45. Kapitel

Hannelore, 2001

Sie hatte lange gebraucht, bis sie dazu in der Lage war, seine Sachen zu berühren und gar zu sortieren. Sein Tod hatte sie unvorbereitet getroffen. Wie hatte sie nur neben ihm schlafen können, während er starb? Doktor Meier, ihr Hausarzt, hatte ihr versichert, dass sein Herz einfach aufgehört hatte zu schlagen und dass dies für ihn schmerzlos und für sie daher unbemerkbar vonstattengegangen war. Doch die Erklärung hatte keinen Trost gespendet, auch wenn es sich gut angehört hatte, dass ihr geliebter Janni nicht leiden musste, sondern in Ruhe hinübergeglitten war. Unvorbereitet hatte es sie getroffen, weil sie sich tatsächlich nie mit dem Gedanken vertraut gemacht hatte, wie es sein würde, ohne ihn zu leben. Sie hatten natürlich mal über das Thema Beerdigung gesprochen – aber eher so nebenbei –, und sie war sich nicht mehr sicher gewesen, was er wirklich für sich gewollt hatte. Erschwerend war hinzugekommen, dass sie ja nie geheiratet hatten und sie somit eigentlich gar nichts hatte unternehmen können. Gott sei Dank war Sabine an ihrer Seite gewesen und hatte sie nicht nur gestützt, sondern auch fast jede organisatorische Aufgabe übernommen, denn er war ihr Vater, und damit war sie seine nächste und auch einzige vor dem Gesetz geltende Verwandte. Auch ihr Schwiegersohn und Carsten hatten geholfen, wo es ging.

Trotzdem war sie Wochen und Monate danach noch wie durch einen dichten Nebel getaumelt. Dieser Nebel schirmte sie vor vielem ab, erschwerte ihr aber auch die Sicht. Das Auftauchen daraus zermürbte sie und raubte ihr beinahe ihren kompletten Lebensmut. Sie fühlte sich unvollständig ohne ihn, denn mehr als fünf Jahrzehnte gemeinsamen Lebens – wie sollte man danach ohne den anderen zurechtkommen? Daher war sie auch unvorbereitet auf die Wut, die sie plötzlich auf ihn hatte, weil er sie einfach so – und ohne Abschied – zurückgelassen hatte. Ja, sie waren alte Leute, keine Frage, und da musste man das wohl mit einrechnen. Doch wer machte das schon wirklich? Zudem hoffte man ja immer, nicht derjenige zu sein, der zurückblieb. Das war egoistisch und, wie sie nach Jannis Tod bemerkt hatte, auch dumm gewesen.

Sie fasste seine Kleidung nicht an, und all seine Sachen lagen noch lange an ihrem angestammten Platz: die Lesebrille neben dem Sessel, seine Zahnbürste im Becher im Bad, seine Schuhe im Vorhäuschen. Sabine versuchte einige Male, sie davon zu überzeugen, dass es gut wäre, die Dinge aus ihrem Blickfeld zu nehmen, doch Hannelore wollte nichts davon hören. Der Zeitpunkt musste von allein kommen und nicht, weil man sie irgendwie bedrängte und es angeblich »gut für die Trauerphasen sei, nun ein wenig loszulassen«.

Also waren die Tage zu Wochen und die Wochen zu Monaten geworden, bis sie nicht mehr stundenlang auf ihrem Sessel hockte und von dort auf den seinen starrte, in der Hoffnung, ihn doch wieder dort sitzen zu sehen – mit dieser konzentrierten Miene in seinem geliebten faltigen Gesicht, wenn er in der Offenbach-Post blätterte und die Neuigkeiten der Region las. Sie akzeptierte seinen Tod nur langsam, hatte sich aber nach über einem Jahr noch immer nicht daran gewöhnt, allein zu sein.

Das Bett war schrecklich leer ohne ihn, und alle fanden es sonderbar, dass sie weiterhin darin schlafen konnte, obwohl ihr Mann darin verstorben war. Doch wenn sie ihre Hand auf seine Seite legte, hatte sie das Gefühl, dass er über sie wachte. Ihr Janni! Ihr geliebter Partner – dieser wunderbare, freundliche und fleißige Mann. Besser konnte man es im Leben nicht treffen, und sie war Gott dankbar, dass er ihn ihr geschickt hatte. Diese Gedanken sorgten dann schlussendlich auch dafür, dass sie sich daranmachen konnte, seine Sachen zu sortieren, um zu entscheiden, was sie spenden wollte, denn es gab genügend Familien, die etwas brauchen konnten. So viele kamen noch immer als Spätaussiedler aus Russland, und die Sachen ihres Mannes waren von guter Qualität. Manches hatte er jedoch so oft getragen, dass man nur noch Lappen daraus machen konnte oder sie wirklich in den Müll werfen musste.

»Lass mich dir doch helfen, Mami«, sagte Sabine immer wieder.

»Das ist meine Sache«, antwortete sie und merkte, wie schroff es sich anhörte. Doch es war eben so. Das war nicht die Aufgabe seines Kindes, sondern die seiner Frau, und das war nun mal sie, Hannelore, egal, was der Staat für eine Meinung dazu hatte.

So unvorbereitet, wie sie auf die ganze Situation gewesen war, war sie auch darauf, Dinge zu finden, die er ganz offensichtlich vor ihr verborgen hatte, und diese Dinge trafen sie härter als der Moment am Morgen seines Todes, als ihr klar geworden war, dass er seine Augen nie wieder öffnen würde. So viele Jahre – Jahrzehnte, Monate, Wochen, Tage, Stunden, Minuten – hatte er sie angelogen. Wie war das nur möglich gewesen, und warum hatte sie nie etwas davon bemerkt?

Es war nur ein unscheinbarer Umschlag, der die Macht hatte, ihre gesamte Welt so zu erschüttern, dass sie einstürzte. In dem vergilbten Umschlag befand sich eine Art Führerschein, der aussah wie vom Militär ausgestellt. Sie erkannte ihren Mann sofort. Er war zwar etwas jünger als zu dem Zeitpunkt, als sie ihn kennengelernt hatte, aber es war ganz sicher er. Nur der Name war ein anderer. Wie konnte das sein? Warum besaß er einen falschen Führerschein und hatte diesen mehr als fünfzig Jahre aufgehoben? Sie konnte sich einfach keinen Reim darauf machen, doch es erschütterte ihr Vertrauen in ihn vollkommen. Zudem hatte sie den Umschlag in seiner Schublade mit den Unterhosen gefunden, in einem alten Buch aus seiner Heimat, mit dem sie nichts anfangen konnte, denn die Buchstaben waren unlesbar für sie. Das unterstrich den Anschein, dass er das Dokument hatte verstecken wollen.

Warum hatte er seinen Namen geändert, und wie war so etwas möglich? Oder war der Name auf dem Führerschein falsch? Warum sollte man Papiere mit falschem Namen bei sich tragen, wenn man nichts zu verbergen hatte? Welcher Name war der richtige? Hatte er sie deshalb nicht geheiratet – weil etwas nicht richtig war mit ihm?

Diese Grübelei brachte sie so durcheinander, dass sie das Zeug aus dem Buch nahm und ganz unten in ihre Schmuckschatulle legte. Ihr erster Impuls war es, alles zu vernichten, in den Kamin zu werfen und dort zu einem Häufchen Asche werden zu lassen, doch dann entschied sie sich um, ohne genau zu wissen, warum.

Danach sortierte sie seine Sachen aus, als wäre nichts geschehen. Sie wollte vergessen, was sie gesehen hatte, weiter um ihren Janni trauern und nicht um einen Fremden, den sie vielleicht nie so richtig gekannt hatte. Ging das überhaupt? Konnte man so viele Jahrzehnte das Leben miteinander teilen, jeden Abend nebeneinander einschlafen und sich trotzdem nicht kennen? Das war doch vollkommen unsinnig. Nichts ergab plötzlich mehr einen Sinn, deshalb war es gut, etwas zu tun zu haben, auch wenn in vielen Sachen noch sein Geruch steckte oder diese mit jeder Menge Erinnerungen verbunden waren: Das braune Cordsakko hatte er bei seiner Verabschiedung aus der Fabrik getragen und danach fast nie mehr. Trotzdem hing es seitdem hier im Schrank. Sein guter Anzug – den er bei Beerdigungen angezogen hatte. Sie hatte sich insgeheim immer ein wenig darüber geärgert, dass ihm die Sachen über ewige Zeiten hinweg passten und nie ein Knopf versetzt werden musste, während ihre Röcke schon nach kurzer Zeit spannten und sie Keile in den Bund einnähen musste, um sie weitertragen zu können.

Nach seinem Tod hatte sie ihren gesegneten Appetit verloren, und nun konnte sie wieder Sachen tragen, die sie eigentlich schon vor Jahren hätte aussortieren sollen. Schlichte dunkle Röcke blieben immer modern, daher hatte sie diese an die Seite gehängt und aufbewahrt. Nun war sie froh darüber, denn sie verspürte überhaupt kein Verlangen danach, in die Stadt zu gehen, um sich etwas zu kaufen. Sie wollte niemanden sehen und nicht in die mitleidigen Gesichter derer blicken, die ihre Zeit am allerliebsten damit verbrachten, sich über andere Leute die Mäuler zu zerreißen. Das waren noch nie Menschen gewesen, mit denen sie sich gern umgeben hatte, denn ihre Familiengeschichte bot für viele jede Menge Gesprächsstoff.

»Wie geht es deiner Mutter in Amerika?« – »Und du hast sie wirklich noch nie dort besucht?« – »Ach, sie ist nie mehr zurückgekommen, um dich und deine Familie zu sehen?« – »Ihr wart noch immer nicht verheiratet, na ja, auf eure alten Tage war das ja auch nicht mehr so wichtig …« Und so ging es immer weiter. Da war nirgendwo ehrliches Interesse, es war viel mehr eine Art dumme Sensationsgier. Dass sie neben einem Toten aufwachte, war für manche gewiss ein gefundenes Fressen, und Hannelore fühlte sich keinem dieser Gespräche, die eigentlich eher Angriffe waren, gewachsen.

Sabine kaufte für sie ein, und Helmut übernahm die nötigen Arbeiten im Garten, die sonst Janni erledigt hatte. Alles hier hatten sie gemeinsam geschaffen – Janni war für draußen verantwortlich gewesen und sie für drinnen. Nun würde das an ihr hängen bleiben, und im Augenblick war einfach alles zu viel.

Sie hatte einige Tüten für die Spendenannahme gefüllt und ein paar Sachen für Lappen aussortiert sowie das, was wirklich nur noch für die Mülltonne geeignet war, bereitgestellt. Der Schrank sah nun so leer aus, wie sich ihr Leben anfühlte. Ohne ihn war das alles nichts, aber zu wissen, dass er vielleicht nicht der gewesen war, für den er sich ausgegeben hatte, machte die gähnende Leere noch unerträglicher.

Sie fühlte sich plötzlich müde und ausgelaugt. Früher hatte sie von morgens bis abends werkeln können und war wie ein Uhrwerk gelaufen. Janni hatte oft seine Witze darüber gemacht, dass sie nur selten stillsitzen konnte, während er es liebte, mittags auf seinem Sessel zu faulenzen. Aber alles hatte sich geändert. Sie spürte das Alter in sich, und da der Tod in ihr Leben Einzug gehalten hatte, war er nun etwas Greifbares geworden. Vielleicht lauerte er schon heute Nacht auf sie. Ihr wäre es mehr als recht, denn egal, wie sie es drehte und wendete, egal, wie durcheinander sie ihr Fund gemacht hatte, so war es doch eine unerträgliche Situation für sie, ohne ihn leben zu müssen. Dieser Zustand zerrte an ihr, und sie wusste sich keinen Rat, war aber auch gleichzeitig fest entschlossen, niemandem davon zu erzählen. Das war nun ihr Geheimnis. Eigentlich hätte sie mit Sabine darüber reden müssen, denn als seiner Tochter stand ihr jegliches Wissen zu. Doch außer dem Entsetzen und dem Unverständnis, das sich in Hannelore ausgebreitet hatte, war da noch etwas: Sie schämte sich! Sie musste eine schlechte Partnerin gewesen sein, dass er ihr nicht genügend vertraut hatte, um ihr die Wahrheit – wie auch immer diese geartet gewesen war – zu erzählen.

Sie schleppte die Tüten ins Vorhäuschen, damit Sabine und Helmut sie wegfahren konnten, und sackte dann auf der Sofakante in sich zusammen, vollkommen überzeugt davon, dass dieser Gefühlsmix in ihr nun für immer ihr Begleiter sein würde und sie nie mehr eine frohe Minute würde erleben können. Eine Lebenslüge war die Grundlage ihrer Beziehung und ihrer Familie. Davon konnte man sich einfach nicht erholen.

Leise schluchzte sie seinen Namen. Tränen tropften auf ihre gefalteten Hände, und während es draußen dunkel wurde, nistete sich die Dunkelheit ihrer Gedanken in ihrer Seele ein. Erst als ihr Rücken so wehtat, dass sie sich kaum noch rühren konnte, schob sie sich ächzend vom Sofa hoch, legte sich gleich wieder auf das weiche Möbel, denn heute Nacht fühlte sie sich dem Bett nicht gewachsen, in dem sie Jahre neben jemandem geschlafen hatte, den ganz offensichtlich ein düsteres Geheimnis umgeben hatte.