43. Kapitel

Hera, Gegenwart

Das Nickerchen hatte ihr gutgetan. Sie fühlte sich ein wenig erfrischt und hörte ihren Magen fordernd grummeln. Hatte sie heute schon etwas Richtiges gegessen? Sie konnte sich nicht so recht erinnern, hörte aber Andreas’ Stimme in ihrem Kopf: Nicht vergessen zu essen, Mama!

Er hatte sie regelmäßig angerufen, doch seine Besuche waren nach Olympias Tod immer weniger geworden. Sie hatte hören können, wie er litt, und Katharina hatte es ihr zudem ungeschminkt berichtet. Ihr Enkel Elonidas war etwas weniger offen gewesen, aber auch aus seinen Worten hatte sie die Sorge um den Vater heraushören können. Mutter blieb man für immer, und auch wenn das Leben ihr viel auferlegt hatte, so war immer genügend Raum gewesen, sich Gedanken um ihre Söhne zu machen: Giorgos, der sich nach der Scheidung von Maria nur noch mit Frauen umgab, die seine Töchter sein konnten, Andreas, der sich körperlich in der Hotelanlage verausgabte und sich manchmal tagelang in seinem Hotelzimmer verkroch, in dem er als Witwer wohnte – all das hatte sie Kraft gekostet, und manchmal hatte sie sich einfach nach der stillen Ruhe des Grabes gesehnt. Sie hatte keine wirkliche Todessehnsucht, doch wenn man so alt war wie sie, hatte der Tod eben seinen Schrecken eingebüßt. Athanasios und Panagiotis waren gute Enkel, hatten sich aber seit dem Tod ihres Vaters zurückgezogen, und Hera empfand es manchmal als stillen Vorwurf gegen sie. Frei nach dem Motto: Er war dein Sohn – wie konnte so etwas nur passieren? Und irgendwie hatten sie ja auch recht damit, sollte Heras Schuld der wahre Beweggrund für ihre Distanzierung sein und nicht die viele Arbeit im Immobilien- oder Architektenbüro.

Es war schön, dass sie Kathi hatte, auch wenn sie mittlerweile unsicher war, ob es nötig gewesen war, der jungen Frau alles zu erzählen. Gut, ihre Enkelin war sehr modern und hing altem Aberglauben sicher nicht zu sehr nach – doch sie war eben auch eine waschechte Kriti, und hier war es nun mal Teil der Kultur, manch Seltsames für glaubwürdig zu halten. Natürlich hatte ihre Enkelin recht, wenn sie sagte, dass sie die Macht des Rituals anzweifle. Hera wusste, wie sich das anfühlte, denn jede nachfolgende Generation dachte erst einmal auf diese Weise und hielt sich für aufgeklärter und schlauer als die eigene Mutter. So, wie es auch bei ihr und ihren Vorfahrinnen gewesen war, die einst, ein Mantra vor sich hinmurmelnd, Steine ins Meer geworfen hatten. Auch für sie selbst hatte es sich im ersten Moment wie ein Märchen angehört, und dann war es zur Tragödie geworden. Also warum anders als mit einem kleinen verächtlichen Lächeln daran denken?

Sie streifte die leichte Decke von ihren Beinen, erhob sich langsam und faltete diese dann ordentlich zusammen, um sie über der Lehne des Sofas abzulegen. Ihre Knochen knacksten, als sie sich etwas dehnte und den Weg in die Küche einschlug. Ihr Blick fiel auf den Schuhkarton mit den Relikten, die sie schon so lange aufbewahrte. Wenige Jahre nach der Geburt seiner Söhne hatte Giorgos für eine kurze Zeit wie geläutert gewirkt und ihr zu ihrem Namenstag ein selbst verfasstes Gedicht geschenkt. Wahrscheinlich waren sie sich seit ihrem Weggang und der Heimkehr nie wieder so nah gewesen wie in diesem Augenblick. Seine lyrische Ader hatte sie verblüfft – dass der temperamentvolle, ungestüme Kerl so virtuos mit Worten umgehen konnte und das auch für sie getan hatte, war wie eine Art Waffenstillstand gewesen. Kein Friedensangebot, nur ein Zeichen, dass sie einander mit etwas mehr Nachsicht begegnen konnten. Ganz bestimmt war das jedoch nicht das einzige Gedicht, das er je geschrieben hatte, denn in der Art, wie die Zeilen sich ergänzten, hatte sie das erkennen können. Wo er wohl seine Verse aufbewahrt hatte? Sie beschloss, Katharina zu fragen, ob sie dort oben im Glaspalast auf etwas gestoßen war. Doch erst musste sie ein Glas Wasser trinken und eine Kleinigkeit essen.

Während sie sich eine schnelle Mahlzeit zubereitete – bestehend aus einer Marathos-Pita, die sie vor einigen Tagen eingefroren hatte und nun in der Pfanne ausbuk, und einem Salat aus frischer Petersilie nur mit Olivenöl, Zitrone und etwas Salz verfeinert –, glitten ihre Gedanken zu den Dingen, die sich noch in dem Karton befanden.

Als Andreas, nachdem sie ihm die Krebsdiagnose seines Vaters überbracht hatte, in Berlin alles hinter sich gelassen hatte und nach Hamburg geeilt war, hatten sie lange Zeit auf den Fluren des Krankenhauses leise miteinander geredet, und sie hatte gespürt, dass ihren sonst so lebensfrohen Sohn etwas zu belasten schien. Sie hatte ihm Brücken gebaut, sich ihr anzuvertrauen, denn sie waren einander in diesen Stunden so nah gewesen, wie Mutter und Sohn es nur sein konnten. Dann war er voller Gram damit herausgeplatzt: »Ich muss mein Leben ändern, Mutter. So kann ich nicht mehr weitermachen.«

Sein Blick war unstet bei diesem Geständnis, und ein raues Gefühl der Einsamkeit kam über sie wie eine eisige Welle. In einem dieser kalten Operationssäle lag ihr Mann, und man hatte ihm den Oberkörper aufgeschnitten. Sie brauchte ihre Kraft, um dies auszuhalten, doch nun war es zu spät, denn in Andreas schien eine Art Damm gebrochen zu sein, und er begann, über das, was ihn bewegte zu reden, über das, was er die letzten Jahre in Berlin erlebt und durchgemacht hatte.

»Die Kombination aus Drogen, Alkohol, der aufpeitschenden Musik und den flimmernden Lichtern enthemmt die Leute, und ich habe mich dort oben immer mehr wie ein Herrscher über die Massen gefühlt, der die Menge auf der Tanzfläche steuern kann. Ich habe so viele Fans, Mutter, die mir das auch immer wieder bestätigt haben – und sie sind nicht nur zugedröhnt, wenn sie das sagen. Ich bin gut. Ich war gut, denn ich werde damit aufhören und nach Hause zurückkehren.«

Erst glaubte sie, er wolle zu ihr und Elonidas nach Hamburg kommen, doch dann wurde ihr klar, dass er nach Kreta zurückkehren wollte. Sie konnte ihn verstehen und hoffte, dass ihr Blick genau dies ausdrückte. Dann griff sie sanft nach seiner Hand, und sie saßen einen Moment in Schweigen vertieft dort und starrten auf den hässlichen Linoleumboden, bis er den Faden wieder aufnahm: »Ich wollte nie so sein, doch stattdessen habe ich den Kopf verloren und bin einfach … ganz … Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll: Ich habe mich gefühlt, als hätte eine emotionale Macht Besitz von mir ergriffen, und ich konnte mich nicht mehr kontrollieren. Ich … es war wie damals … als wir Nikos mit dem Stein verletzt haben. Ich spürte die Wildheit in mir, und … und ich wollte so sein: ungezähmt und mächtig. Es tut mir so leid, dass ich dich enttäusche, Mutter. Ich bin kein schlechter Mensch.«

Sie spürte, wie sein Körper sich versteifte. Tränen flossen über sein Gesicht und tropften von seinem Kinn herab, ohne dass er sich die Mühe machte, sie abzutrocknen.

Sie fand keine Worte, denn die Tragweite dessen, was er da gerade erzählt hatte, wurde ihr erst nach und nach bewusst – als hätte das Gehörte erst in sie einsickern müssen. Hatten ihre Söhne den kleinen Nikos damals absichtlich schwer verletzt, weil sie Macht über jemanden ausüben wollten? Fragen brannten auf ihren Lippen, doch sie hatte Angst, vorwurfsvoll oder gar kopflos zu klingen, also verbiss sie sich jeden Laut und umfasste seine Hand fester.

»Ich werde mich ändern. Ich will kein skrupelloser Manipulator und Täter sein.« Er hatte die letzten Worte geradezu ausgespuckt.

Wäre ihr Sohn vielleicht dazu in der Lage, einer jener Männer zu werden, die für ein Gefühl von Macht alles taten? Sie wollte das nicht glauben. Sie kannte ihn doch, und er trug Elonidas’ Gene in sich. Die Gene dieses tapferen Mannes und auch die ihren! Auch sie hatte sich immer gegen das Unrecht gestellt. Zumindest hatte sie sich das immer gern eingeredet.

Doch heute – nach ihren vielen Telefonaten mit Katharina – sah sie sich selbst in einem anderen Licht. Auch sie hatte Unrecht geduldet und sogar begangen. Wie hatte sie das nur all die Jahre übersehen können!

Ihr Blick fiel auf die Pfanne, gerade noch rechtzeitig, bevor die Pita verbrannte, denn das Öl qualmte schon verdächtig. Schnell hob sie den gefüllten Teigfladen heraus und legte ihn auf einem Stück Küchenrolle ab. Die Pfanne schob sie von der heißen Platte, um sie abkühlen zu lassen. Dann nahm sie Messer und Gabel zur Hand und brachte den Teller zum Esstisch. Der Salat fiel ihr wieder ein, sie erhob sich und bereitete ihn rasch zu.

Während sie das leckere Mahl hungrig vertilgte, glitten ihre Gedanken wieder zu Andreas. Er war nicht mehr zu seiner Arbeit als DJ zurückgekehrt, und nachdem sein Vater die Operation überstanden hatte, war er ein letztes Mal nach Berlin gereist, um seinen Haushalt aufzulösen. 1977 war er dann nach Kreta heimgekehrt.

Ihr war klar gewesen, dass Andreas ein guter Mensch war, den seine Kindheit eben unter keinen Umständen loslassen würde. Der Krieg hatte in sie alle Narben gegraben, und manche davon waren sichtbar, aber die meisten blieben unsichtbar, schmerzten jedoch stechend in den unmöglichsten Situationen. Sie hatte oft über die Jahre nachgedacht, die sie in dem Glauben verbracht hatte, die Deutschen hätten ihren Mann zu Tode gefoltert. Sie war nur fähig gewesen, selbst zu überleben, indem sie diese Gedanken abgewehrt und so tief in sich vergraben hatte, dass sie an manchen Tagen sogar vergessen hatte, dass da einst ein Gefährte in ihrem Leben gewesen war. In ihren schlimmsten Träumen hatte sie ihn verstümmelt und blutüberströmt da liegen sehen, während er unmenschliche Laute von sich gab. Diese Nächte hatten tiefe Kerben in ihren Mundwinkeln hinterlassen, und sie hatte den Teil von sich abspalten müssen, der einst Elonidas’ Frau gewesen war. Das hatte ihrem Wesen jedoch so sehr widersprochen, dass es ebenjene Mutter Dalaras aus ihr geformt hatte, die alle nicht nur anerkannt, sondern auch ein wenig gefürchtet hatten. Ihre Mutter hatte ihr Beziehungen vorgelebt, die inneren Frieden brachten, von gemeinsamem Respekt geprägt waren und einvernehmliches Denken oder Verstehen nur durch das Zucken eines Mundwinkels signalisieren konnten. Das hatte für Hera definiert, wie eine Partnerschaft zu sein hatte, und ihre Mutter und Sotiria hatten sie stark werden lassen, hatten ihr nie gesagt, sie sei ein Mädchen und daher wäre es zum Beispiel unmöglich, Fischerin zu sein oder selbstbestimmt. Auch Elonidas hatte nie Zweifel in ihr gesät, dass er sie nicht so mochte, wie sie war. Ihre Mutter … sie hatte sie in den grausigen Träumen heimgesucht – einer Fackel gleich mit Haut, die von den Knochen zu schmelzen schien –, den Mund zu einem nie verklingenden Schrei geöffnet. Wie sollte ein Mensch so etwas je wirklich vergessen oder gar verkraften können? Die menschliche Seele war … ja … was war sie? Hart und zerbrechlich zugleich? Hera war die Unvereinbarkeit dessen vollkommen bewusst, doch so empfand sie es eben, hatte auch bei Andreas gesehen, zu was es führte. Mal ganz abgesehen von Giorgos, den seine Geschichte – ihrer aller Geschichte – zum Mörder gemacht hatte. So als gäbe es aus dem Teufelskreis von Unrecht und Gewalt nie einen Ausweg.

Die Jahre in Deutschland hatten ihr kämpferisches Wesen nicht beseitigt – nur schlafen gelegt. Die Krankheit ihres Mannes hatte es noch mal aufblitzen lassen. Doch was konnte man einem so unsichtbaren Feind wie dem Krebs schon entgegensetzen? Man war machtlos, und während sie damals in Anogia nie kapituliert hatte, so hatte sie an Elonidas’ Bett genau das tun müssen. Ihre Schale war dadurch härter geworden, einem Panzer gleich, und nur die Enkelkinder und manchmal auch ihre Söhne hatten ihn durchbrechen können, um ihrem weichen Kern hin und wieder zu begegnen.

Sie schob den letzten Bissen Pita auf die Gabel und war erneut so müde, als hätte sie den ganzen Tag im Garten gearbeitet. Die Erinnerungen saugten die Energie nur so aus ihr heraus, doch sie durfte das nicht einfach so hinnehmen. Sie hatte begonnen, das Schweigen zu brechen, und nun konnte und wollte sie nicht mehr zurück zu der Geheimniskrämerei der Vergangenheit, denn egal, wie sehr es sie anstrengte: Sie musste sich auch eingestehen, dass es guttat, diese Dinge mit Katharina zu teilen. Auch wenn diese auch immer ihr Enkelkind bleiben würde, so war sie doch eine gestandene Frau, und der Schmerz ihres eigenen Lebens hatte sie bereit gemacht für ihre Familienhistorie. Wäre sie immer nur auf einer rosa Wolke des Glücks durchs Leben geschwebt, so hätte Hera das alles gewiss für sich behalten.

Katharina – was hatte sie gerade noch von ihrer Enkelin gewollt? Hera verzog grübelnd das Gesicht, während sie die letzten Petersilienblätter aß und dann Teller und Schale abräumte. Ihre Söhne hatten auf einer Spülmaschine in ihrer Küche bestanden, denn in den glücklichen Zeiten, in denen sie alle zusammen – immerhin zu neunt – Familienessen bei ihr durchgeführt hatten, war immer viel Geschirr angefallen. Doch heute spülte sie ihre Utensilien gleich mit der Hand ab. Es lohnte sich einfach nicht, zu warten, bis das Ding voll war.

Sie ließ sich wirklich zu sehr ablenken!

Hera holte das Telefon von der Station, schlang sich ihr Tuch um die knochigen Schultern und ging nach draußen.

Die junge Frau hörte sich leicht atemlos an, als sie das Gespräch annahm: »Ist alles in Ordnung, Yara?«

»Ja, ja. Mir ist noch etwas sehr Wichtiges eingefallen, und ich möchte, dass du auch das weißt. Und ich habe eine Frage.«

»In Ordnung«, sagte Katharina und hörte sich dabei ganz und gar nicht so an.

»Was ist mit dir?«, hakte Hera hellhörig nach.

»Wie gesagt, es ist alles in Ordnung.« Ihre Enkelin machte eine Pause. »Ich … habe nur gerade Besuch.«

»Besuch?« Hera war bewusst, dass sie sich wie ein Echo anhörte, aber sie war doch ein wenig perplex. Waren ihre Enkelsöhne doch endlich vernünftig geworden und halfen der Cousine beim Ausräumen, oder hatte Maria sich nach dem unerwarteten Anruf auf den Weg gemacht, um was auch immer in dem Glaspalast zu finden?

»Einen Augenblick«, sagte Katharina.

Hera war sich nicht sicher, ob es ihr galt.

»Ich erkläre es dir später, Yara. Was wolltest du mich fragen?«

Hera schüttelte kurz den Kopf, als wäre das eine Möglichkeit, ihre Irritation zu verscheuchen. »Ich wollte wissen, ob du etwas gefunden hast, worin Giorgos vielleicht persönliche Gedanken aufgeschrieben hat. So etwas wie Gedichte …«

»Ja.« Katharina hörte sich überrascht an. »Das habe ich. Ein Notizbuch voller wunderschöner Texte. Du wusstest davon?«

»Er hat mir mal ein Gedicht zum Namenstag geschrieben, und es war so … so perfekt, dass ich die Schlussfolgerung gezogen habe, dass er das bestimmt öfter gemacht hat. Aber gewusst habe ich es nicht. Ich würde es gern sehen, Kathi.«

»Ich hätte es dir sowieso gebracht«, erklärte Katharina mit ernster Stimme, »aber jetzt muss ich los. Es ist wirklich alles gut … sehr gut sogar.«

Hera hatte das Gefühl, ein Lächeln in der Stimme ihrer Enkelin zu hören, und das sprach gewiss nicht für einen Familienbesuch. Später würde sie alles erfahren, und bis dahin konnte sie ihre Neugierde zügeln. Es gab ein Buch! Viele Gedichte, die vielleicht die weiche und verletzliche Seele ihres Sohnes zeigten. Was für eine wertvolle, schöne Nachricht.

Sie stand auf und rückte ihren Stuhl zurecht, um der Nachmittagssonne zu folgen.

Warum sollte sie nicht erneut ein kleines Nickerchen einschieben? Nichts hinderte sie daran. Also erhob sie sich und machte es sich auf ihrer Liege bequem, um die wärmenden Strahlen auf dem Gesicht zu genießen.