46. Kapitel

Carsten, Gegenwart

Es war ihm mehr als schwergefallen, zurück nach Skaleta zu fahren und die vielen Kilometer Abstand zwischen sich und Katharina zu bringen. Während der Fahrt hinab ans Meer waren ihm so viele Gedanken durch den Kopf gerauscht, dass er zweimal zu früh abgebogen war. Diese Unkonzentriertheit hatte ihn erst durch eine kleine Siedlung geführt und dann auf eine Straße, die zu einem Feldweg wurde und mitten im Nirgendwo endete. Er hatte ein ganzes Stück rückwärtsholpern müssen, bevor es ihm möglich gewesen war, den Wagen zu wenden. Daraufhin hatte er die Möglichkeit beim Schopfe gepackt, war ausgestiegen und hatte versucht, den Wirrwarr in seinem Kopf zu sortieren.

Nichts an dem, was ihm in Meronas passiert war, war normal oder gar nachvollziehbar. Ganz im Gegenteil, er war viel zu distanziert und vielleicht sogar abgebrüht durch seine jahrelange Tätigkeit, als dass er an etwas wie Liebe auf den ersten Blick glaubte. Aber da war ja noch mehr: Er hatte sich in Katharinas Gegenwart seltsam angekommen und zu Hause gefühlt, und als sich ihre Hände im Haus ihres Onkels berührt hatten, war etwas so Seltsames geschehen, dass sein sorgsam aufgebauter Schutzwall zu Staub zerfallen war. Sein Herz hatte ihm offenbart, dass es Liebe gab, die über viele Leben hinweg beständig existierte. Katharina war seine Seelengefährtin, und während er sich an die Motorhaube des Mietwagens lehnte und auf stachelige Büsche blickte, versuchte er zu begreifen, was das bedeutete.

Die Geschichte vom Kugelmensch kam ihm in den Sinn, und er musste laut auflachen, denn es war eine der Erzählungen, die Menschen sich ausgedacht hatten, um jenen Hollywood-Romanzenkram mit einer Erklärung zu versehen, die sich so sagenhaft anhörte, dass man gern daran glauben wollte.

Eine Stimme in ihm flüsterte: Sie ist dein Mensch! Du musst diese Wahrheit erkennen.

Das war einerseits alles vollkommen verrückt und gleichzeitig vollkommen logisch. Zudem hatte er an Katharinas Gesicht gesehen, dass es ihr genau wie ihm ergangen war und dass auch sie die gleichen Bilder wie er gesehen hatte. Sie wusste es. Er wusste es – und doch war es so absurd, an die ewige Liebe und das Auffinden einer verloren gegangenen Hälfte zu glauben. Die Götter waren neidisch gewesen auf den Kugelmenschen mit vier Armen und vier Beinen und der Möglichkeit eines Rundumblicks. Also hatten sie dieses nahezu perfekte Wesen in zwei Hälften geteilt und die Teile überall auf dem Planeten versprengt. So war es schier unmöglich geworden, die verlorene zweite Hälfte wiederzufinden, um sich erneut zu dem perfekten Wesen zusammenzufügen. Geschah es dennoch, so handelte es sich um einen Zufall. So wie heute bei ihm und Katharina.

Obwohl er bereits als Teenager seine letzte Zigarette geraucht hatte und Tabak mittlerweile furchtbar fand, vermisste er es gerade sehr, sich eine anzuzünden und mit dem langsamen Ausströmen des Rauches auch die innere Anspannung loszulassen.

Sie war es. Da gab es keinen Zweifel. Sein Blick glitt hinauf in den blauen Himmel, den nun die ein oder andere bereits orangefarbene Wolke durchzog. Er sollte weiterfahren, doch sein Kopf schuftete immerfort und machte ihm deutlich, dass er sicher gleich wieder in der nächsten schlecht befahrbaren Sackgasse landen würde.

Was, wenn nichts von alldem ein Zufall war, sondern einfach nur ein sehr langer und sehr anstrengender Weg zum Glück? Sein Zusammenbruch, dieser lächerliche Auftrag, die zugewandte Fotini, die seine Abwehr porös hatte werden lassen, sodass der Blitz der Erkenntnis überhaupt erst in sein Herz hatte vordringen können. Was, wenn das Schicksal das alles für ihn genau und minutiös geplant hatte?

Gott, Carsten, du musst echt aufpassen, dass du nicht verrückt wirst.

Er stand in der Pampa, glotzte in den Himmel und sinnierte über das Schicksal und die ewige große Liebe. Für ein rational denkendes Lebewesen war das die letzte Haltestelle vor der Endstation Wahnsinn.

Er schlug auf die Motorhaube und erschrak über das Geräusch. Er musste wirklich fort von hier. Vielleicht sogar weg von der Insel. Er hatte ein paar mittelmäßige Fotos vom Kastro mit seinem Handy gemacht und es gesehen. Das würde ausreichen für ein paar Seiten romantischen Blablas, und das konnte er auch von Deutschland aus machen. Es würde auf jeden Fall besser sein zu verschwinden, denn er war beschädigte Ware. Diese zauberhafte Frau hatte etwas wie ihn keinesfalls verdient.

Als er wieder am Steuer saß, war er überzeugt davon, Kreta mit dem nächstmöglichen Flug zu verlassen. Katharina würde wahrscheinlich enttäuscht sein, denn ihm war klar, dass sie keine leichtfertige Frau war und ihre Einladung ernst gemeint hatte. Das hatte er sofort erkannt. Doch es war besser, ihr jetzt sofort zu verdeutlichen, wes Geistes Kind er war, bevor tiefe Gefühle im Spiel wären, denn dann würde der Schmerz umso größer sein. Er glaubte nicht mehr daran, dass seine Seele eine Chance hatte, wirklich wieder zu heilen, denn niemand konnte aus seiner Haut – so viel war klar.

Er fuhr wieder auf die schmale, aber zumindest geteerte Hauptstraße auf und schlängelte sich hinab zum Meer. Er würde auf jeden Fall das Zimmer für diese Nacht bezahlen, denn es war nur fair – selbst wenn er es nicht benutzte. Doch Fotini war gut zu ihm gewesen, und es schien ihm wie Betrug, sollte er einfach abhauen, ohne sich in dem Hotel ihrer Familie abzumelden. Im Anschluss konnte er die Flüge checken, jeder Flug nach Deutschland war okay, denn nach Frankfurt kam man dann unproblematisch mit dem Zug.

Entgeistert bemerkte er, dass ihm sein Entschluss nicht das erhoffte erlösende Gefühl brachte, denn immer wieder schob sich Katharinas Gesicht vor sein inneres Auge, zusammen mit Fetzen der Bilder, die durch seinen Kopf gerast waren, als ihre Hände einander berührt hatten.

Du kennst sie, flüsterte eine Stimme in ihm, die so alt zu sein schien wie das Leben selbst, und sie kennt dich – und das schon, seit es Liebende gibt.

Er wischte den Gedanken mit einer fahrigen Handbewegung beiseite. Er hatte Narben auf seiner Seele, war ein Wrack, in dem sich die Dunkelheit eingenistet hatte – niemand konnte ihn so lieben, wie er war. Vielleicht gab es das wirklich, dass sich die Seelen kannten, so, wie Platon es sich in dem Kugelmensch-Mythos erdacht hatte, doch das war dann vor so vielen Jahrhunderten gewesen, dass von dem Carsten von damals nichts mehr übrig war. Das konnte und durfte er nicht von Katharina verlangen, denn sollte sie wirklich so etwas wie seine Seelenverwandte, seine ewige Liebe sein – ihm wurde ganz mulmig bei diesem Gedanken, denn er passte nicht zu ihm –, dann trug er Verantwortung für sie und musste sie vor jemandem wie sich selbst beschützen. Zudem war es vollkommen unmöglich, sich auf Kreta in eine Frau zu verlieben, denn er konnte nicht hierbleiben. Es gab zwar nichts, was ihn woanders hielt, doch ein Leben auf Kreta war ebenso unmöglich.

Wieder waren da ihr Gesicht und die Augen, in denen er versunken war – die sich geweitet hatten und ihn hatten eintauchen lassen. Gott im Himmel, er war wirklich ein Irrer!

 

Er erreichte Skaleta, fand das hübsche Hotel in Strandnähe sofort und ging seufzend auf die Rezeption zu. Was sollte er sagen? Wieder schüttelte er den Kopf über sich selbst, denn er war doch niemandem Rechenschaft schuldig. Er war ein Gast. Jemand, der für eine Leistung Geld bezahlte, und er konnte bleiben oder gehen, ganz wie es ihm beliebte.

Kaum hatte er den hellen Eingangsbereich betreten, stürzte eine füllige Frau mit wallenden grauen Locken hinter einem Vorhang hervor. So, als hätte sie dort gestanden, bereit, sofort aufzutauchen, sollte jemand an die Theke kommen. Sie nahm ihn eine Sekunde in Augenschein, rannte trotz ihres beachtlichen Körperumfangs mit gleitenden Bewegungen um den Counter herum und umarmte ihn kräftig. Ihre Stimme war dunkel und melodiös: »Carsten! Da bist du ja. Fotini hat dich schon angekündigt und mir befohlen …« Sie kicherte, was sich dank ihrer Stimmlage eher wie ein leichtes Grollen anhörte. »… dich wie ein Familienmitglied zu empfangen. Herzlich willkommen hier bei uns im Hotel Meristor.« Sie lockerte ihre Umarmung etwas, und er wollte sich vollends befreien, doch sie drückte ihn erneut. »Du siehst so aus, als könntest du diese Umarmung gut brauchen. Hast du vielleicht einen Geist gesehen? Meine Großmutter hat immer so geschaut, wenn sie meinte, eine Seele aus der Vergangenheit sei ihr begegnet. Das hört sich plemplem an, aber sie war wirklich fit bis ins hohe Alter. Sie hat eben nur Sachen gesehen und gefühlt, die für uns andere nicht sichtbar waren.« Sie ließ ihn nun doch los, und er stand da wie ein Schuljunge, der der neuen Klasse vorgestellt wurde: unsicher und ein wenig peinlich berührt. »Wo sind deine Sachen? Ah, gewiss noch im Wagen.« Sie drehte sich um und rief: »Nestor. Neeeestooooor!«

»Ja, ja, ich komme ja schon. Ich bin nicht taub. Noch immer nicht.« Ein dürrer Mann, der ungefähr so groß wie Carsten war, kam hinter dem Vorhang hervor. »Ah, du musst Carsten sein. Weißt du, mein Junge, manchmal denke ich ja, es wäre besser, wenn ich endlich taub wäre, aber, na ja, das Schicksal möchte, dass ich Meris zauberhafte Stimme bis ans Ende meiner Tage verehren kann.« Dann wandte sich der Mann an die Frau, die grinsend ihre Haare über die Schultern warf und kokett lächelte.

»Ich bin übrigens Meri, und das ist mein Mann Nestor – falls du dir das nicht schon gedacht hast, und die Bezeichnung für unser Hotel ist eine Mischung aus unseren Namen – falls du dir das nicht ebenfalls bereits gedacht hast.« Sie wandte sich an ihren Mann und sagte: »Carsten hat sein Gepäck noch im Auto. Kannst du es holen, und dann begrüßen wir ihn ordentlich und zeigen ihm sein wunderschönes Zimmer.«

Carsten war so perplex ob dieser überbordenden Begrüßung, dass es ihm die Sprache verschlug. Was war nur los mit den Menschen auf dieser Insel? Wie war es möglich, dass sie so zugewandt und offenherzig waren? Das war doch nicht normal. Meri hielt ihm die Handfläche hin, und für einen Augenblick dachte er, er solle einschlagen, bis ihm klar wurde, dass sie seinen Autoschlüssel haben wollte. Verdutzt gab er ihn ihr, und sie reichte ihn an Nestor weiter, der davonschlenderte.

Was tat er hier? Er wollte doch weg, hatte sich fest vorgenommen, die Sache hier rasch zu regeln und dann Richtung Heraklion zu rasen. In Köln und einigen anderen deutschen Städten gab es kein Nachtflugverbot und in Heraklion sowieso nicht. Wenn er also Glück hatte, konnte er in wenigen Stunden in einem Flugzeug nach Deutschland sitzen. Stattdessen ließ er sich umarmen, rückte seinen Schlüssel heraus, und als Meri ihn Richtung Treppe schob, trabte er wie ein braves Schaf vor ihr her. Sie erklommen ein Stockwerk, und wieder war er von Meris Leichtfüßigkeit überrascht. Ihre Bewegungen hatten etwas fließend Tänzerisches an sich. Sie tippte ihm vor der Tür mit der Nummer 7 auf die Schulter – was ihn dazu brachte, stehen zu bleiben –, schob sich seitlich an ihm vorbei und öffnete die Tür mit einem einladenden Schwung. Das Zimmer war so liebevoll und heimelig gestaltet, dass er sich schon wohlfühlte, bevor er eingetreten war. In dem Augenblick, in dem er den Schritt über die Schwelle des Raumes machte, war seine zuvor empfundene Entschlossenheit komplett dahin.

Meri ging an ihm vorbei, schob den Vorhang beiseite, öffnete die Tür zu einem Balkon, auf dem er einen Tisch und einen gemütlichen Hängesessel entdeckte, aber viel beeindruckender und berauschender war der Blick aufs Meer, auf dessen kobaltblau leuchtender Oberfläche sich rosaorange Schlieren abbildeten, die den bevorstehenden Sonnenuntergang ankündigten. Er nahm die Farbenpracht in sich auf, und ein Seufzen brach aus ihm hervor.

»Es ist wunderschön hier, nicht wahr?« Meris Stimme transportierte so viel Wärme, dass Carsten sich wie in einen Kokon aus Herzensgüte eingehüllt fühlte.

»Hier kommt schon das Gepäck.« Nestor betrat das Zimmer, Meri warf ihm einen Blick zu, in dem Carsten zu sehen glaubte, dass die beiden sich wunderbar auch ohne Worte verstanden. Der Mann legte die Sachen behutsam ab, kam zu ihm und sagte: »Wir haben unten auf der großen Terrasse etwas für deine Begrüßung vorbereitet. Brauchst du Zeit, um dich frisch zu machen, oder kommst du gleich mit hinunter?« Nestor deutete nach draußen. »Jetzt ist das Licht wirklich unvergleichlich …« Der Mann ließ den Satz so ausklingen, dass er wie ein Versprechen klang.

Carsten schüttelte innerlich den Kopf, denn alles in ihm hatte sich erneut innerhalb kürzester Zeit verändert. War er eben noch fluchtbereit und sicher gewesen, dass er hier nicht bleiben würde, so wollte er nun zu gern einfach dort sitzen, um das Meer im Farbenwechsel zu betrachten, einen kleinen Schluck Wein im Glas und an einer verheißungsvollen Leckerei knabbernd. Er war mehr als verwirrt – wohl eher komplett durch den Wind – und folgte den beiden noch immer schweigsam, aber immerhin konnte er nicken und spürte das Lächeln auf seinen Lippen, ohne dass er es bewusst hervorgeholt hatte. Er konnte auch morgen nach dem Frühstück abreisen. Das war immer noch in Ordnung. Und den heutigen Abend als seinen Abschiedsabend sehen. Ja, das erschien ihm intelligenter als eine überstürzte Flucht. So konnte er seinen Aufenthalt hier ordentlich abschließen.

Ergeben ließ er sich an den Tisch bringen, suchte und fand seine Stimme wieder. »Danke, euch beiden. Ich bin einfach überwältigt von der Schönheit hier und von eurer Gastfreundschaft.«

Das Paar nickte ihm zu, und Meri scheuchte Nestor mit einer liebevollen Handbewegung davon. »Gibt es etwas, Carsten, was du nicht magst?«

»Bisher war alles wunderbar. Ich trinke nicht sehr viel Alkohol, aber sonst bin ich eher unkompliziert.« Noch während er dies sagte, wollte er erneut den Kopf über sich schütteln, denn wenn er etwas nicht war, dann unkompliziert.

Meri tätschelte ihm die Schulter, entschwebte sanft, und statt ihrer stand Nestor mit einem Tablett neben dem Tisch. Er stellte eine kleine Blechkaraffe auf den Tisch, dazu das typische kleine Glas, dann ein größeres Glas und einen Krug mit Wasser, in dem ein Stein lag, den er als Rosenquarz identifizierte. Ein Glas mit einer hellen Flüssigkeit und Eiswürfeln landete neben den anderen.

»Unser Wein von unseren eigenen Reben, Wasser, das Meri mit besonderer Energie anreichert, und unsere hausgemachte frische Zitronenlimonade.« Nestor goss ihm etwas Wein ein, und Carsten glaubte, einen Hauch von Grün darin zu entdecken. Er war beileibe kein Weinkenner, erinnerte sich aber an Beschreibungen, in denen das als etwas Besonderes galt. Er wusste, dass er sich selbst aushebelte und inkonsequent war. Doch hier zu sitzen und den Abend zu genießen war nicht gleichbedeutend damit, der Frau in den Bergen seine komplizierte Geschichte aufzuladen.