Katharina, Gegenwart
Die Einkaufsmöglichkeiten, die der Minimarkt bot, waren überschaubar, reichten aber aus, um den Alten im Ort, die kein Auto besaßen, die Kühlschränke zu füllen. Meronas war ein typisches Dorf in den Bergen, das war ihr bei ihrer Ankunft vor einigen Tagen bereits aufgefallen: Viele Häuser schienen leer zu stehen, und einige davon waren durchaus verwahrlost. Doch es gab auch viele gepflegte Ecken und wie überall jene Tavernen, in denen sich hauptsächlich die Dorfbewohner trafen: meist die Männer oder auch die jüngeren Leute. Im Romantzo saßen jede Menge Menschen, und Katharina war sich sicher, dass dieser Ort auch im Winter für viele der Treffpunkt war, während Läden wie das Moschovolies, an dem sie vorbeigefahren war, vermutlich geschlossen hatten. Es gab auch hier eine Anlage mit ein paar Ferienhäusern, und sie hatte sich darüber gewundert, wo Menschen überall ihren Urlaub verbrachten, denn Meronas war wirklich irgendwo im Nirgendwo. Aber schließlich hatte auch ihr Onkel diese abgelegene Gegend für sein Haus gewählt, und die klare Luft und die Stille sowie die mannigfaltigen Wandermöglichkeiten hatten einen besonderen Reiz. Wenn man seine Ruhe wollte, dann war man hier wirklich hervorragend aufgehoben.
Sie packte Käse, Eier, Toast, Obst und Gemüse in den kleinen Korb sowie eine Packung als frisch und aus eigener Herstellung angepriesene Loukaniko: eine typisch kretische Bratwurst mit vielen feinen Gewürzen und wenig Fett. Sie hielt den Kopf gesenkt, sodass ihr Gesicht zumeist unter dem Schild der Kappe im Halbdunkel blieb. Das kam ihr nach kurzer Zeit wirklich vollkommen bescheuert vor, und sie begann, sich normal zu benehmen, ließ den Blick durch die vollgestopften Regale gleiten und legte Fava-Linsen sowie Nudeln mit Carob hinein. Ein Stück Parmesan folgte und einige Becher mit Joghurt. Auf dem Weg zur Kasse kam sie an der Abteilung mit Süßem vorbei und entschied sich für Sesamringe, ebenfalls mit Carob, eine Tafel Lacta und eine Packung mit Erdnüssen im Honig-Sesam-Mantel. Sie überflog den Inhalt des Korbes und fragte sich, was, um Himmels willen, sie sich daraus zubereiten würde, denn nach nahrhaften Mahlzeiten sah es nicht gerade aus. Gut, Fava mit Wurst war schmackhaft und auch gesund, Nudeln mit Tomaten und Käse würden ebenfalls sättigen und bestens munden. Spiegelei mit Toast – nicht gerade eine Innovation, aber lecker. Sie drehte um und erweiterte die Einkäufe um Salat, Gurken, Paprika, Feta und Oliven, sodass auch noch eine Schüssel Bauernsalat dabei herauskommen würde. Wein gab es im Haus genug, das Wasser schmeckte durch den Filter hervorragend, und Kaffee hatte sie noch in rauen Mengen. Zudem konnte sie auch noch einmal zum Einkaufen herkommen, sollte etwas fehlen. Für heute hatte sie ja Souvlaki aus dem Imbiss geplant – mit frittierten Kartoffeln. Dazu würde sie, um ihr Gewissen zu beruhigen, etwas Grünzeug und einen Apfel essen. Sie propagierte den Jungs gegenüber immer, dass es wichtig war, sich gesund zu ernähren, und führte sich hier auf, als hätte das alles für sie keine Gültigkeit. Aber vielleicht kam es auch mal darauf an, sich gehen lassen zu können. Wobei es doch genau das war, was Lambros ihr immer wieder zum Vorwurf gemacht hatte: Sie würde sich nicht mehr herausputzen und dadurch nicht mehr anziehend wirken. Wie konnte sie es auch wagen, bequeme und pflegeleichte Kleidung zu tragen, während sie hinter zwei Jungen herflitzte, die ihre Hände und Münder an ihr abwischten und schlimmstenfalls noch die Nase voller Rotz an ihre Schulter pressten und so jedes Kleid aus Seide oder Viskose ruinierten? Und sie verfolgte die flinken Kerlchen auch schneller in Sneakers als in High Heels mit Pfennigabsatz. Gott, sie wollte nicht wieder an ihn denken und daran, wie sie sich zum Schluss an seiner Seite gefühlt hatte. Blickte sie sich durch seine Augen an, fühlte sie sich hässlich und verbraucht, und ganz hinten in ihrem Kopf wusste sie, dass das nicht der Wahrheit entsprach.
So vieles hatte sie neu begreifen müssen, nachdem sie auf sich selbst gestellt war. Wobei sie sich auch erst im Nachgang darüber bewusst geworden war, dass die Kindererziehung immer allein ihr »gebührt« hatte. Ihre Mutter hatte sie, solange sie noch lebte, unterstützt, aber Großeltern waren eher für das Verwöhnen da und nicht für die Erziehung. Für Lambros war es in erster Linie um die Präsentation seiner Familie gegangen, so, wie man ein Auto vorführte oder das prächtige Zuhause. Stopp, Katharina, du musst unbedingt damit aufhören, dich zu grämen und ständig über all das, was schiefgelaufen ist, nachzudenken.
Sie schaute in den Korb und beschloss, es für heute mit ihren Einkäufen gut sein zu lassen. Während sie die Waren auf das kurze Band legte und die Frau an der Kasse das Gemüse abwog, ließ sie ihren Blick ein wenig schweifen und entdeckte eine kleine Kühltheke mit Eistörtchen. Sie waren wunderbar verziert und sahen so köstlich aus, dass sie sich spontan noch eines davon gönnte. Da war Milch drin, und damit galt es als gesund. Bei diesem Gedanken musste sie unwillkürlich lächeln, denn ihre Yaya hatte Elonidas und ihr immer mit dieser Erklärung ein Eis gegeben. Die Unbeschwertheit der Kindertage und des Unwissens waren ihnen durchaus vergönnt gewesen.
Wieder drohten ihre Gedanken zum Schicksal ihrer Kinder abzugleiten, die nun zwischen den Elternteilen hin- und hergeschoben wurden und sich mit den damit verbundenen Spannungen auseinandersetzen mussten. Doch bevor sie sich wieder in diesem Trübsinn verlor, hielt ein Auto direkt vor der Treppe. Ein Mann stieg aus und dehnte sich ein wenig, sodass sein Hemd etwas hochrutschte und sein muskulöser Bauch für einen Augenblick sichtbar wurde. Spontan fuhr sie sich mit der Hand an den Mundwinkel und schalt sich innerlich eine Närrin. Pass auf, dass du nicht aus Versehen sabberst!
Der Blick der Kassiererin folgte dem ihren, und sie hob anerkennend die Augenbrauen und machte sogar kurz eine bestätigende Schnute. Dann lächelten sie einander zu, und Katharina fühlte sich zum ersten Mal, seitdem sie beschlossen hatte, einkaufen zu gehen, leicht und befreit. Der Mann kam die Stufen herauf und wirkte lässig und gleichzeitig nachdenklich. Er war sehr groß und schlank, ohne schlaksig zu sein, und sein dunkelblondes Haar war vom Wind verwuschelt. Er schob sich die Sonnenbrille auf den Kopf und offenbarte klar geschnittene Gesichtszüge, die ernst wirkten, aber auch genügend Lachfältchen zeigten. Seine Augen waren bernsteinfarben, und Katharina fragte sich, ob sie schon jemals eine solche Farbe gesehen hatte.
Er grüßte, und es wurde klar, dass er kein Grieche war. Er fragte mit einer tiefen, wohltönenden Stimme, die ihr durch alle Glieder fuhr und dann mitten in der Magengrube stecken blieb, auf Englisch: »Darf ich mir ein Wasser aus dem Kühlschrank nehmen?« Er wandte sich an sie. »Entschuldigung, ich wollte mich nicht vordrängeln.« Sein Blick blieb an ihrem Gesicht ebenso kleben wie der ihre an seinem, und sie konnte Erstaunen darin aufblitzen sehen.
Sie schwiegen nun alle drei, und die Zeit schien plötzlich stillzustehen. Katharina konnte nicht aufhören, seine Augen zu betrachten und wie sich seine ernste Miene auflöste und ganz weich wurde. Auch er senkte seinen Blick nicht, und sie standen dort wie verzaubert, bis die Kassiererin den Moment durch ein vernehmbares Räuspern unterbrach.
»Aber gern«, sagte sie an den Touristen gerichtet.
Katharina spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss, während sie die Einkäufe in ihre große Tasche räumte. Er nahm eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank, schnappte sich eine Packung Sesamnüsse und stellte sich brav an der Kasse an. Sie vermied es, ihn noch einmal so anzustarren, und bezahlte rasch, um der ungewohnten Situation zu entfliehen. In ihrem Magen schien sich sein Blick in einen Ameisenhaufen verwandelt zu haben, und alles in ihr kribbelte nun aufgeregt.
»Ich suche das Kastro Koules«, erklärte er der Frau an der Kasse, doch sie hatte das Gefühl, dass er mit ihr sprach. »Mein Navigationssystem zeigt mir an, dass ich ziemlich weit den Berg hinaufmuss.« Er zeigte mit dem Finger in eine Richtung links von ihm.
»Ja, ja, die Ruine ist da oben. Der Weg ist nicht ausgebaut und holprig, aber wenn Sie langsam fahren, klappt es mit dem Mietwagen gut.« Katharina hatte mit fachfraulichem Blick erkannt, was offensichtlich war.
Sie hatte alles eingepackt, und es gab keinen Grund mehr, im Laden zu bleiben. Also verabschiedete sie sich und stieg die Stufen hinab zu ihrem Auto. Sie hatte gerade die Tasche auf dem Rücksitz verstaut, als ihr bewusst wurde, dass der smarte Kerl unschlüssig neben seinem Wagen stand und sie anschaute. Sie wollte schnell auf den Fahrersitz schlüpfen, als er eine leichte Bewegung auf sie zu machte. Sie blieb, die Tür in der Hand, wie festgenagelt von seinem Blick stehen.
Dies schien er als Aufforderung zu werten und kam auf sie zu wie auf ein scheues Tier, das man mit zu schnellen und hektischen Bewegungen verscheuchen würde. Er blieb auf Höhe ihres Kotflügels stehen, und während ihr Körper ein aufgeregtes Eigenleben zu führen begann, wollte ihr Kopf sie darauf aufmerksam machen, dass das hier eine unmögliche Situation war. Sie war Katharina Dalara und stand in Meronas, wo man sie angesichts der Tatsache, dass hier Giorgos’ Glaspalast stand, sicher gleich erkennen würde. Hatte er das vielleicht auch getan? Wusste er, wer sie war, und näherte sich ihr nun aus Sensationsgier?
Nein, so wirkte seine Kontaktaufnahme nicht. Doch wo sie eben noch neugierige Aufregung gespürt hatte, machte sich nun zögernde Zurückhaltung breit. Sie versuchte, sich zu erinnern, wann sie sich das letzte Mal leicht und abenteuerlustig gefühlt hatte, doch es wollte ihr partout nicht einfallen. Konnte man das verlernen?
»Hallo«, sagte er nun mit dieser Stimme, die ihr durch Mark und Bein ging.
Sie sammelte sich und versuchte, sich zu erinnern, wie Small Talk ging, bekam aber nur ein gestottertes »Ha…hallo« heraus. Na bravo, das hatte ja wirklich erwachsen und selbstsicher geklungen.
Er blieb stehen, und sie konnte sehen, dass er zögerte. Doch dann sagte er leise: »Ich weiß, dass es wie eine Plattitüde klingt, aber ich habe das tatsächlich noch nie gemacht: Würden Sie einen Kaffee oder ein Wasser«, er hob die kleine Flasche, die er noch immer in der Hand hielt, »oder was auch immer mit mir trinken?«
Sie wusste nicht, was sie antworten sollte, und stand stumm und verwirrt da. Sag endlich etwas, Katharina!
Er kam ihr zuvor: »Entschuldigung! Es war dumm von mir. Tut mir leid.«
Er war drauf und dran, sich umzudrehen und wegzugehen, als sie ihre Stimme wiederfand. »Gern.« Das war zwar nicht ganz so eloquent und souverän wie erhofft, aber immerhin besser als nichts.
Ein Lächeln begann sein Gesicht zu überziehen, das von seinem Mund bis zu den Augen reichte, die nun strahlten. Katharina spürte, wie ihr die Knie ganz weich wurden.
»Können Sie eine Taverne hier im Ort empfehlen?«, fragte er nun zielstrebig, und sie musste den Kopf schütteln.
»Ich … ich bin nicht von hier. Also nicht aus Meronas. Schon von Kreta, aber eben nicht von hier.« Was stammelte sie denn hier nur für einen Unsinn zusammen? Sie atmete tief ein und begann von Neuem. »Ich kenne mich nicht aus, habe jedoch im Vorbeifahren zwei Tavernen gesehen.«
»Ich hoffe, meine Einladung schadet Ihren Lebensmitteln nicht«, sagte der Mann aufmerksam, kam nun näher und streckte ihr die Hand hin: »Carsten.«
Nervös ergriff sie diese und piepste: »Katharina.« Sie piepste! Was verdammt noch mal war nur mit ihr los?
Doch es war offensichtlich, dass da etwas zwischen ihnen war, was sie nicht rational erklären konnte, denn als ihre Haut die seine berührte, durchzuckte sie ein Gefühl, das einem Stromschlag glich, und nicht fassbare Bilder flirrten durch ihren Kopf. Sie konnte sehen, dass es ihm ähnlich erging, denn er hielt ihre Hand einen Moment länger fest als nötig, als wollte er die Empfindung auskosten.
Sie konzentrierte sich, ließ seine Hand rasch los, um einen klaren Gedanken fassen zu können, und sagte: »Ich versuche, im Schatten zu parken, dann passt das schon.«
»Dann fahre ich hinter Ihnen her?«
Sie nickte bestätigend und flüchtete in die Sicherheit des Autos. Sie sah ihr Gesicht im Rückspiegel, ihre Wangen brannten, und in ihren Augen spiegelte sich Unglauben. Was passierte hier gerade? Noch hatte sie die Möglichkeit, sich anders zu entscheiden, ihm einen Korb zu geben, doch die Stimme in ihr, mit der sie die letzten Tage einen offenen Dialog geführt hatte, flüsterte: Lass es zu. Es schadet doch nicht, einen Kaffee mit ihm zu trinken. Besser noch Alkohol, denn dann bist du nicht so verkrampft!
Es war Nachmittag, da konnte man ohne Probleme auch ein Glas Wein trinken. Sie nickte ihrem Spiegelbild zu und ließ endlich den Motor an.
Kurze Zeit später standen die Autos auf einem Parkplatz, an dem einige Bäume Schatten spendeten, und sie saßen an einem kleinen Tisch neben dem Kafenion. Die meisten der Sitzplätze waren auf dem Bürgersteig direkt an der Straße angeordnet, aber das war ihr dann doch zu öffentlich. Carsten hatte ihr gentlemanlike den klapprigen Holzstuhl vom Tisch gezogen und erst dann Platz genommen. Ob das seine Masche war? So zu tun, als wäre das alles vollkommenes Neuland für ihn, sie dann zu hofieren, um sie so zu schnellem Sex zu bewegen? Sie spürte, wie ihr bei diesem Gedanken erneut die Röte ins Gesicht schoss, denn seit der Trennung von Lambros war Abstinenz ihr zweiter Vorname geworden. Wieder meldete sich ihre innere Stimme: Und was spricht bitte schön dagegen? Du darfst auch mal Spaß haben. Sie schüttelte sich leicht und hoffte, dass es unbemerkt blieb.
Doch ihr Gegenüber schien ein guter Beobachter zu sein. »Ist alles in Ordnung? Ich … es tut mir leid, wenn Ihnen die Situation jetzt doch unangenehm ist. Wir müssen hier nicht sitzen.« Er machte den Eindruck, als würde er gleich aufstehen, um sie gehen zu lassen.
Schnell gewann sie ihre Fassung wieder und antwortete: »Nein, nein. Ich … es ist in Ordnung. Nur mache ich das normalerweise nicht. Ich habe zwei Söhne, und die achten in der Regel eifersüchtig auf mich.« Sie wollte sich am liebsten mit der Hand gegen den Kopf hauen, denn was sie hier von sich gab, war wirklich grauenvoll.
Sie konnte sehen, dass ihn das Gesagte irritierte, und schob schnell hinterher: »Ich bin geschieden.« Sich vor den Kopf zu hauen würde nicht mehr ausreichen, in den Boden zu versinken war eher angesagt. Er musste sie langsam für eine grenzdebile Irre halten und bereute seine Einladung gewiss schon.
»Ich bin Single«, sagte er stattdessen und grinste wieder so, dass das Bernstein seiner Augen strahlte und wie flüssige Wärme über ihre Haut glitt. Sie bemerkte die nachfolgende Gänsehaut auf ihren Armen.
»Ist Ihnen zu kalt hier im Schatten? Sollten wir lieber vorn sitzen?«
Unfassbar, welche Details diesem Fremden an ihr auffielen.
»Es passt alles«, beeilte sie sich zu sagen und nahm erleichtert wahr, dass der Wirt auf sie zustapfte.
Sie bestellte eine kleine Karaffe Weißwein, ein Wasser und blickte dann Carsten fragend an.
»Für mich eine hausgemachte Zitronenlimonade«, sagte er, und während sie übersetzte, nickte der Wirt bereits bestätigend, denn die englische Sprache schien ihm geläufig zu sein. Rasch brachte er eine rote Metallkaraffe, die von außen beschlagen war, stellte zwei Weingläser, das Wasser und die Limonade auf den Tisch und verschwand wieder im Gebäude. Katharina schenkte sich etwas ein, hielt Carsten die Karaffe hin, der sie unschlüssig anblickte und dann mit einer Geste von Daumen und Zeigefinger anzeigte, dass er einen winzigen Schluck nehmen würde.
Sie hob ihr Glas prostend an, und er erwiderte den Gruß. Der Hauswein war rauer als die teuren Rebensäfte, die ihr Onkel in seinem Keller aufbewahrte, aber er war gut gekühlt und auf seine bodenständige Art sehr lecker.
Mit dem Alkohol auf der Zunge fühlte sie sich gleich mutiger. »Wo kommen Sie her, Carsten?«
»Ich bin aus Deutschland.«
»Ah, das ist ein schönes Land«, sagte sie, denn sie wusste ja bereits einiges über seine Heimat.
»Waren Sie schon einmal dort?«, fragte er denn auch sogleich.
Sie schüttelte verneinend den Kopf. »Ich nicht, aber meine Eltern und meine Großeltern.« Sie verdrängte die aufkommenden Gedanken und Emotionen an Olympia und Andreas und die Erzählungen ihrer Yaya sofort, denn das hier war eine leichte Plauderei und mehr nicht. Sie konnte das, hatte es nur ein wenig verlernt, und war gerade dabei, sich wieder warmzulaufen.
»Es ist wirklich schön bei uns«, bestätigte er. »Kreta ist jedoch absolut sehenswert. Ich habe ja bisher nur einen winzigen Ausschnitt davon bereist, bin der Insel aber bereits vollkommen verfallen.«
»Es ist idyllisch hier, ja.« Sie machte eine Bewegung mit dem Arm in Richtung des Bergpanoramas. »Wenn man so wie ich am Meer wohnt, dann übt unsere Bergwelt eine ganz besondere Faszination aus. Hier oben könnte man nämlich glatt vergessen, dass man auf einer Insel lebt und das Festland weit, weit fort ist.«
Sie tauschten sich über das, was er bisher gesehen hatte, aus, und sie berichtete ihm, wie schön Agios Nikolaos sei und dass er es unbedingt besuchen müsse, während er ernst nickte und erklärte: »Ich bin leider nicht zum Urlaubmachen hier, auch wenn mir jeder Tag so vorkommt.«
Jetzt war ihre Neugierde vollends geweckt. »Was bringt Sie denn dann auf unsere schöne Insel? Ich habe ja eben gehört, dass Sie das Kastro … also das, was davon übrig geblieben ist … suchen.«
»Ich recherchiere über romantische Orte und schreibe dann darüber.«
»Oh, Sie sind Schriftsteller?«
»Ich bin Journalist. Oder ich war es zumindest lange Zeit, aber meine renommierten Kollegen und Kolleginnen würden diesen Auftrag hier wohl eher nicht als Journalismus bezeichnen, denn Romantik …« Seine Stimme verlor sich und sein Blick glitt in die Ferne.
Hatte sie bei dem Wort Journalist noch erschrocken aufgehorcht, so nahm sie die Veränderung, die nun in ihm vorging, feinfühlig wahr. Sie trank einen Schluck Wein, hielt das Glas in der Hand und bemerkte, dass der Wirt mit einem Tablett voller Schälchen zu ihnen kam. Er stellte Oliven, kleine Fleischbällchen, gebratene Wurstscheiben, ein Tomatensugo und ein paar Stückchen Brot auf den Tisch.
»Etwas zum Wein«, erklärte er.
Sie bedankte sich überschwänglich, und auch Carsten schien wieder voll da zu sein und sagte mehrfach »Danke«. Sie warfen sich einen Blick zu, bei dem sich ihre Augen aneinander festsaugten, und er durchbrach das entstandene Schweigen, indem er mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen sagte: »Wollen wir uns duzen?«
Die Frage war seltsam, denn in der englischen Sprache gab es den Unterschied nicht so wie im Griechischen und wohl auch im Deutschen. Doch es schien ihm irgendwie wichtig zu sein, und sie nickte daher zustimmend.
»Bestimmt muss ich für den Rückflug einen Doppelsitz buchen«, lockerte er die spannungsgeladene Situation auf, deutete erst auf die Speisen und dann auf seinen flachen Bauch.
Katharina hatte während der ganzen bisherigen Zeit mit ihm nicht einmal daran gedacht, dass sie ja zu dick und eher unsexy war, und auch jetzt erschien es ihr sonderbar, so über sich zu denken. Es war, als würde sich ihr Bild in seinen Augen spiegeln, und dort war sie schön.
Sie griffen beide gleichzeitig zu den kleinen Spießen, die in den Fleischbällchen steckten, und wieder war da dieser Energiefluss, der an der Stelle, wo sich ihre Hände berührten, durch ihre Haut raste. Sie ließ es geschehen und beherrschte sich, nicht hektisch zurückzuzucken, als hätte sie sich verbrannt. Die Wärme breitete sich überall in ihr aus und kroch ihr sogar die Schenkel hinab. Sie versuchte, sich zu entspannen, doch es gelang ihr nicht. Sie war sich vollkommen darüber bewusst, dass sie einen wildfremden Ausländer, den sie kaum dreißig Minuten kannte, extrem anziehend fand. Aber sie würde es nicht zulassen, sich wie ein billiges Flittchen aufreißen zu lassen – noch dazu von einem Journalisten. Obwohl, was hatte er gesagt? Er sei mal einer gewesen?
»Was meinst du damit, dass du mal ein Journalist warst?«
»Ich war sehr lange Zeit Kriegsreporter, aber es ist … Ich … Es war irgendwann zu viel, und ich … ich … Also ich versuche mich nun mal in etwas ganz anderem. Es ist für ein Reisejournal, und es geht um die romantischsten Orte für einen Heiratsantrag. So, jetzt ist es raus, und ich hoffe, es klingt nicht zu kitschig.«
»Und da besuchst du ausgerechnet das Kastro Koules – auf einer Insel mit rosafarbenem Strand, karibisch türkisem Wasser und Palmen?« Sie war wirklich erstaunt und bemerkte ihre Zweifel an seiner Geschichte.
»Na ja«, er lächelte leicht schief, und ihr Herz machte einen sonderbaren Hüpfer und schien plötzlich wachsweich zu sein, »es ist ja eine Sammlung unterschiedlichster Orte in Europa, und wahrscheinlich hat ein anderer Strand den Romantikpreis bereits gewonnen.« Er zuckte leicht mit den Achseln, und sie versuchte erneut, sich zu fangen.
Sie stopfte sich ein Fleischbällchen in den Mund, kaute genüsslich – denn es war wirklich gut gewürzt – und sagte dann leichthin: »Vielleicht. Zudem ist es wirklich sehr schön dort oben.« Sie hatte das Kastro im Vorbeifahren gesehen, und je nach Blickwinkel stand der Mount Ida in vollem Sonnenlicht und schimmerte bezaubernd durch die steinernen Überreste der Ruine. Im Abendlicht würde es noch hinreißender sein. Plötzlich bekam sie Lust, das zu betrachten, und bevor sie ihren Mund daran hindern konnte, sagte dieser: »Ich könnte es dir zeigen.« Dann erschrak sie vor ihrem eigenen Mut und versuchte, wieder zurückzurudern: »Also nur, wenn es dich nicht stört. Ich will mich keinesfalls aufdrängen oder so …« Schnell stopfte sie sich ein Stück Wurst in den Mund, um diesen kauend zu beschäftigen, sodass er nicht wieder einfach so losplappern würde.
»Das wäre sehr lieb von dir. Unterstützung durch eine Muttersprachlerin hilft mir, falls es dort Tafeln gibt, auf denen etwas aufgeschrieben ist, und noch dazu genieße ich deine Gesellschaft sehr.« Auch er schien im Süßholzraspeln nicht so geübt zu sein, denn es klang ein wenig steif, aber auch aufrichtig.
Sie nickte ihm zu, nahm ihr Glas auf, und sie stießen erneut miteinander an. Sie war eine geschiedene Frau und durfte selbstverantwortlich handeln. Nicht leichtsinnig und unüberlegt, aber eben eigenständig. Sie hatte ein unverhofftes Geschenk erhalten in Form eines sympathischen und attraktiven Menschen, der sich für sie interessierte, und das würde sie nun genießen.