47. Kapitel

Katharina, Gegenwart

Sie lag auf dem bequemen Sessel und hatte sich ein Glas Wein eingegossen – diesmal war es ein französischer Rotwein, aber mittlerweile verwunderte sie nichts mehr in der Schatzkammer ihres Onkels. Neben ihr stand die Kiste ihres Vaters, und auf ihrem Bauch lag das Buch mit Giorgos’ Elegien. Alles hatte sich in den wenigen Tagen so verändert, und sie überlegte, ob dies nur an dem Wissen lag, das sie über ihre Familie erlangt hatte. Nein, das war längst nicht alles, denn auch das, was ihr heute zweimal mit dem Deutschen passiert war, war mehr als … »Ja, sag es nur laut«, befahl sie sich im gewohnten Zwiegespräch mit sich selbst, »auch wenn es kitschig und idiotisch klingt: Es war magisch!«

Egal, wie sehr sie den Kopf über sich und ihre Gedanken schütteln wollte, so musste sie sich doch zugestehen, dass es genau das gewesen war, was zwischen ihnen geflossen war: Magie! Wie sonst konnte man erklären, dass sich vor dem inneren Auge ein Film abgespielt hatte, der zwei Menschen zeigte, die über Jahrhunderte hinweg miteinander verbunden waren – deren Lebenswege sich immer wieder gekreuzt hatten und zwischen denen mehr als nur eine lose Bekanntschaft vorgeherrscht hatte. Es war weder logisch noch rational erklärbar, doch ihr Herz und auch ihr Körper hatten es gewusst. Es gab Erinnerungen, die durch einen bloßen Geruch oder ein simples Berühren ausgelöst wurden, das war ihr weder neu, noch neigte sie dazu, es sofort als unerklärlich und übersinnlich zu definieren. Der Duft in den Kleidern ihrer toten Mutter hatte so viele Bilder ausgelöst und sie wieder in längst vergangene Momente mit Olympia hineinkatapultiert. Doch das war erklärbar, denn es gab eine belegbare gemeinsame Geschichte. Auch Geräusche wie zum Beispiel das Brechen einer röschen Brotkruste konnten dazu führen, dass sie sich innerlich bei einem Sonntagsessen am Tisch ihrer Yaya wiederfand. Doch das alles waren eben Erlebnisse, die in den vergangenen rund vier Jahrzehnten stattgefunden hatten und die irgendwo im Hinterstübchen ihres Gehirns abgelegt waren – nicht wichtig genug, um sie gleich parat zu haben, aber auch zu emotional belegt, um sie zu löschen. Mit Carsten verband sie nichts dergleichen.

Sie hatte die Kiste mit den Briefen ihres Vaters herangezogen, um herauszufinden, ob sie die Liebesgeschichte ihrer Eltern und die Verbindung, die zwischen den beiden bestanden hatte, als eventuelle Referenzerfahrung für ihre unerfüllten Träume und Wünsche genutzt hatte, um das dann alles auf einen Fremden zu projizieren, den sie unter Umständen nie mehr wiedersehen würde. Andererseits wusste sie, dass es keine reine Projektion gewesen war, denn als sie einander am Kastro berührt hatten, hatte sie eine allumfassende Gewissheit erfahren, dass sie einander schon seit Ewigkeiten liebten. Sie hatte sich gefühlt, als wäre sie so lange untergetaucht gewesen, bis sie keine Luft mehr in ihrer Lunge gehabt hatte, um dann an die lichte und luftige Oberfläche zu trudeln, an der einem alles so berauschend vorkam, weil man die Lunge mit Sauerstoff füllen und das Leben in jeder Zelle spüren konnte. Als Kind hatte sie das – sehr zum Leidwesen ihrer Eltern – immer gern praktiziert. Ganz egal ob im Pool oder im Meer, sie hatte es geliebt, sich so zu fühlen. Doch all das war ihr verloren gegangen, als sie Frau und Mutter geworden war. Als wäre mit der Eheschließung eine Gehirnwäsche bei ihr durchgeführt worden.

Es war an der Zeit, sich wieder an die Katharina von ganz früher zu erinnern, zu der nun eine weitere Facette hinzugekommen war – oder nein, sogar mehrere: Sie nahm nicht mehr jede bisher geglaubte Wahrheit als gegeben hin, und wenn es wirklich jemanden gab, der sie immer wieder aufs Neue geliebt hatte, dann war sie ein Mensch, den es zu lieben lohnte. Das war die vielleicht verrückteste Erkenntnis aus all dem, was ihr in den vergangenen Tagen widerfahren war. Sie hatte sich nicht auf den Weg in den Glaspalast gemacht, um eine Reise zu sich anzutreten, vielmehr hatte sie wie immer ihre Rolle und die damit an sie verbundenen Anforderungen erfüllt. »Katharina, mach das, Katharina, mach jenes«, und Katharina machte und machte. Nun war ihr Aufenthalt hier zu einer Zeit mit unglaublichen Begebenheiten geworden.

Sie nahm einen Schluck des tiefroten Weins von einem der besten Weingüter in der Provence. Sie war einmal mit ihrer Mutter dort gewesen. Sie hatten sich Avignon angeschaut. Eine idyllische Stadt mit viel Flair und gutem Essen. Von dort aus hatten sie die Côte d’Azur bereist und die mondänen Orte mit den vielen schönen und reichen Leuten besucht. Sie waren gewiss nicht arm und gönnten sich auch gern edle Dinge, doch dort war es ihnen beiden doch ein wenig zu viel des zur Schau getragenen Reichtums gewesen. Sie hatten in Europa einige Städte gesehen und sich immer sowohl mit der Kultur als auch der Lebensart befasst. Daher kannte sie auch die guten Weine der Region, und überraschenderweise hatte Giorgos sie auch gekannt, obwohl er nie weiter als bis auf das griechische Festland gereist war. Auf jeden Fall war der Rote köstlich: Weich und rund glitt er über die Zunge. Sie hatte nicht mehr viel Appetit gehabt, nachdem sie das Flattern in der Magengegend endlich ein wenig unter Kontrolle bekommen hatte. Nur damit ihr der Alkohol nicht gleich die Sinne vernebelte, hatte sie sich etwas Käse, ein paar Tomaten und einige der Carob-Sesamringe auf dem Brett zurechtgelegt, das nun neben ihr auf dem Tischchen stand. Während sie so gedankenverloren vor sich hin knabberte und trank, kam ihr ein vollkommen verwirrender Gedanke: Sie war glücklich. Wie konnte das sein? Lag es an Carsten? War sie wieder drauf und dran, ihre innere Zufriedenheit nur darüber zu generieren, dass sie sich in den Augen eines Mannes spiegeln konnte?

»So dumm bist du nicht mehr«, stieß sie hervor und ließ die Worte auf sich wirken. Nein, so dumm war sie wirklich nicht mehr. Sie hatte dazugelernt und würde es nicht mehr hinnehmen, sich selbst so zu verlieren, wie sie es in der Beziehung mit Lambros getan hatte. Mit Carsten hatte sie eine unfassbare Chance, ihrem wahren Kern zu begegnen und vollkommen sie selbst zu sein. Vielleicht sogar zum ersten Mal in ihrem Leben. Natürlich war sie als junge Frau auch eher sie selbst gewesen, doch sie hatte sich an die Wünsche ihrer Eltern angepasst, egal, wie viel Freiraum diese ihr gewährt hatten. Und für ihre Ehe hatte sie sich dann vollkommen aufgegeben, hatte sich in die Frau verwandelt, die Lambros an seiner Seite haben wollte. Und wenn sie schon gerade dabei war, schonungslos ehrlich mit sich zu sein – sie nahm noch einen Schluck Wein –, dann musste sie sich sogar eingestehen, dass sie sich auch als Mutter verbogen hatte, um äußeren Ansprüchen zu genügen. Wie hatte das nur alles passieren können? Olympia war immer ihr Vorbild gewesen: geradeheraus, konsequent und klar in ihren Zielen.

Hm … vielleicht war gerade das das Problem: Wenn man sein wollte wie die Mutter, aber sich doch auch als eigenständige Persönlichkeit abgrenzen wollte. Und dann verirrte man sich zwischen Nachmachen und dem eigenen Weg und wurde zur Marionette … Sie wusste, dass das ein sehr abwertender Umgang mit der Frau war, die sie in den letzten zwölf Jahren gewesen war. Doch es war die harte und bittere Realität. Während der kurzen Sequenzen, die ihr ihr Unterbewusstsein im Zusammensein mit Carsten vorgegaukelt hatte, war sie eine andere gewesen – und dabei war es nicht um Äußerlichkeiten gegangen, sondern um die Stärke und mentale Tiefe, die sie wahrgenommen hatte. Es war vollkommen verrückt, unter diesen Umständen den Mann morgen hierher einzuladen. Sie hatte Kinder, und die beiden Jungen waren beziehungsgebeutelt genug. Und doch konnte es nicht sein, dass sie sich als Frau vollkommen aufgab. Unabhängig von aller Romantik sehnte sie sich nach Berührungen sowohl zärtlicher als auch leidenschaftlicher Art.

Vielleicht hatten die Moiren Carsten geschickt, und nun lag es an ihr, etwas daraus zu machen. Ging es am Ende gar nicht darum, sich sofort wieder mit dem Thema Liebe und Beziehung zu befassen, sondern nur besondere Wohlfühlmomente in ihrem Leben zu gestalten und damit sich selbst und dem Kern ihrer Persönlichkeit wieder näher zu kommen? Denn sie war irgendwie leer, und genau diese innere Öde machte sie so anfällig für alles, was von Lambros kam. Wenn sie ehrlich zu sich war, dann waren es nicht nur Situationen mit ihrem Ex, die sie komplett an sich hatten zweifeln lassen, sondern mit beinahe jedem Menschen in ihrem Umfeld. Sie hatte alles auf sich bezogen und sich infrage gestellt. Da konnte doch nichts von der eigenen Identität übrig bleiben. Das war unmöglich. Die Begegnung mit jemandem, der sie nicht kannte – für den sie ebenso Neuland darstellte wie er für sie –, barg die Möglichkeit, sich endlich wieder zu spüren. Carsten wusste nicht, wie sie sich früher verhalten hatte, und würde ihr keinen mitleidigen Blick zuwerfen, weil sie heute eine introvertierte ängstliche Person darstellte, obwohl sie in ihrer Jugend, bis hinein ins Studium, lebenslustig und experimentierfreudig gewesen war.

Sie nahm sich ein Stück Käse und kaute es bewusst langsam und voller Genuss – auch das war eine sinnliche Erfahrung, und es ging nicht nur darum, den knurrenden Magen zu füllen, sondern den Hunger zu befriedigen. Da war so viel Hunger in ihr. Ja, auch nach Sex. Aber eben auch danach, gesehen zu werden. Carstens Blick war warm, suchend, wissend, aber eben auch leidenschaftlich gewesen. Verheißungsvoll … Oder steigerte sie sich da gerade in etwas hinein? Aber warum sonst hätte er für den kommenden Abend zusagen sollen? Dennoch war er auch nicht sofort mitgekommen.

Führ dich nicht auf wie eine Närrin, schalt ihre innere Stimme sie, denn das war keine Abfuhr gewesen. Oder doch? Hatte er sich einfach nur auf eine elegante Art aus der Affäre gezogen und würde sie morgen versetzen? Und sie stünde mit einem Abendessen für zwei allein und frustriert da? Sie musste unbedingt dafür sorgen, Lambros’ kalte, böse Stimme aus ihrem Kopf zu bekommen, denn Aussagen wie »Du solltest Spanx tragen, um die Fettrollen an deinem Bauch zu kaschieren« oder »Mach gefälligst einen Zopf – diese Teenie-Locken sind lächerlich« hatten wehgetan und hallten ewig in ihrem Verstand nach.

Sie musste sich unbedingt ablenken. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie jetzt gerade noch ohne ein allzu schlechtes Gewissen bei ihrer Yaya anrufen konnte. Sie wollte der alten Dame mehr von dem Buch berichten, ihr vielleicht sogar ein wenig daraus vorlesen und ihr etwas von Carsten erzählen. Oder war es sonderbar, solche Dinge mit seiner fast hundertjährigen Großmutter zu bereden? Doch sie waren einander in den vergangenen Tagen auf eine neue Art nah gekommen, und das gab ihr das Gefühl, dass Hera genau die richtige Person war, um über das zu reden, was das Schicksal ihr quasi vor die Füße geworfen hatte. Gleichzeitig gab es dann auch jemanden, der Bescheid wusste, denn obwohl sie es Carsten gegenüber in einem scherzhaften Ton gesagt hatte, bestand doch noch immer die Möglichkeit, dass er ein irrer Serienmörder war, der nur darauf wartete, sie in Stücke zu hacken oder in einem Säurebad aufzulösen …

»Du solltest aufhören, solche Horrorgeschichten zu lesen«, gebot Katharina sich, während sie die Wahlwiederholungstaste auf dem Telefon drückte.

 

Kurze Zeit später war sie mit ihrer lebensklugen Großmutter ins Gespräch vertieft und berichtete von ihrem Zusammentreffen mit dem attraktiven Deutschen. Noch schaffte sie es nicht, ihr auch von den Flashbacks in ihrem Kopf zu erzählen, die bei den zufälligen Berührungen entstanden waren, aber das war auch in Ordnung so, denn es war zwar ein Gespräch unter Frauen, aber immer noch auch eines zwischen Oma und Enkelin.

»Ich finde es schön, wenn du ein wenig Freude hast, Kathi«, sagte Hera dann auch, und Katharina gab ihr recht, denn gute Gespräche mit einem Erwachsenen auf Augenhöhe waren etwas Wunderbares.

»Weißt du, Yara«, begann Katharina und biss sich kurz auf die Lippe, denn gerade noch war ihr Gespräch leichtfüßig gewesen, »ich lese ja zurzeit Papas Briefe, die er an Mama nach ihrem Tod geschrieben hat, und die Liebe, die die beiden verbunden hat, ist so … so mächtig. Und gleichzeitig ist es furchtbar für die Person, die nach dem Tod des Geliebten zurückbleibt, denn wie soll man dann nur weitermachen … Oh, entschuldige, das klingt jetzt wenig einfühlsam. Ich wollte damit nicht sagen …« Sie unterbrach sich hastig.

Ihre Yaya hustete kurz trocken und ergriff dann das Wort: »Keine Sorge, Liebes, ich verstehe, was du sagen willst. Dein Großvater und ich hatten eine andere Art von Beziehung. Was nicht bedeutet, dass sie weniger wert war. Sie war eben nur anders, und das, was dein Vater und deine Mutter hatten, ist das größte Geschenk, was einem das Leben bescheren kann.«

»Ja, und es ist gleichzeitig auch für die nachfolgende Generation echt anstrengend, denn das ist doch ein Vorbild, an dem man nur scheitern kann. Es löst eine große Sehnsucht in mir aus, auch jemanden so zu lieben und von jemandem so geliebt zu werden. Elonidas führt gar keine Beziehung, und ich … ich habe mich in etwas verrannt. Und jetzt … was mache ich jetzt? Ich gehe mit einem Fremden nach zwei Minuten einen Wein trinken, nehme ihn dann mit hier in dieses Haus, trabe mit ihm zu einem romantischen Ort und lade ihn dann noch zum Abendessen ein. Das ist beinahe verzweifelt, oder etwa nicht?« Sie hörte sich selbst zu und kam sich wie ein verwirrter Teenager vor und nicht wie eine Mittvierzigerin.

»Wenn wir betrachten, was Vorbilder mit uns machen, dann lassen sie uns doch meist danach streben, besser zu werden – entweder bei den Dingen, die wir tun, oder eben den Charakter betreffend. Das, was du ansprichst, sind aus meiner Sicht ja eher Ideale, und die sind dafür gemacht, daran zu scheitern.«

Katharina ließ die Worte ihrer Yaya sacken. Vielleicht war der Ansatz gar nicht so falsch, denn es war gewiss besser, nur darauf zu achten, welche Art der Weiterentwicklung oder eben des Handelns gut für einen selbst war, und nicht ständig auf der Suche nach demselben Gefühl zu sein, das sie bei ihren Eltern wahrgenommen hatte.

»Du bist nicht wie Olympia und auch nicht wie dein Vater. Du bist du, Kathi – und beide haben dir viele gute Eigenschaften vererbt und dir etwas vorgelebt, das sich nachzuahmen lohnt, und doch ist es besser, deinen eigenen Weg zu finden. Und noch mal zu Lambros: Da gab es etwas, was du an ihm mochtest und was dich glauben ließ, dass es mit ihm klappen könnte – und wie so oft belehrt uns das Leben eben eines Besseren.«

»Es tut mir so leid, Yara.« Katharina spürte, wie sich Unbehagen über ihr eigenes Gezeter in ihr breitmachte. »Ich tue so, als wäre ich ein vom Unglück geschlagener Mensch – dabei geht es mir doch im Vergleich zu meinen Vorfahrinnen und auch dir wirklich hervorragend. Ich bin finanziell abgesichert, habe tolle Schulen besuchen dürfen, die Welt gesehen, einen Kühlschrank voller Essen, und ich habe zwei gesunde und wunderbare Kinder …«

»Du darfst dir doch trotzdem mehr wünschen, Kind.« Hera seufzte, aber es klang nicht genervt, sondern eher sanft.

»Aber … manchmal ist es so … Also, ich wünsche mir etwas, weiß aber gar nicht, was es ist. Wenn ich das Ritual durchführen wollte, dann wüsste ich gar nicht, was ich mir wünschen, wie der Wunsch formuliert sein oder wofür er gut sein sollte. Das ist doch irgendwie … na ja … armselig, denkst du nicht?«

»Das denke ich nicht. Schau mal, bis vor wenigen Tagen wusstest du gar nichts darüber. Du kanntest weder die Frauen in deiner Ahnenlinie noch deren Lebensumstände. Es ist eine Geschichte, die von Generation zu Generation wächst, und jede dieser Frauen – wir alle – haben uns intensiv damit beschäftigt, Kathi. Wie sollst du innerhalb weniger Stunden wissen, wo dich all das hinführen kann? Wäre es nicht vielmehr sonderbar, wenn du es sofort anwenden könntest?«

»Wenn du es so formulierst, dann klingt es ziemlich logisch. Ich glaube einfach, dass ich mich verändert habe, seit ich hier bin – auch wenn das schwer zu erklären ist. Dazu hat natürlich auch das Wissen über die Vergangenheit meiner Familie einen großen Part beigetragen. Nicht nur über die Frauen früher, sondern auch über dein Leben, Yara. Alles, was du hast mitmachen müssen, und die Stärke, die von dir verlangt wurde …« Was auch immer ihre Yara entschieden hatte, hatte das Schicksal ihres Onkels beeinflusst. Katharina fühlte sich ebenfalls stets für alles verantwortlich, was Emmanouil und Markos sagten oder taten. Benahmen die Buben sich daneben oder machten etwas Ungehöriges, so empfand sie Schuld und fragte sich, was sie wohl falsch gemacht hatte – und hierbei ging es nicht um ein Lügengespinst und Mord, sondern um Hausaufgaben, die sie nicht gemacht oder Schimpfwörter, die sie benutzt hatten.

»Es ist, wie es ist, Kind. Vielleicht liest du mir jetzt etwas vor, oder bist du zu müde?«

»Auf keinen Fall bin ich zu müde, und das, was ich hier gefunden habe – es hat mich überrascht und zugleich berührt, denn ich hätte ihm das niemals zugetraut.«

»Viele Menschen haben nur eine Seite von ihm gesehen und gekannt. Für mich war es auch schwer, an ihn heranzukommen, aber manchmal hat er mir einen Blick hinter diese sorgsam gehütete Kulisse gewährt …« Ihre Großmutter seufzte erneut, doch diesmal klang es schwerer. Katharina wollte nicht, dass die alte Dame sich aufregen musste, griff nach dem Notizbuch und blätterte eine willkürliche Seite auf.

Des Abends müdes Licht

taucht in Gesang den trägen Geist.

Lässt schweigen jedes unbehaglich’ Wort,

verweht des Tages raue Pflicht.

Und die Melodie umwölkt von Grau und Nacht

treibt jeden tauben Gedanken hinfort.

Auf dass nach wirrem Schlaf

ein heller Schein der Hoffnung

silberreiner Keim sein darf.

Und erhebe ich sodann mein gedankenschweres Haupt

von dem unnachgiebig’ Kissen hart wie Stein,

lebe ich die neue Zeit nun mit andachtsvoll’m Bedacht.

 

Katharina hatte es mit leisem Pathos vorgetragen und spürte, wie die Worte ihr Herz erreichten. Schweigen umhüllte sie und ihre Yaya nach der letzten Zeile, doch es war eine gute Stille. In ihnen hallte die Bedeutung nach, und es dauerte lange, bis Hera das Schweigen brach: »Danke, mein Kind! Ich werde mich wirklich glücklich schätzen, wenn ich das Buch in meinen Händen halte, denn dort steckt mein Junge drin.«

Katharina wusste nicht, was sie erwidern sollte, denn auch sie spürte Giorgos’ Geist und hier, in seinem Refugium, war sie ihm noch näher. Dann überkam sie ein verrückter Gedanke: Ihr Onkel hatte seinen Schrecken für sie verloren. Es bedeutete nicht, dass sie vergessen hatte, was geschehen war, doch sie konnte ihn nun als verletzlichen Menschen sehen und nicht nur als ein kaltherziges Monster.

»Ich werde es dir so bald wie möglich vorbeibringen, Yara«, versprach sie.

»Danke«, sagte Hera schlicht.

»Ich werde jetzt noch ein wenig nachdenken und versuchen, alles zu sortieren, was ich erfahren und erlebt habe.« Katharina wollte die Erkenntnisse sacken lassen und für sich klären, was die Begegnung mit Carsten zu bedeuten hatte – und ob sie überhaupt etwas zu bedeuten hatte.

»Nimm das Leben nicht so schwer, Kathi«, legte Hera ihr noch ans Herz, bevor sie ihr eine gute Nacht wünschte und das Telefonat beendete.

War das so – nahm sie das Leben zu schwer? Wann hatte sie die Leichtigkeit des Seins verloren? Wann war diese unerträglich schwer geworden und hatte sich dann zu etwas gewandelt, das einen unglücklichen Menschen aus ihr formte, der nur noch selten dazu in der Lage war, das Schöne zu sehen? Sie war gewiss nicht der einzige Mensch auf dem Planeten, der innerhalb kürzester Zeit beide Eltern verloren hatte, und sie hatte immerhin mehr als vier Jahrzehnte mit ihnen verbringen dürfen. Es gab Kinder, denen ein Unfall oder andere Schicksalsschläge die schützenden Hände weggerissen hatten. Andere wiederum hatten Eltern, die ihnen erst gar keinen Schutz boten, sondern selbst die größte Gefahr darstellten. War sie einfach undankbar und sah deshalb nur das Dunkle in allem?

Es war nicht leicht, sich mit all diesen Gedanken zu befassen, und sie begann, sich nach dem Augenblick zurückzusehnen, als sie noch jung und voller Hoffnung gewesen war – so, wie ihr Onkel es in seinem Gedicht beschrieben hatte: ein heller Schein, der ebenjene Zuversicht brachte und silberrein keimte. Aber auch nach dem Moment, in dem sie beschlossen hatte, alle Tage hier oben betrunken zu verbringen, um die kontrollierte Katharina aufzubrechen. Egal, welcher Gefühlsmix in ihr tobte, sie hielt sich unter Kontrolle, denn sie wollte es für Emmanouil und Markos nicht noch schlimmer machen und ihnen die Peinlichkeit einer Mutter ersparen, die in der Öffentlichkeit die Contenance verlor – sie flippte tatsächlich nur Lambros gegenüber total aus. War sie überhaupt noch fähig, sich ungezwungen zu öffnen, oder vermutete sie hinter jedem Lächeln eine böse Absicht? So wie es ja auch mit Carsten gelaufen war? Sie hatte sofort in Erwägung gezogen, dass es ihm um Katharina Dalara gegangen war und er nicht einfach nur eine Fremde angesprochen hatte, die ihm gefiel. »Ja, wo Licht ist, ist eben immer auch Schatten«, sagte sie erklärend zu sich selbst und hangelte nach der Flasche, um sich noch einen kleinen Schluck nachzugießen. Dann ließ sie den Wein genussvoll über die Zunge gleiten und stellte sich den Briefen ihres Vaters – einerseits, um sich ihren Eltern näher zu fühlen, und andererseits, um dem immer wiederkehrenden Gedankenkreislauf zu entfliehen, der sie nicht voranbrachte, sondern bleischwer an Ort und Stelle verharren ließ.