50. Kapitel

Katharina, Gegenwart

Sie hatte die Aufregung bereits den ganzen Tag so intensiv gespürt, dass sie sich vollkommen kopflos vorgekommen war. Dauernd hatte sie irgendwo im Haus gestanden und nicht mehr gewusst, warum sie die Treppe hinab- oder aus dem Raum hinausgegangen war.

Nimm das Leben etwas leichter, Kathi.

Die Stimme ihrer Yaya geisterte ihr dauernd durch den Kopf, und sie spürte, wie recht die alte Frau damit hatte. Der Zeiger der Uhr rückte unaufhaltsam weiter und damit dem Treffen mit Carsten entgegen. Er war so … attraktiv und so … Sie suchte nach den richtigen Worten, denn er hatte sie zum Lachen gebracht, hatte interessiert geklungen, und gleichzeitig war er auch jemand, dem das Leben eine Geschichte ins Gesicht geschrieben hatte. Das hatte sie gesehen. Es war keine glatt gebügelte Haut, und auch in seinen Augen war etwas gewesen, dass ihr gezeigt hatte, dass er in seinem Leben bereits Schmerz gespürt hatte. Ein Mann mit interessanten Facetten, der ihr ein Kribbeln im Bauch verursachte. Sie blickte sich erneut um und schüttelte leicht den Kopf – was hatte sie doch gleich im Bad gewollt? Sie schaute an sich hinunter, und nicht zum ersten Mal am heutigen Tag hatte sie das Bedürfnis, sich zu pflegen und sich einfach rundum zurechtzumachen. Einerseits für ihn, aber andererseits auch für sich selbst, denn sie wollte sich schön fühlen. Nicht erneut in Leggings und Shirt in Erscheinung zu treten und trotzdem nicht zu aufgebrezelt zu wirken stellte sie vor eine beinahe unlösbare Aufgabe. Sie überlegte, ob sie eine Freundin anrufen sollte, doch die Frauen, mit denen sie seit der Scheidung zu tun hatte, waren eher Bekannte – Mütter aus der Schule –, und sie unterhielten sich zwar immer nett, aber es war eben auch nicht mehr.

Ihre beste Freundin Tina lebte auf der anderen Seite des Erdballs, und sie hörten manchmal tagelang nichts voneinander und dann wieder mehrfach täglich. Der Zeitunterschied machte es oft schwer, denn die Gute hatte sich Neuseeland ausgesucht. Sie hatten sich während des Studiums in London kennengelernt, und obwohl ihrer beider Leben nicht unterschiedlicher hätten sein können, waren sie eben doch Vertraute. Sie hatte seit dem Tod ihres Vaters und der Geschichte mit ihrem Onkel nicht so oft geschrieben, doch Tina hatte immer wieder gefragt, wie es ihr gehe, und Katharina hatte ehrlich geantwortet, auch wenn sie befürchtet hatte, dass sie Tina mit ihren Ausführungen irgendwann auf die Nerven gehen würde. Doch die Freundin war geblieben. Sie war Wissenschaftlerin und erforschte das Leben der Maui-Delfine, daher war sie oft tagelang auf See oder sonst wo unterwegs, und Katharina blieb zurückhaltend, um die Freundin bei ihrem Tun nicht mit den unsäglichen Worten und Taten von Lambros zu belästigen oder zum gefühlt zehntausendsten Mal über die Tragödie ihrer Familie zu jammern. Also fiel auch das nun gerade flach.

Sie musste sich zusammenreißen und wie eine erwachsene Frau benehmen. Sollte sie vielleicht googeln, was man zu einem Date – o mein Gott, sie hatte ein Date! – anzog, bei dem man auf einer Ruine herumkletterte, um im Anschluss gemeinsam zu essen? Sie hatte Wein kalt gestellt, auch wenn Carsten gesagt hatte, dass er kaum Alkohol trank. Sie hatte Säfte und Wasser im Kühlschrank, den Teig für Magiri vorbereitet und schon unterschiedliche Käsesorten gerieben. Als Vorspeise gab es einen Salat und zum Dessert die Lieblingssüßspeise ihrer Söhne aus Sahnejoghurt, gezuckerter Kondensmilch, Keksen und Schokoraspeln. Das war in Windeseile zubereitet und sehr lecker. Die Magiri musste sie frisch machen, doch das Gericht war einfach köstlich. Er hatte sicher in keiner Taverne bereits eines bekommen. Hera hatte das traditionelle Gericht früher oft für sie, ihren Bruder und die Cousins gemacht und dann für Markos und Emmanouil. Wer es einmal kostete, liebte es für immer. Das Besondere war die Kombination aus kross gebratenen und gekochten Nudeln und dem Käse.

Sie hatte den Tisch auf der Glasterrasse bereits vorbereitet und Geschirr und Gläser auf einem Tablett, das auf der Küchenanrichte stand, hergerichtet. Alles war bereit für den Gast – nur sie nicht.

Sie starrte sich im Spiegel an. Früher war sie zufrieden mit sich gewesen. Sie hatte die klaren Züge ihrer Mutter geerbt und die kräftige Haarstruktur ihres Vaters. Trotzdem stand sie nun hier und starrte sich verunsichert an. Kleid und Turnschuhe? Shorts? Sie hatte Lust, Zeit mit ihm zu verbringen, und sie wollte, dass er sie attraktiv fand. Sie wollte spüren, wie seine Lippen sich anfühlten, wie er schmeckte – und seine Hände auf ihrem Po.

»Stopp!«

Ihr lauter Ausruf erschreckte sie, doch er wirkte sofort und bremste ihre Gedanken ab. Sie war dabei, sich ein Outfit zu überlegen und nicht etwas zu planen, was eigentlich keinerlei Kleidung bedurfte. Wann war sie nur zu einer so verwegenen Person geworden? »Du bist eine Frau im besten Alter und solltest dich endlich mal amüsieren«, sprach sie sich selbst Mut zu. Das mit den laut geführten Selbstgesprächen musste sie sich unbedingt wieder abgewöhnen, sowie sie nach Hause zurückgekehrt war, denn das war schon ein wenig abgedreht und würde die Jungs irritieren.

Sie löste das einfache Haargummi von dem dicken geflochtenen Zopf und begann, das Haar mit festen Strichen zu kämmen. Es fiel ihr in dunklen Wellen bis fast zur Rückenmitte, und sie trug es nur selten offen, doch heute würde sie genau das tun. Sie cremte ihr Gesicht ein, trug ein wenig Concealer auf, tupfte eine Spur Rouge auf die Wangenknochen, tuschte sich die Wimpern und strichelte etwas hellen Kajal auf das untere Augenlid. Die Lippen ließ sie natürlich und tupfte nur etwas Gloss darauf. Dieser Teil ihres Körpers war schon mal in Ordnung. Jetzt musste sie sich für etwas zum Anziehen entscheiden. Also irgendwie unterschwellig sexy, aber ohne sexy zu sein. Herrgott, sich zu verabreden war eine echte Herausforderung. Warum hatte sie den Mann nur eingeladen? Allerdings … ging es ihm vielleicht ähnlich. Also nicht, dass er vor dem Kleiderschrank stand und überlegte, wie er sexy und zugleich natürlich wirken konnte, aber vielleicht war auch er verunsichert über diese nun etwas festere Verabredung.

Sie duschte, sprühte ihr Lieblingsparfüm auf, lockerte das Haar, indem sie es mit beiden Händen anhob und wieder auf den Rücken fallen ließ. Jede Bewegung kam einem sanften Streicheln gleich, und sie schloss die Augen, um sich diesem Moment vollkommen hinzugeben. Da war eine Mischung aus Vorfreude und Nervosität in ihr, die sie erschauern ließ und ihr eine Gänsehaut bescherte.

Musik, dachte sie und sah sich vor ihrem inneren Auge in wiegenden Bewegungen. Dann plötzlich schob sich ein Bild dazwischen, das sie verwirrte: Sie stand am Bug eines Bootes – weit draußen auf dem Ozean –, hatte die Arme ausgebreitet, und ihr Körper schaukelte mit den Wellen. Das Bild verschwand so schnell, wie es gekommen war. Sie öffnete erstaunt die Augen. War das einfach eine Fantasie, die sie sich aufgrund der Erzählungen ihrer Yaya nun zusammenreimte? Weil es an ihr war, das Ritual zu vollziehen, damit es in der Familie lebendig blieb? Allerdings würde sie gewiss kein Kind mehr bekommen, und damit war sie aktuell die letzte weibliche Nachfahrin von jener Litsa, die dem Massaker in der Melidoni-Höhle entronnen war. Die Szene im Boot glich einer Zukunftsvision, und im Zusammenhang mit dem, was sie gestern mit Carsten erlebt hatte – jenem raschen Durchleben von Erinnerungen an eine gemeinsame Vergangenheit –, brachte diese sie komplett durcheinander. Sie hatte ihrer Großmutter nichts von dem erzählt, was sie bei den zufälligen Berührungen erlebt hatte, und wie nah sie bereits daran gewesen war, den wildfremden Mann zu küssen. Sonderbar. Wo sie doch über alles andere offenherzig berichtet hatte. Warum hatte sie Hera das vorenthalten? Vielleicht weil es so … verrückt klang? Am Ende zwar auch nicht weniger absurd, als einen beschriebenen Stein ins Wasser zu werfen und zu erwarten, dass dieses Ritual das Leben veränderte. Andererseits war eine über neunzigjährige Frau ihre Vertraute – da war es wahrscheinlich nicht verwunderlich, dass sie nicht über jedes Detail der durchaus körperlich und sexuell geprägten Anziehungskraft zwischen ihr und diesem Mann berichtete.

Sie hob das Handtuch auf, das sie achtlos von ihrem Körper hatte gleiten lassen, hängte es auf und ließ ihren Blick durch das schicke Badezimmer gleiten – alles war ordentlich und jederzeit bereit für einen Gast. Sie ging ins Schlafzimmer und spürte den Bildern nach. Würde sich etwas in ihrem Leben so sehr verändern, dass sie tatsächlich einen Wunsch an das tiefe Meer richten wollte? Natürlich sehnte auch sie sich nach bestimmten Dingen, ohne diese genau beschreiben zu können, und doch waren seit gestern so viele Facetten dazugekommen. Es war unglaublich, was sich innerhalb weniger Stunden verändern konnte und wie machtvoll das Schicksal war. Was wäre gewesen, wenn sie eine Stunde früher oder später in den Laden gegangen wäre? Dann hätten sie einander nicht getroffen. Oder vielleicht doch? Auf diese Fragen gab es keine Antwort, denn wenn es wirklich eine schicksalhafte Fügung war, dann wäre auch Carsten etwas früher oder etwas später in Meronas angekommen. Sehnte sie sich so sehr nach etwas Besonderem – einer außergewöhnlichen Beziehung wie die ihrer Eltern –, dass sie bereit war, sich jede Menge Zeug einzureden und es zuzulassen, dass ihre Sinne ihr Streiche spielten? Die Briefe ihres Vaters, die sie gestern Abend noch gelesen hatte, waren so voller Liebe gewesen, aber auch erfüllt von einer unfassbaren Traurigkeit. Zeigte sich Liebe auf diese Weise? Lebten Glück und Schmerz Tür an Tür? War es unweigerlich so, dass eine erfüllte Partnerschaft mit dem Seelenverwandten dazu führte, dass die überlebende Person nicht mehr dazu in der Lage war, ohne die andere zu existieren?

Im Schlafzimmer war es angenehm kühl, und ihr wärmeverwöhnter Körper begann auf die Temperatur zu reagieren: Gänsehaut kroch ihr über Arme und Beine. Das brachte sie zurück zu ihrem schier unmöglichen Vorhaben, die richtige Bekleidung aus der überschaubaren Menge in ihrem Koffer herauszufiltern. Sie bückte sich und hob die unterschiedlichen legeren Stücke hoch, schichtete sie um und überlegte, ob sie nicht einfach das Badetuch tragen sollte – mit Turnschuhen. Bei dieser Vorstellung musste sie hysterisch kichern. Das brachte sie auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie musste sich wohlfühlen in dem, was sie trug, denn dann war sie am ehesten sie selbst. Ihr Blick fiel auf einen hellen Stofffetzen: ein Jumpsuit. Aus dem eben noch hysterischen Laut wurde nun ein erfreutes Juchzen, denn das Teil stand ihr ausgesprochen gut. Sie schnappte sich frische Unterwäsche: ein Set aus leicht glänzendem Slip mit Spitzenborte und passendem BH in Schwarz und Creme. Dann schlüpfte sie in die Kombination aus Hose und Oberteil. Der Gummizug in der Taille sorgte für eine Top-Passform, und sie drehte sich glücklich vor dem Spiegel hin und her.

Was für ein herrlicher Zufall, dass ausgerechnet dieses Lieblingsteil mehr oder minder zufällig im Koffer gelandet war.

Sie ordnete die restlichen Sachen wieder ein, schloss den Koffer, strich noch einmal über das Bett, um auch die letzten Falten aus dem Laken zu glätten, und hob dann lauschend den Kopf. War es wirklich schon so spät? Hatte sie mehr als eine Stunde im Bad vertrödelt? Das Motorgeräusch endete, und sie hörte eine Autotür: Das konnte nur er sein – Carsten! Er war tatsächlich gekommen. Ihr Herz begann, wild zu klopfen, und sie spürte, wie ihr die freudig erregte Röte ins Gesicht stieg, während sie barfuß die Treppe hinabging, um ihn willkommen zu heißen.