Carsten, Gegenwart
Er war noch immer vollkommen überrascht von sich selbst, denn er hatte tatsächlich noch nie eine Frau nach dem ersten Blick so unfassbar anziehend gefunden und sie dann auch noch angesprochen.
Seine Beziehungen waren selten langlebig gewesen, denn die meisten Partnerinnen waren mit seinem Job nicht zurechtgekommen, und er hatte es verstanden, denn war er unterwegs, musste man immer damit rechnen, ihn vielleicht in einer Kiste zurückzubekommen. Zudem war er im Anschluss an die Reisen häufig über Wochen damit beschäftigt, das Erlebte zu verarbeiten, an seinen Texten zu feilen und sie in allen möglichen Varianten an Presseagenturen zu verkaufen. Man konnte nicht einfach so schreiben: Da ist Krieg – schaut hin, wie furchtbar es ist. Er musste die außergewöhnlichen Themen aufgreifen, und sein Anspruch war, nichts zu veröffentlichen, dass er nicht mehrfach geprüft hatte, denn er wollte keinen falschen Quellen aufsitzen und dann unter seinem Namen Lügen verbreiten. Somit war er also auch dann, wenn er da gewesen war, nicht richtig da gewesen. Das konnte auf Dauer keine Frau aushalten. Vielleicht hatte er auch einfach nie die richtige Wahl getroffen – wer konnte das schon sagen?
Er hatte sich immer gewünscht, jemanden an seiner Seite zu haben. Die Ehe seiner Eltern hatte ihm gezeigt, dass es möglich war, Jahrzehnte im friedlich zugewandten Miteinander zu verbringen. Doch sein Vater war nach dem Tod seiner Mutter allein zurückgeblieben und hatte mit diesem Zustand einfach nichts anfangen können. Man machte sich also auch in einer gewissen Form abhängig von dem Menschen, den man liebte, und gewöhnte man sich erst einmal richtig aneinander, dann konnte das großen Schmerz mit sich bringen. Aber das waren nicht die Gründe für das Scheitern seiner Beziehungen gewesen, und nach dem Tod seiner Mutter, der schlimmen Zeit mit seiner Oma, der grausamen Wahrheit über sich selbst und seinem endgültigen Zusammenbruch hatte er keine Partnerschaft mehr für sich in Erwägung gezogen und versucht, sich damit zu arrangieren, für immer allein durchs Leben zu gehen.
Umso erstaunter war er nun. Lag es an Kreta? Wollte er nur einen leichten Flirt in urlaubsähnlichem Ambiente erleben? Nein. So war er nicht. Er war kein leichtfertiger Mann, und ein flüchtiges Abenteuer mit schnellem Sex war noch nie seins gewesen. Was bedeutete das also? Etwas an ihr hatte ihn sofort fasziniert, ohne dass er hätte sagen können, warum. Dann hatte er nach dem Weg gefragt, und ihre Blicke hatten sich für einen Moment getroffen. In diesem Augenblick war ihm gewesen, als würde etwas in ihm zitternd aufatmen, als würde seine Seele ein erleichtertes »Na endlich!« ausstoßen. Bereits da hatte er unbewusst den Entschluss gefasst, sie kennenlernen zu wollen.
Und hier saßen sie nun in dieser netten Taverne und tranken ein Glas Wein. Sie fühlten sich mittlerweile beide etwas sicherer, waren aber noch weit entfernt von locker.
»Wenn du deine Lebensmittel erst unterbringen musst, ich kann gern hier warten«, bot er ihr an, als sie aufbrachen, denn er hatte ja gesehen, wie sie die Tasche auf dem Rücksitz verstaute.
»Das … ja … vielleicht wäre das besser. Am Kastro wird der Wagen in der Sonne stehen, und das wird dann zu heiß«, erklärte sie, und ihre Augen streiften ihn fragend, als wollte sie sicherstellen, dass er nicht einfach so verschwand.
Dann sagte sie etwas, was ihn so sehr überraschte, dass er beinahe einen Schritt rückwärts gemacht hätte. Er konnte sich aber gerade noch beherrschen, denn das wäre das absolut falsche Zeichen gewesen.
»Wenn du magst … also nur, wenn du das nicht komisch findest … Du kannst gern kurz mitkommen. Es sind nur ein paar Kilometer.« Ihre Augen wirkten riesig bei diesem Satz, und er sah auch ein wenig Sorge darin aufblitzen. Fürchtete sie sich davor, einen Fremden mitzunehmen, oder waren es eher Bedenken, dass er Nein sagen könnte?
»Aber klar«, rief er so schnell aus, dass er beinahe über die wenigen Buchstaben gestolpert wäre und sich verhaspelt hätte. Er atmete durch und sagte noch einmal, nun mit ruhigerer Stimme: »Sehr gern.«
Sie zahlten, und Katharina winkte ihm, ihr zu folgen. Sie setzte rückwärts aus dem Parkplatz; er tat es ihr gleich und zockelte sodann hinter ihr die Dorfstraße entlang. Carsten konnte sehen, dass viele Häuser leer standen und bereits verfielen. Hier oben gab es weit und breit nichts, was junge Leute reizte zu bleiben, denn womit sollten sie ihr Geld verdienen – außer mit der Landwirtschaft?
Sie verließen das Dorf, und Katharina bog auf einen Feldweg ab, der in die sanft ansteigenden Hügel führte. Eigentlich sah es so aus, als wäre die bebaute Region hier zu Ende. Hatten sie einander vielleicht doch missverstanden, und sie fuhr schon zum Kastro? Er war ein wenig verwirrt, folgte ihr aber den staubigen Weg entlang, der nun anstieg und kurvenreicher wurde.
Dann fiel sein Blick auf das atemberaubendste Haus, das er je gesehen hatte. Wen hatte er da nur angesprochen? Die hinreißende Villa schmiegte sich an den Berg, als gehörte sie dort hin, und verfügte über eine ausladende Glasterrasse. Bestimmt war die Aussicht von dort aus unfassbar. Sie parkte, stieg aus und nahm die Einkäufe vom Rücksitz. Er spürte, wie die Verunsicherung ihn wieder einzunehmen drohte: Sollte er im Auto auf sie warten oder doch lieber aussteigen und ihr seine Hilfe anbieten? Auch sie schien unschlüssig zu sein, denn sie machte erst einen Schritt auf seinen Wagen zu, und dann drehte sie sich um in Richtung Eingangsbereich, schaute aber über ihre Schulter und nickte ihm kurz zu.
Was bedeutete das Nicken nun? Dass er warten oder mitkommen sollte? Er nahm seinen ganzen Mut zusammen, stieg aus und interpretierte es als Aufforderung, ihr zu folgen. Mit wenigen langen Schritten war er neben ihr, und der sanfte Wind wehte ihm ihren Duft in die Nase. Sie roch so gut, dass ihm fast schwindelig wurde.
»Darf ich dir tragen helfen?«, fragte er rasch, um dieses Gefühl einzudämmen. Doch der Duft von Jasmin und Zimt, den sie verströmte, blieb in seiner Nase haften und betörte ihn. Er musste sich unbedingt fassen, denn die gesamte Situation war mehr als außergewöhnlich.
Sie schaute zu ihm hoch, nickte erneut, reichte ihm die Tasche und öffnete die Haustür über ein Tastenfeld, in das sie eine Zahlenkombination tippte. Wieder blieb er unschlüssig stehen und beschloss dann, seiner inneren Spannung Ausdruck zu verleihen: »Ich möchte nicht den Eindruck vermitteln, unhöflich zu sein oder dich irgendwie zu bedrängen. Es ist für mich vollkommen nachvollziehbar, wenn es dir lieber ist, dass ich hier unten auf dich warte.«
Sie verharrte für eine Sekunde und sagte dann lächelnd und mit vor Aufregung heller Stimme: »Bitte, Carsten, komm mit rein.«
Sie ging vor ihm die Treppe hinauf, und er folgte ihr mit den Einkäufen.
Das Haus war groß und schien im unteren Bereich über mehrere Abstellräume zu verfügen, doch die echte Überraschung erwartete ihn, als er den großzügig geschnittenen Wohnraum betrat und vollkommen von dem Ausblick eingenommen wurde, den die große Glasfront und der daran angrenzende gläserne Balkon boten.
»Dein Haus ist unglaublich«, sagte er und bemerkte, dass er sich anhörte wie ein Kind, das gerade den Weihnachtsmann gesehen hatte.
»Oh. Das ist nicht mein Haus«, stellte sie sofort richtig. »Es gehört … gehörte meinem Onkel, und ich räume es aus. Ich habe es seinerzeit ausgestattet.«
»Ausgestattet?«, hakte er nach. Was meinte sie damit?
»Ich bin Innenarchitektin.«
Sie hörte sich ein winziges bisschen stolz an, und er sah sich nun bewusst um und bemerkte den minimalistischen und trotzdem einladend wohnlichen Stil. »Es ist wunderschön«, sagte er, schaute sie dabei offen an und konnte seinen Blick nicht von ihr wenden. Dann fiel ihm auf, wie plump das wirken musste, und er deutete auf die gläserne Terrasse. »So etwas habe ich an einem Privathaus noch nie gesehen.«
»Ich auch nicht.« Sie lächelte ein kleines Lächeln, das wehmütig auf ihn wirkte.
Er fasste einfach in Worte, was ihm durch den Kopf ging: »Macht es dich traurig?«
Sie ging in die Küche und begann, ihre Einkäufe in den Kühlschrank zu packen, und er glaubte schon, sie verärgert zu haben. Doch dann sagte sie leise: »Ja, schon irgendwie.«
»Magst du es mir erzählen – ich kann wirklich gut zuhören.«
»Und dann schreibst du darüber«, entfuhr es ihr, und er sah, wie sie sich erschrocken die Hand auf den Mund presste. »Ich … also … das wollte ich nicht … So habe ich es nicht gemeint, aber mit einem Journalisten zu reden, ist …« Sie schwieg, und ihre Verunsicherung erfüllte den riesigen Raum. Er konnte sie überall spüren.
»Du hast recht. Du kennst mich nicht, und ich bin ein Schreiberling. Viele Menschen denken nicht gut über uns. Doch ich bin kein Sensationsreporter oder so, und warum sollte ich über das schreiben, was du mir erzählst?« Er war nun wirklich durcheinander. War sie vielleicht eine griechische Berühmtheit, und er erkannte sie logischerweise nicht?
»Das sollte nicht falsch ankommen. Entschuldige, ich bin wirklich nicht geübt in solchen Dingen. Es ist nur so … also ich bin kein Star, aber«, sie hielt kurz inne, »meine Familie ist auf Kreta durchaus bekannt.«
»Ich will ehrlich zu dir sein, Katharina«, sagte er nun einem plötzlichen Impuls folgend. »Ich habe so etwas wirklich noch nie vorher getan, und die Situation überfordert mich vollkommen. Was ich jedoch ganz sicher weiß, ist, dass ich kein Lügner oder falscher Mensch bin, und ich verspreche dir, dass wir offen miteinander reden können und ich eine wirklich diskrete Person bin.« Er ging zum Küchenblock und hielt ihr lächelnd die Hand hin.
Verdutzt schaute sie ihn an, ergriff seine Hand zögerlich, und während ihre Finger die seinen berührten, durchfuhr ihn eine Kraft wie ein Stromschlag, ließ Bilder vor seinem inneren Auge entstehen: wie sie einander hielten, während draußen Kriege tobten, Stürme tosten, Schnee die Welt zu bedecken schien, Herden von Tieren an ihnen vorbeizogen, sich das Meer dunkelgrau auftürmte und die Sonne auf sie herabbrannte.
Was, um Gottes willen, hatte er da gerade gefühlt?
Er starrte sie an und wusste, dass sie genau dasselbe sah und spürte wie er. Sie kannten einander schon, solange es die Welt gab.
War er nun völlig verrückt? Wie konnte das möglich sein?