48. Kapitel

Sabine, 2016

»Carsten …« Sie streckte ihre Hand nach ihm aus, denn sie wusste wieder, wer er war und was er ihr bedeutete. Ein paarmal war sie erschrocken gewesen, einen Mann an ihrem Bett sitzen zu sehen, der ihre Hand umklammert hielt und sein Gesicht daran presste. Die Bestürzung hatte sie doppelt in Panik versetzt, und jetzt in diesem wachen und hellen Augenblick erinnerte sie sich an alles: an sein Gesicht, als sie ihm die Hand entriss, an ihre wilde Suche nach den Worten, mit denen sie ihren Gefühlen Ausdruck verleihen wollte – und wie sehr es ihr Entsetzen noch steigerte, als sie sie einfach nicht finden konnte.

Jetzt lag alles glasklar vor ihr. Und auch das Wissen, dass sie nicht mehr sie selbst war und der Tod schon hinter ihren Augenlidern lauerte, war präsent. Der Gehirntumor würde sie ihres Lebens berauben. Er war ein mieser und hinterhältiger Dieb, und noch dazu war das doch alles reiner Hohn – denn schließlich war sie ihr gesamtes Erwachsenenleben lang Krankenschwester gewesen, hatte an den Betten der Kranken gestanden, um deren Leid zu mildern. Und kurz nachdem sie die weiße Uniform abgelegt hatte, lag sie nun in einem dieser Betten, und andere standen davor – bemüht, ihr das Sterben so angenehm wie möglich zu gestalten.

»Mami.«

Es war verrückt und zugleich wunderschön, ihn das sagen zu hören – so wie früher als Kind. Bevor er zum Mann geworden war und bevor er die wahnsinnige Idee zum Beruf gemacht hatte, über furchtbare Gräueltaten überall auf der Welt zu berichten. Der Tod war sein Geschäft geworden – genau wie das ihre. Sie hatten eben nur auf verschiedenen Seiten gestanden. Auch wenn er immer versucht hatte, ihr zu erklären, dass sie beide gar nicht auf so unterschiedlichen Pfaden unterwegs waren.

Im Unterschied zu ihrem Sohn hatte sie sich nicht jeden Tag in Lebensgefahr begeben. Okay, es hatte auch mal ansteckende und gefährliche Krankheiten und Keime in ihrem Umfeld gegeben, aber im Großen und Ganzen war das wohl anders zu bewerten als Bomben, Handgranaten und Maschinengewehre. Er war immer ein lieber Junge gewesen, sensibel und mit einem guten Gespür für Gerechtigkeit. In der Schule hatte er sich engagiert, war aber nie frech oder gar auffällig gewesen.

»Carsten«, sagte sie erneut, denn er war ihr ganzer Stolz. Auch wenn sie sich immer mal wieder mit ihm gestritten hatte und ihn lieber in der Redaktion der FAZ sitzen sehen wollte, mit Haus, Frau und Kindern, als tagelang nicht zu wissen, ob er überhaupt noch am Leben war. Die Worte wollten sich einfach nicht formen. Der Krebs hatte ihr auch die Möglichkeit geraubt, sich auszudrücken. Vielleicht waren daher die Tage der Umnachtung insgesamt als Erleichterung zu sehen und nicht als Sanktion, denn was war schlimmer, als das nicht sagen zu können, was ihr durch den Kopf ging und am Herzen lag? Er musste wissen, wie sehr sie ihn liebte und dass jeder Streit nur auf dieser Basis geführt worden war. Sie hatte sich selbst so oft über ihre Mutter und deren Ansprüche an sie geärgert. Und dann trug man genau diese verhasste Verhaltensweise in die nächste Generation und pflanzte ein unseliges Saatkorn für alle weiteren Generationen in den Nachwuchs. Es war doch einfach nur zum Verzweifeln. Sie mühte sich ab, die Worte zu formen, und sah den Schmerz in seinem Gesicht, während er sich zu ihr vorbeugte und in seinen Augen alles stand, was eine Mutter ihrem geliebten Kind ersparen wollte. Sie knetete die Silben auf ihrer Zunge, strengte sich vollkommen an und befahl ihrem nutzlosen Körper zu gehorchen. Er war nicht mehr zu gebrauchen – sie war zu nichts mehr nutze. Sie hatte ganz gewiss nicht so enden wollen. Doch wer wollte das schon? Sie hatte sich nicht für unbesiegbar gehalten, aber eher einen Tod wie den ihres Vaters für sich ins Auge gefasst, sodass die Aussage, die man häufig in Todesanzeigen las, »friedlich entschlafen« der Realität entsprach. Das hier hatte mit friedlich ungefähr so viel zu tun wie ein Feuer am Samstagmittag in der Fressgass. Sie erinnerte sich an all die Ausflüge, die sie mit Marion unternommen hatte, aber auch mit Helmut. Der Schmerz in seinem Gesicht war noch weniger zu ertragen als der in Carstens.

Der Junge streichelte ihre Hand, und sie konnte sehen, dass er die Tränen, die ihm hinter den Augen brannten, zurückhielt. Sie kannte ihn. Er war ihr Kind. Er war unter ihrem Herzen gewachsen, und sie hatte ihn durch all seine Lebensphasen geleitet und begleitet. Sie hatte sich eine liebe Partnerin für ihn gewünscht und sich selbst fröhliche Enkelkinder. Und jetzt lag sie hier brabbelnd und sabbernd, und all dies blieb ihr versagt. Wo noch vor wenigen Wochen oft jede Menge Frust darüber gewesen war, dass ihr das versagt bleiben würde, so war da jetzt nur noch Trauer, denn Carsten war allein. Er hatte niemanden – zumindest niemanden, von dem sie wusste –, der ihm Halt gab und ihn stützen würde. Noch immer versuchte sie, die Worte zu formen und aus ihrem Mund herauszustoßen. Manchmal klappte das. Es hörte sich zwar an, als wäre sie betrunken und in Eile, aber es war zumindest zu verstehen. Anfangs hatte sie noch versucht, Sätze aufzuschreiben, aber es hatte sich mittlerweile in den Händen zu viel Wasser eingelagert, als dass sie noch einen Stift hätte vernünftig halten können und das Gekrakel, das dabei entstand, war einfach nur unleserlich gewesen. Das hatte die Krankheit aus ihr gemacht: ein Wrack!

»Ichliebedich.« Endlich war es heraus. Sie spürte den Speichelfaden, der ihr am Kinn entlanglief, aber es war ihr irgendwie egal. Hauptsache, ihr Sohn hörte von ihr nicht als Letztes irgendwelche dummen Vorwürfe, weil Annerose zwei Häuser weiter ihren Eltern bereits das dritte Enkelchen präsentierte. Sie wollte noch so viel sagen, doch das musste reichen und er verstehen, dass darin alles inbegriffen lag – alles, was er ihr bedeutete, jeder Stolz, den sie je empfunden hatte, und jeder gute und fromme Wunsch für ihn und seine Zukunft. Über Hannelore hatten sie bereits vor einigen Wochen geredet, und Carsten war da recht deutlich geworden.

»Das ist einfach zu viel, was du dir da zumutest, Mama. Du musst dir helfen lassen, und es ist auf jeden Fall leichter, mit so einer Krankheit umzugehen, wenn man weiß, dass die Person wirklich rundum betreut ist.«

Sie hatte unwirsch reagiert: »Person? Carsten, wirklich? Das ist deine Omi! Was erwartest du jetzt von mir? Dass ich sie in ein Heim stecke und dort vergammeln lasse? Ich weiß doch, wie es dort zugeht.«

»Es gibt gute und schlechte Einrichtungen. Das weißt du ebenso gut«, hatte er erwidert. »Zudem ist es nicht nur so, dass du und Papa die Welt erkunden sollten, sondern ich finde es auch gefährlich, dass Oma nachts allein im Haus ist.«

Sie hatte auch da schon gewusst, dass er recht hatte, und trotzdem hatte sie heftig aufbegehrt: »Die Welt erkunden … Was soll so ein Blödsinn? Dein Vater und ich waren schon in vielen Ländern in Europa, und ich habe sogar die USA bereist. Nur weil du dich nicht einfach mit einem bodenständigen Job begnügen kannst und durch irgendwelche mit Tellerminen verseuchten Wüsten gondeln musst, ist das für uns noch lange nichts, wonach wir streben. Außerdem habe ich die richterliche Genehmigung, das Bettgitter nachts hochzumachen. So ist meine Mutter sicher aufgehoben.«

Heute schämte sie sich für das Gespräch und die Art, wie sie mit ihm umgegangen war. Sie hatte gewusst, dass er in Bezug auf Hannelore nur das Beste für Großmutter und Mutter im Auge gehabt hatte, und doch hatte sie ihn angegriffen und auch irgendwie lächerlich gemacht. Auch das wollte sie ihm sagen. Sie wollte sich entschuldigen und ihm verdeutlichen, dass es für ihre demente Mutter wirklich am besten wäre, in einem schönen Pflegeheim zu leben. Immobilien waren heute ein hehres Gut, und er würde für ihr Elternhaus sicher einen hohen Preis erzielen, sodass ihre Mutter ihre letzten Jahre in einer hübschen Einrichtung verbringen konnte. Da war so viel, worüber sie hätten reden müssen. Man schob diese Dinge immer auf, weil man glaubte, noch genügend Zeit zu haben, und dann war man tot.

Carstens Hände hielten ihre umklammert. Sein Kopf lag darauf, und sie hörte ihn trotzdem sehr gut, als er sagte: »Ich liebe dich, Mami. Es tut mir leid, dass wir uns wegen so vieler dummer Dinge gestritten haben … denn du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben und … und … ich … ich will nicht … dass du mich … verlässt.«

Ach, mein Junge, wollte sie sagen, dein Vater und du ihr seid für mich ebenfalls die wichtigsten Menschen auf dieser Erde, und auch ich wollte nie ungerecht sein oder dich verletzen. Ich weiß, dass es zu viel verlangt ist, aber du musst nach ihm schauen, denn ohne mich … All das war in ihrem Kopf gerade so klar, und der Schmerz, es ihm nicht sagen zu können, erdrückte sie beinahe. Sie musste Worte herausbringen. Es war wichtig. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie erst in Ruhe sterben konnte, wenn sie das schaffte – soweit man bei ihrem Krebs, den Medikamenten, der Windel, dem Blasenkatheter, diversen Kanülen und Tropfbeuteln von Ruhe sprechen konnte. Nichts davon hatte etwas mit einem würdevollen Tod gemein. Aus ihrer Sicht war es auch an der Zeit, dass man sie in ein Hospiz brachte. Doch irgendwie war es etwas Persönliches, sie hier in der Klinik zu betreuen: Schwester Sabine. Aber die Wassereinlagerungen sprachen eine deutliche Sprache – auch das musste Carsten wissen und dafür sorgen, dass man sie von hier fortbrachte und sie wirklich in Ruhe sterben konnte.

Himmelherrgott noch mal! Sie musste reden, bevor die nächste geistige Umnachtung kam und sie vielleicht sogar nie mehr daraus auftauchen würde. Drei Dinge in einen Satz zu packen, der kurz genug war, dass sie die Worte formen konnte und es trotzdem noch verständlich sein würde, war eine schier nicht zu bewältigende Aufgabe, und doch musste sie es hinbekommen. Sie schloss die Augen, versuchte, sich die Worte vorzustellen, und gab dann ihr Bestes: »OmaHeimichHospizundPapa …«

Er hob den Kopf und schaute sie an: »Die Oma soll ins Heim?«

Sie senkte langsam bestätigend den Kopf.

»Und du möchtest in ein Hospiz?«

Wieder versuchte sie, den Kopf zu senken, aber es gelang ihr nicht mehr so gut. Sie durfte nicht wegdriften, nicht jetzt. Rasch drückte sie seine Hand zur Bestätigung und sah, dass er sie verstanden hatte.

»Und Papa? Was ist mit Papa? Muss ich ihn vom Hospiz überzeugen?«

Wahrscheinlich nicht, dachte sie, konnte es aber nicht sagen. Und den Kopf zu schütteln ging gar nicht. Also tat sie nichts.

»Mami«, sagte er flehentlich, »ich will es so gut wie möglich machen. Was ist mit Papa?«

Sie sah den Schleier kommen. Er war wie ein Vorhang, der langsam vor ihr Denken glitt und sie von allem abschnitt, was mit Bewusstheit verbunden war. Sie musste es ihm verständlich machen. Nur ein Wort noch. Ein einziges: »Afffpsssssn …« Selbst in ihren Ohren klang es wie ein Seufzen, doch das Letzte, was sie sah, war sein Nicken und eine Mundbewegung, die die Buchstaben wiederholte und ihnen Sinn einhauchte.

»Aufpassen! Ich soll auf Papa …«

Mehr hörte sie nicht, denn der Schleier umschloss sie nun vollkommen, und Dunkelheit umgab sie.