Carsten, Gegenwart
Das Navigationssystem hatte ihm eine knappe Stunde Fahrtzeit nach Meronas angezeigt, und er hatte sich spontan dafür entschieden, es einfach zu tun. Es würde ihn über Skaleta führen und von dort hinauf in die Berge. Auch den Rückweg hatte er bereits gecheckt, und bis nach Skaleta zurück waren es von dort fünfundzwanzig Kilometer, für die man auf Kreta rund vierzig Minuten benötigte, denn die Straßen waren kurvig und nur mit gemäßigter Geschwindigkeit zu befahren, sobald mal die Nationalstraße verließ. Das hatte er in allen Reiseführern und Foren gelesen. Er war sich noch nicht sicher, ob er jetzt gleich das kleine Hotel dort aufsuchen sollte, denn er »befürchtete«, dass Fotinis Familie ihn ebenso vereinnahmen könnte wie sie selbst, und dann würde er erneut an einem Tisch sitzen, essen, trinken und reden und sich vielleicht sogar schon wieder heimisch fühlen. Das war zwar im jeweiligen Augenblick sehr schön, doch andererseits verzerrte es die Realität, denn sosehr sein Inneres sich nach ungefilterter Akzeptanz sehnte, so sehr brüllte es ihm gleichzeitig zu, dass er sich nur etwas vormachte und die Wahrheit anders aussah. Er war ein netter Kerl und brachte Geld. Ein Tourist eben, und solange man sich als solcher nicht wie ein vollkommener Idiot aufführte, wurde man eben umschmeichelt und hofiert.
Durch das Fenster seines Wagens kam die warme Luft herein, er hatte einen Sender mit griechischer Musik eingeschaltet, und in diesem Augenblick glaubte er tatsächlich, dass es auch für jemanden wie ihn eine Zukunft geben könnte. Er versuchte, irgendwelche Worte in den Liedern zu erkennen, doch die Sprache war so fremdartig, dass es ihm schwerfiel. Sein Kopf dankte ihm die Beschäftigung, denn das befreite Gefühl blieb. Er erreichte Skaleta und folgte der Straße hinauf in die Berge. Hier würde er gewiss noch mehr Vernachlässigung sehen, aber auch viel Schönes. Auch darüber hatten ihn die Reiseforen umfangreich aufgeklärt. Die Straße war überraschend gerade, und er stellte bei genauem Hinsehen fest, dass sie zu dem berühmten Kloster Arkadi führte. Doch dieser Ort war zu geschichtsträchtig, um als romantisch zu gelten, denn hier waren bei einem rebellischen Akt gegen die osmanischen Besatzer am 9. November 1866 rund achthundertfünfzig Frauen, Kinder und Kämpfer ums Leben gekommen. Sie hatten beschlossen, dem Feind nicht lebend in die Hände zu fallen, und sich in der Pulverkammer selbst in die Luft gesprengt. Der Gedanke katapultierte ihn zurück in die Wirklichkeit und vor allem in seine ganz eigene Welt bestehend aus Gewalt und Schmerz.
Alles war so vergänglich, flüchtig, und das machte ihn unsagbar verletzlich. Kurz vor seinem Zusammenbruch hatte er mit einem sehr erfolgreichen Kollegen auf einer Messe gesprochen, und als er zaghaft versucht hatte, Verständnis für seine psychische Situation zu erhalten, hatte der andere ihn angeschaut, als wäre er ein Alien oder eben der durchgeknallte Psycho, für den er sich mittlerweile selbst hielt. Wer sich für die Arbeit als Kriegsberichterstatter entschieden hatte, musste stabil sein und seine Schutzmechanismen entsprechend pflegen. Dazu war Carsten jedoch offensichtlich nicht mehr in der Lage. So einfach wurde man mit einem Stempel versehen und im Anschluss gemieden, denn niemand in seinem Metier wollte sich mit diesem Virus infizieren. Sie mussten alle auf ihre Art resilient sein und nicht vulnerabel. Egal, was der Kollege versucht hatte anzudeuten – für Carsten war es eher unwahrscheinlich und vielleicht sogar unmenschlich, seine Seele komplett von dem abschirmen zu können, was man erlebte. Sie nahm Schaden an Unrecht, das man nur aufzeigen, aber nicht aufhalten konnte, denn man begriff seine Hilflosigkeit irgendwann überdeutlich.
Er folgte der Routenführung und gab dem Impuls nach, doch am Kloster anzuhalten. Er glaubte nicht an Gott – nur an eine übergeordnete Energie –, also suchte er hier weder Heil noch Vergebung. Oder vielleicht doch? Machte er sich etwas vor, wenn er nicht doch darauf hoffte, eines Tages freigesprochen zu werden von dem Unrecht, das auf ihm lastete.
Er parkte, schnappte sich die Kamera, die er im Rucksack im Fußraum vor dem Beifahrersitz aufbewahrte, und marschierte los. Selbstverständlich war er nicht allein, und während er über den steinernen Weg schritt, der in die Anlage führte, spürte er den Hauch der Geschichte auf seiner Haut, die leicht zu kribbeln begann. So vielen Menschen und damit auch ihren Familien war hier Furchtbares widerfahren, und doch lebten deren Nachkommen damit und machten das Beste aus ihrem Leben. Galt das auch für jemanden wie ihn oder nur für die Opfer solcher Gräueltaten?
Er ging den eingefriedeten Pfad zur Pulverkammer entlang und ließ die Situation auf sich wirken. Er wollte nicht in die Schuhe einer todgeweihten Person schlüpfen, und doch vermischten sich die Gedanken und Bilder über das historische Geschehen mit denen seiner eigenen Erlebnisse in den Kriegsgebieten dieser Welt. So war es doch immer: Entschied man sich für das Aufbegehren, für die Revolution, so war man sich des drohenden Unheils bewusster, als wenn man nur stumm ausharrte.
Er machte Fotos aus allen möglichen Perspektiven, las die Broschüre, die über die Historie Arkadis Auskunft erteilte. Es sollte bereits im fünften Jahrhundert nach Christus von dem byzantinischen Kaiser Arcadius erbaut worden sein. Was diese Mauern wohl alles zu berichten hatten?
Er legte eine Hand auf den sonnenwarmen hellen Stein eines Rundbogens, und eine eigenartige Ruhe überkam ihn. Es war in Ordnung, hier zu sein. Er hatte eine spontane Entscheidung getroffen, und es war gut. Er schlenderte durch die Anlage, war beeindruckt von der Baukunst und machte sich dann angereichert mit einer großen Portion Ehrfurcht auf den Weg nach Meronas.