durch die Innenstadt von Agios Nikolaos zu flanieren.
Im Schlafzimmer zog sie die schwarze Schildkappe aus ihrer Tasche, setzte sie auf, zog den Pferdeschwanz durch die Lücke im Hinterkopfband und kramte ihre dunkle Sonnenbrille hervor. Mit Bodybag und großer Einkaufstasche bewaffnet stieg sie die Treppe hinab, um zu ihrem Auto zu gehen.
Ah … die Putzfrau! Da sie sich an den Kartons vorbeischlängeln musste, fiel ihr diese Aufgabe nun erneut ein, und sie angelte das Telefon aus der Brusttasche, damit sie nicht erneut vergaß, die Frau anzurufen.
Kurze Zeit später saß sie im Auto und steuerte den Wagen die Auffahrt hinunter auf die gewundene Straße. Die treue Helferin hatte zugesagt, am kommenden Vormittag mit ihrem Sohn und dessen Pick-up zu kommen, um die Sachen wegzubringen.
Sie erreichte den Ortseingang von Meronas und hielt Ausschau nach einem Supermarkt, denn diese waren im Regelfall an der Hauptstraße zu finden. Gleichzeitig nutzte sie die Gelegenheit, sich einen Eindruck von dem Dörfchen zu verschaffen. Alles wirkte gepflegt. Sie kam an einem Souvlaki-Imbiss vorbei und überlegte, ob sie hier auf dem Rückweg einfach eine Portion mitnehmen sollte. Mit einem Salat wäre das eine sättigende Mahlzeit. Sie bog nach links ab und erreichte bald darauf einen kleinen Markt, parkte das Auto davor und flitzte hinein.