Sabine, 1976
Das Kind im Wagen lutschte an einer Banane, und Speichel troff an seinem Kinn entlang. Er war einfach zu niedlich, und sie war sehr, sehr verliebt in ihn.
Helmut und sie hatten 1973 geheiratet. Er war ein hilfsbereiter Mann – das hatte er ja schon bei ihrem Kennenlernen unter Beweis gestellt –, gleichzeitig war er lustig und weltoffen. Er arbeitete für das Finanzamt in Offenbach, und sie wunderte sich, dass sie einander noch nie vorher begegnet waren. Er war nur ein Jahr älter, und so hätten Schule oder Jugendtreffs durchaus Orte sein können, an denen man sich über den Weg lief. Er hatte eine Ausbildung zum Diplom-Finanzwirt an der Finanzfachschule in Rotenburg gemacht.
Ihre Mutter war von diesem beruflichen Werdegang einerseits angetan, andererseits nahm sie es erneut zum Anlass, Sabine für ihre Berufswahl zu kritisieren. Doch Helmut war bodenständig und auf eine jungenhafte Art charmant, sodass er das Herz seiner Schwiegermutter für sich gewann, und auch ihr Vater konnte seine Vorbehalte gegen ihn begraben. Ihr Papa hätte jeden Mann, den sie nach Hause brachte, mit der Lupe betrachtet, dessen war Sabine sich sicher. Sie wollten das Beste für ihr einziges Kind, und da hatte sich ein Bewerber eben einer umfangreichen Begutachtung zu unterziehen.
Einige Monate nach der Eheschließung wurde sie schwanger. Und doch trübte etwas das Glück. Sie kannte sich ja mit medizinischen Zuständen aus und spürte daher sofort, dass etwas nicht stimmte. Das kritische erste Trimester hatte sie schon hinter sich gebracht, aber sie wusste sofort, dass der reißende Schmerz in ihrem Unterleib nichts Gutes bedeutete und dass man ein Kind auch noch im zweiten Trimester verlieren konnte oder sogar kurz vor der Geburt. Nur verschwand es dann nicht ganz so leicht – man musste es gebären. Daher packte sie, die sonst so besonnen handelte, eine irre Panik. Sie riss Helmut aus dem Schlaf und befahl ihm, sie sofort in die Klinik zu fahren.
»Wäre es nicht besser, einen Krankenwagen zu rufen«, rief er verwirrt und angesteckt von ihrer Panik und machte sich auf dem Weg zum Telefon im Flur. Dabei stieß er sich die Zehe am Türrahmen so schmerzhaft an, dass sich Blut tropfenweise auf dem hellen Teppichboden ausbreitete. Das Rot auf dem cremefarbenen Untergrund brachte sie so aus dem Konzept, dass sie ihn mit überkippender Stimme anbrüllte, ihr zu gehorchen, und ihr entsetzter Mann führte sie schnell zum Auto.
Ab diesem Zeitpunkt lag sie. Erst in der Klinik und, nachdem sich ihr Zustand ein wenig stabilisiert hatte, zu Hause. So viele Wochen vom Sofa ins Bett aufs Sofa. Hannelore kam, putzte und kochte, und auch Sabines Vater saß regelmäßig bei ihr, sang dem Ungeborenen in ihrem Bauch melodische Weisen vor und verwöhnte sie mit Süßigkeiten.
»Papa, ich werde nach der Schwangerschaft wie ein Walross aussehen«, schimpfte sie regelmäßig, ließ es sich aber trotzdem nicht nehmen, jede der Köstlichkeiten zu genießen.
Die Wochen vergingen zähflüssig, und Helmut hatte es nicht leicht mit ihr, denn obwohl sie sich wirklich Mühe gab, so war es doch unfassbar anstrengend für sie, nichts zu tun. Als das Kind dann das Licht der Welt erblickt hatte und vollkommen gesund und munter war, fühlte sie sich, als wäre eine steinerne Last von ihr genommen worden. Endlich konnte sie das zarte Pflänzchen der Freude wieder zulassen und ihre kleine Familie genießen. So gewöhnte Sabine sich an ihre Rolle als Mutter, auch wenn die komplizierte Schwangerschaft eine Art grundsätzliche Angst um ihr Baby in ihr gesät hatte. Als sie zur ersten Nachuntersuchung in der Klinik auf dem Stuhl des Gynäkologen lag und er sie im Anschluss zu einem Gespräch in Begleitung ihres Mannes zu sich bat, wusste sie, dass das nichts Gutes bedeutete.
»Das sollte ihr erstes und letztes Kind bleiben«, sagte er mit gewichtiger Stimme und fasste sie beide mit ernstem Blick ins Auge. »Eine erneute Schwangerschaft könnte sowohl den Fötus als auch die Mutter in eine ernste Lage bringen.«
In das entstandene Schweigen hinein schob er ein Blister mit kleinen Tabletten zu ihnen herüber. Sabine erkannte die Antibabypille, und einerseits geschockt und verunsichert und andererseits auch irgendwie erleichtert nahm sie das Arzneimittel an sich. Helmut hatte ihr zwar immer wieder versichert, es mache ihm nichts aus, auf Sex zu verzichten, aber es kam ihr komisch vor, nicht auf diese Weise mit ihm zusammen zu sein.
»Sie müssen sehr akribisch darauf achten, die Pille immer zur selben Tageszeit einzunehmen, und dürfen sie wirklich niemals vergessen. Sollte das trotzdem einmal der Fall sein – oder sie erkranken an einer Magen-Darm-Grippe –, dann rate ich Ihnen, bis zum nächsten Zyklus dringend abstinent zu bleiben.«
Sie nickten beide beklommen, denn sein eindringlicher Ton hatte deutlich gemacht, dass er all das nicht nur so dahersagte, sondern dass es wirklich gefährlich für sie werden konnte.
»Ein Einzelkind also. So wie ich«, murmelte sie im Auto traurig, denn sie hatte sich wirklich eine Familie gewünscht, in der mehrere Rotznasen durch die Wohnung flitzten.
»Wir haben einen gesunden Sohn«, erwiderte Helmut. »Und du bist gesund, Liebling. Wir genießen unsere Familie und unser Leben so, wie es ist. Ich liebe euch beide nämlich sehr.« Er legte seine Hand auf ihre zusammengeklammerten Hände und drückte sie sanft. Seine Wärme und Liebe lösten den Kloß – der wahrscheinlich schon seit Monaten in ihrem Hals festgesteckt hatte –, und sie weinte bitterlich.
Danach kehrte Sabine wieder zu ihrer alten Form zurück.
Das Kind war ihr Ein und Alles, und sie achtete auf es wie auf ihren Augapfel. Ihre Mutter und ihr Vater passten oft am Wochenende auf den Kleinen auf, und auch Helmuts Eltern nahmen ihn liebend gern zu sich, sodass sie und Helmut sich ihren Traum vom Eigenheim verwirklichen konnten. Nur ein Kind zu haben hatte tatsächlich auch Vorteile, denn sie sparten Geld und brauchten nur ein Kinderzimmer. Das kleine Einfamilienhaus aus den Zwanzigerjahren war perfekt, und nachdem sie es mithilfe von Eltern und Freunden renoviert hatten, war alles wirklich gut. Auch wenn Sabine immer mal wieder damit haderte, ihrem Sohn keine Geschwister schenken zu können, so führten sie doch ein erfülltes Leben.
Sie hatten vor Kurzem den zweiten Geburtstag des Kleinen gefeiert und im Garten des neuen Heims mit all ihren Lieben bis in den späten Abend zusammengesessen. Sie gehörten zu den glücklichen und gesegneten Menschen, so viel war klar, auch wenn eben nicht alle Träume in Erfüllung gingen. Kommendes Jahr würde sie wieder zur Arbeit gehen, Helmut hatte kein Problem damit, und sie hatten schon Pläne geschmiedet, jeden Monat einen Betrag beiseitezulegen, um davon auch mal in den Urlaub fahren zu können. Sie wollte nicht nur Ausflüge in den Westerwald machen, sondern früher oder später nach Österreich oder gar Frankreich reisen, träumte aber auch davon, ihre Mama mit einer Reise in die Vereinigten Staaten zu überraschen, solange deren Mutter noch lebte. Die Schwiegereltern, Helmut und ihr Vater konnten dann so lange auf den Jungen achten … Aber noch war es ein Traum.
Abends lagen sie im Bett und erlebten zärtliche Stunden. Es war ein perfektes Leben in einer perfekten Familie, und sie war ihren Eltern so unendlich dankbar, dass sie ihr genau das vorgelebt hatten und noch immer taten.