Carsten, 2021
Es war nicht mehr viel, was von einem Menschen übrig blieb. Also nicht nur den Körper betreffend, der nach dem Krematorium zu einem winzigen Häufchen Asche zusammenschmolz, sondern auch Hab und Gut.
Natürlich hatte seine Oma so gut wie nichts mit ins Heim nehmen können. Es gab dort Möbel, und man aß im Speisesaal. Daher hatte man weder Küchenutensilien noch Schrank oder Kommode einpacken müssen. Ihren geliebten Sessel – es war eigentlich der Lesesessel seines Großvaters gewesen – hatte er in ihrem Zimmer platziert, und sie hatte viel Zeit darin verbracht. Ihr restliches Eigentum hatte aus ihrem Schmuckkästchen, ein paar Fotoalben und einer kleinen Zigarrenkiste mit persönlichen Dingen bestanden, in die er vor ihrem Tod niemals hineingeschaut hatte, denn das war ihn wirklich nichts angegangen. Ihre Lieblingsbekleidung hatte er in einen schmalen Kleiderschrank gehängt.
Von ihm war nach dem Tod seiner Mutter und der Depression, die seine neue Lebenspartnerin geworden war, auch nicht mehr viel übrig gewesen. Er hatte seine Sachen reduziert – und er hatte schon vorher nicht viel besessen und einen eher cleanen Lifestyle gehabt. Nun lebte er in einer selbst auferlegten Kargheit, denn es gab ihm das Gefühl, wenigstens etwas kontrollieren zu können. Wobei er auf die harte Tour gelernt hatte, dass selbst dann, wenn man glaubte, endlich einige Fäden in der Hand zu halten, das Schicksal jederzeit auf den Plan treten und diese Sicherheit in Staub verwandeln konnte.
Es war nach Oma Hannelores Tod an ihm, ihre wenigen Habseligkeiten in Windeseile aus dem angemieteten Zimmer zu raffen. Er deutete es als weiteres Zeichen, wie wertlos ein Leben am Ende war. Natürlich verstand er, dass es eine Warteliste gab, auf der andere Kranke und deren Familien bereits auf den Platz warteten, und doch war es ihm gefühllos erschienen, denn es ging um einen Menschen. Nicht nur um eine Abrechnungsnummer. Doch er hatte weder die Kraft, sich mit der Heimleitung anzulegen, noch die Energie, seine Trauer mit aufflammendem Ärger zu überlagern. Er hatte nun nur noch seinen Vater, doch nachdem dieser wirklich nur einen Wimpernschlag nach dem Tod seiner Frau bereits eine neue Partnerin in das Haus geholt hatte, in dem Carstens Eltern so viele Jahrzehnte gemeinsam gelebt hatten, war der Kontakt nicht wirklich intensiv geblieben.
Carsten hatte in den Jahren zwischen dem Tod der beiden wichtigsten Frauen in seinem Leben selbst versucht zu überleben, ohne so recht zu wissen, warum. Vielleicht hatte es an seinem Versprechen gelegen, das er der Mutter auf dem Sterbebett gegeben hatte. Allerdings hätte er seine Oma sowieso nicht einfach abgeschoben, ohne sich ihrer anzunehmen. Er hatte ja sogar jeden Monat ein paar Euro aus eigener Tasche zugezahlt, damit sie sich nicht ein Zimmer mit einer fremden Person teilen musste. Es kam ihm einfach alles vollkommen unlogisch vor: Seine Mutter war von einer alles anpackenden Frau zu einer aufgequollenen, hilflosen Kreatur geworden, während sich seine resolute Oma in ein knochiges, zittriges Mütterchen verwandelt hatte. Der Tod war nicht das Schlimme – zu sterben war scheiße!
Beide Tode waren schrecklich gewesen, und er hatte keine Ahnung, wie er sich jemals wieder selbst finden und seine Kraft zurückgewinnen sollte.
Hannelores gute Kleider packte er in einen großen Sack und gab ihn in die Kleiderkammer im Heim, denn auch dort gab es Frauen, die sich über die Sachen freuten, weil sie selbst nicht so viel Geld übrig hatten, um sich gut anzuziehen. Ihre Fotoalben nahm er mit in seine Wohnung, denn beim losen Durchblättern hatte er bereits festgestellt, dass sich darin jede Menge Familiengeschichte befand. Zu guter Letzt holte er die flache Holzkiste aus dem Schränkchen neben dem Bett. Als seine Oma geistig noch einigermaßen beisammen gewesen war, hatte sie ihn gebeten, ihre Privatsphäre zu respektieren und die Finger von der Kiste zu lassen. Was er nach ihrem Tod damit machen würde, hatte sie ihm freigestellt. Einmal hatten sie zusammen ein paar Lieder gesungen, und im Anschluss hatte sie ihm ganz beseelt gesagt: »Ich war ein glücklicher Mensch. Wirklich, Carsten. Das war ich. Ich war ein glücklicher Mensch, bis ich es eines Tages nicht mehr war.«
Er hatte sie angeschaut und zu verstehen versucht, was sie ihm sagen wollte, doch als er die Tränen in ihren Augenwinkeln gesehen hatte, war er einfach verstummt, hatte ihre Hände in die seinen genommen und so mit ihr dagesessen, bis er gegangen war.
Nun war der Abschied für immer, und er hatte für sich entscheiden müssen, ob er die Dinge in der Kiste durchschauen oder alles einfach in den Müll werfen wollte. Also legte er das Kistchen in den Karton mit den Alben, um dann später Klarheit zu erlangen. Eine Pflegerin war so nett, mit ihm die Kartons auf einen Wagen zu laden, und er verstaute sie auf dem Rücksitz seines Autos. Das alles hatte er allein regeln müssen, denn er war ihr einziges Enkelkind. Niemand war da, der ihm zur Hand gehen konnte, und auch die Beerdigung musste er ohne Unterstützung planen. Schon als Junge hatte er sich Geschwister, Cousins und Cousinen gewünscht, damit nicht alle Aufmerksamkeit auf ihm ruhte. Natürlich war es toll, keine Konkurrenz zu haben, aber es war eben auch furchtbar anstrengend.
Sein Vater kam ihm auf Hannelores Trauerfeier wie ein fremder Gast vor und verhielt sich ihm gegenüber nicht so wie früher – also nicht wie der Mann, der ihn großgezogen hatte. Carsten war durchaus bewusst, dass auch er seinen Teil zu der Verhärtung ihrer einst so liebevollen Beziehung beigetragen hatte, doch das half ihm jetzt nichts. Er war vollkommen allein, und niemandem gelang es, sein Herz zu erreichen. Es war kein bewusster Prozess gewesen, es mit diesem undurchdringbaren Panzer zu umgeben. Dieser Schutzmechanismus hatte sich ganz von selbst ergeben.
Seiner Patentante Marion war es hin und wieder gelungen, zu ihm durchzudringen, doch sie hatte selbst genug Probleme in ihrem Leben, und sich um einen in der Dunkelheit gefangenen Patensohn zu kümmern hatte ihr auf Dauer zu viel abverlangt. Daher hatte sie sich immer spärlicher gemeldet, und er war sowieso im Rückzugsmodus gewesen. Sie kam zur Beerdigung seiner Oma und umarmte ihn, doch das brach weder seine Schutzhülle auf, noch spendete es ihm wirklich Trost. Niemand konnte ihn über das hinwegtrösten, was er verloren hatte, denn es war mehr als seine Familie und seine Arbeit: Er sah einfach keinen Sinn mehr in seinem Leben. Und was sich noch schlimmer anfühlte – falls das überhaupt möglich war –, war die Tatsache, dass er auch den Sinn seines bisherigen Lebens nicht mehr sehen konnte. Alles war begraben unter der Last der Schwärze.
Er trug Hannelores Sachen in seine Wohnung, und weil die Kartons in seinen vier Wänden für ein Ungleichgewicht sorgten, räumte er sie aus – nicht ahnend, dass das seine Welt nicht nur aus dem Gleichgewicht bringen, sondern komplett aus den Angeln heben würde. Er blätterte in den Alben, und Erinnerungen an viele gute Zeiten wurden in ihm wach: Erinnerungen an die Urlaube in Österreich, an die Familienessen, an seinen Opa, der schon über zwanzig Jahre tot und in seinen Gedanken schon vollkommen verblasst war. Seine Mutter als kleines Mädchen oder junge Frau zu sehen schmerzte zwar sehr, half aber auch auf eine sonderbare Weise, denn es war möglich, an sie zu denken, ohne sie zu vermissen. Er hatte sie ja nicht gekannt, als sie noch klein gewesen war, und so war sie ein fröhlich lächelndes blondes Mädchen geblieben.
Als er die Zigarrenkiste in die Hände nahm, in der seine Oma Privates aufbewahrte, fiel es ihm schwer, sie zu öffnen, und er schob sie mehrfach von links nach rechts. Es kam ihm übergriffig vor. So hatte er sich auch schon gefühlt, als er ihren Schmuck durchgeschaut hatte, ohne zu wissen, was er nun damit anfangen sollte: Er hatte ihn nicht wegwerfen können, hatte aber auch niemanden gehabt, dem er die Sachen schenken konnte, und ihn zu verkaufen war erst recht nicht infrage gekommen. Also war das Schmuckkästchen in seinem Regal neben dem Buch über Willy Brandt gelandet.
Als er den Deckel der Kiste vorsichtig anhob, kam er sich albern vor – so, als erwartete er ein wildes Tier, das ihn beißen würde. Es thronten einige Briefe obenauf, die er nach kurzem Überfliegen als zu persönlich einordnete, denn sie waren von seiner Oma an seinen Opa geschrieben. Also legte er sie beiseite und nahm unangenehm berührt einen Stapel heraus, der amtliche Papiere zu beinhalten schien. Erst verstand er nicht, was er da sah, denn es handelte sich um eine offizielle Fahrerlaubnis, die jemanden betraf, der seinem Großvater in jungen Jahren – er hatte ja gerade erst die Fotoalben durchgeblättert – glich, aber einen anderen Namen trug. Dann fand er weitere Papiere, die in griechischen Schriftzeichen verfasst waren. Der Google-Übersetzer hatte jedoch kein Problem, mithilfe der Kamerafunktion auch so etwas zu übersetzen.
So erfuhr er, dass sein Großvater höchstwahrscheinlich nicht als Jannis Papadopoulos geboren worden war, sondern als Ioannis Miserakis. Der Vorname wies ja bei genauerem Hinsehen noch eine gewisse Ähnlichkeit auf, aber die beiden Nachnamen hatten nichts miteinander gemein. Der Führerschein war von der deutschen Wehrmacht in Chania im Frühjahr 1944 ausgestellt worden. Carsten musste den Ort erst mal googeln und stellte rasch fest, dass er auf der Insel Kreta lag. Es verwirrte ihn, denn sein Großvater hatte die Insel nie erwähnt. Gut, er hatte auch seine Heimat nie erwähnt, und seine Oma hatte ihn gebeten, den Großvater auch nicht darauf anzusprechen, denn es waren wohl schlimme Dinge dort vorgefallen. Auch seiner Mutter war es wichtig gewesen, keine unnötigen Fragen zu stellen. Carsten hatte es akzeptiert, denn es war seine Familie, und er hatte damals – und bis zum Tod seiner Mutter – geglaubt, diese gut zu kennen. Allein das Verhalten seines Vaters hatte ihn eines Besseren belehrt, und nun erwachte unter all den Trümmern seiner Traurigkeit seine journalistische Spürnase: Da steckte doch mehr dahinter!
Nachdem seine Neugier geweckt war, wollte er es herausfinden. Es war heutzutage eine Leichtigkeit, die ganz normalen Suchmaschinen zu nutzen. Natürlich musste man zur Verifizierung weit tiefer graben, doch er hatte ja nicht vor, einen preisverdächtigen Artikel zu schreiben, sondern wollte lediglich wissen, was es mit dem anderen Namen auf sich hatte.
So oft verpasste man den Augenblick – er dauerte ja auch nur den Schlag eines Augenlids lang –, in dem man ein Unglück noch aufhalten könnte. Aber so geschahen Dinge nun mal, und wahrscheinlich war es auch genau das, was die größten Skandale oder Aufklärungen hervorgebracht hatte: ein winziger Hinweis.
Er saß im Anschluss Stunden in vollkommener Erstarrung auf dem Boden. Seine innere Dunkelheit legte sich auch von außen wie ein Mantel um ihn – doch nicht etwa schützend, sondern erstickend. Er wusste nicht mehr, wie man atmet, denn die damit einhergehende Beklemmung lähmte ihn. Er war sich nicht sicher, ob es Tag oder Nacht war, denn die Zeit verschwamm. War er deshalb ständig unterwegs, um die Welt über furchtbare Grausamkeiten zu informieren? War das nur ein Alibi für etwas ganz anderes – für etwas abgrundtief Hässliches und Grausames? Seine Mutter hatte ihn immer wieder gefragt, warum er keinen Beruf ausübte, der etwas Schönes und Gutes mit sich brachte, und er hatte immer argumentiert, dass er auf seine Art genauso helfen wollte, wie sie es als Krankenschwester tat. Das hatte sie nie verstehen können, und jetzt verstand er es auch nicht mehr. Hatte sie die ganze Zeit gewusst, welches Erbe ihre Familie trug, und hatte ihn deshalb auf einen anderen Weg bringen wollen? Hatten sie ihn alle immer nur belogen, und ihre nette Familie war ein Moloch aus schrecklicher Verlogenheit?
Er sollte einfach nur tot sein und all dem damit ein Ende setzen: die Gene vernichten und vom Erdboden tilgen.
Erinnerungen an die Okkupation in Griechenland (eine historische Zusammenfassung in alphabetischer Reihenfolge)
Ioannis Miserakis: Kollaborateur der Besatzungsbehörden, aus Anogia, Irakleio. Im Juni 1942 in den Verband des GFP-Feldwebels Fritz Schubert rekrutiert, welcher sich zu einem bewaffneten Kommando zur Verfolgung von Widerstandskämpfern entwickelte. Miserakis war einer der Hauptvollstrecker des Kommandos, verantwortlich für Dutzende Tode von Widerstandskämpfern und Zivilisten auf Kreta und in Makedonien. Nach der Befreiung verschwunden, wurde Ioannis Miserakis 1948 in Abwesenheit von dem Sondergericht für Kollaborateure in Chania zum Tode verurteilt.