Maria, Gegenwart
Sie hatte nicht aufhören können, über ihr Gespräch mit Katharina nachzudenken. Sie hatte nicht nur als Ehefrau, sondern auch als Mutter und Tante versagt. Es war nicht alles nur Giorgos’ Schuld gewesen. Sie hatte einfach kapituliert, als es zu herausfordernd geworden war. Alles in ihr hatte sich auf den Kampfmodus eingestellt, und selbst wenn Giorgos sich bemüht hatte – was er, wenn sie ehrlich zu sich war, mehrfach getan hatte –, hatte sie dichtgemacht. Und sie hatte sich dann irgendwie eingeredet, dass es nach der Trennung in Ordnung sei, auf Distanz zu gehen.
In der ersten Nacht nach dem Telefonat mit Katharina hatte sie gar nicht schlafen können, denn der Gedanke, dass es an ihr gewesen wäre, Giorgos zu retten und aufzuhalten und damit die gesamte Familientragödie zu verhindern, ließ sie nicht los. Auch danach hatte sie kaum Ruhe gefunden, und selbst Telefonate mit Athanasios und Panagiotis hatten sie nicht ablenken können. Am liebsten wäre sie einfach mit Katharina dort oben zusammengesessen und hätte … ja … und was? Giorgos’ Geist nachgespürt? Versucht, Frieden mit ihm und vor allem mit sich selbst zu schließen? War das nicht vollkommen egoistisch? Schon ihr unvermittelter Anruf bei Katharina war vor allem aus Eigennutz entstanden. Vielleicht hatte sie der jungen Frau etwas zurückgeben können, doch sie hatte ganz klar mehr davon profitiert.
Heute war sie beinahe den ganzen Tag in ihrer Wohnung umhergetigert und hatte ihre Unruhe dennoch nicht in den Griff bekommen. Dann endlich hatte sie den Entschluss gefasst, einfach hinaufzufahren und Katharina zu besuchen. Was konnte schon passieren – mehr als dass ihre Nichte sie abwies, war nicht möglich, und dann hatte sie es zumindest versucht. Ihr war vollkommen bewusst, dass das nicht ganz fair war, und gleichzeitig war sie zu alt, um zu viel Zeit zu verplempern. Ihr Hass auf Giorgos war vergangen – nicht von heute auf morgen, sondern so, als würde ein Song verklingen, und am Ende war da nur noch der Hauch einer Melodie. So, als hätte der Wind die Tonfolge davongetragen. Niemand würde das verstehen können, denn alle sahen in ihm nur noch den geldgierigen Mörder, der sich mit jungen Frauen geschmückt hatte. Selbst seine Söhne waren noch weit davon entfernt, ihrem Vater vergeben zu können.
Die Strecke war bis kurz vor Meronas gut zu befahren, und obwohl sie sonst nicht gern im Dunkeln unterwegs war, machte es ihr heute nicht viel aus, denn sie hatte ja keinen Termin und musste sich daher nicht beeilen. Sie konnte gemütlich eine Kurve nach der anderen nehmen und sich überlegen, was sie Katharina sagen würde, denn natürlich musste sie den unangekündigten Überfall erklären. Nun gut, sie hatte ja zumindest erwähnt, dass sie sich noch einmal melden würde – vielleicht war es dann nicht ganz so übergriffig.
Je näher sie dem Haus kam, umso unangenehmer fühlte es sich an, unangemeldet aufzutauchen. Sie musste ja nicht lange bleiben – nur auf ein Glas. Sie war vor vielen Jahren mit Panagiotis hier oben vorbeigekommen, und er hatte ihr den Weg zum Haus gezeigt. Sie hatte es nie vergessen, und als sie nun von der Hauptstraße auf den Seitenweg in die Berge abbog, dachte sie erneut daran, wie widersprüchlich es doch gewesen war, mit einem Porsche Cayenne und langbeiniger Modelbegleitung durch die Restaurants und angesagten In-Locations zu flanieren und gleichzeitig hier oben in vollkommener Abgeschiedenheit ein Haus zu bauen. Da hatten zwei Seelen in seiner Brust gewohnt, und sie hatte es eigentlich immer schon gewusst, dass Giorgos so war. Die Zeit war keiner Beziehung Freund, und Ausnahmen wie die von Olympia und Andreas bestätigten diese Regel nur.
Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es unter normalen Bedingungen eigentlich schon zu spät für einen Besuch war – doch sie waren eine Familie. Auch wenn sie das in den vergangenen Jahrzehnten sträflich vernachlässigt hatte.
Es verschlug ihr beinahe den Atem, als sie ein steiles Stück Berg heraufgefahren war, dabei mehrere Steilkurven bewältigt hatte und nun einen Blick auf das Haus werfen konnte. Es stand an den Hang geschmiegt, und durch das Licht im Innenraum und eine sanfte Beleuchtung auf der beinahe sagenumwobenen Glasterrasse wirkte es wie aus einer anderen Welt. Sie drosselte die Geschwindigkeit noch ein wenig und fuhr ganz langsam auf das zauberhafte Anwesen zu.
Dann sah sie Bewegung und hielt kurz an, denn ganz offensichtlich war ihre Nichte nicht allein: Sie konnte die Umrisse zweier Personen erkennen. Wen hatte sie wohl hierher eingeladen? Bei ihrem Telefonat hatte sie nicht den Eindruck vermittelt, jemanden im Haus ihres Onkels empfangen zu wollen. Obwohl sie sich für das in ihr aufkommende Gefühl wirklich schämte, so musste sie sich doch eingestehen, dass sie neugierig war – denn der zweite Umriss wirkte wie der eines Mannes. Sollte sich Katharina doch anders entschieden haben, und Lambros war gekommen? Nein – das passte so gar nicht zum Tenor ihres Gesprächs. Sie stieg aus, schalt sich selbst mehrfach eine alte und übergriffige Närrin, aber irgendwie konnte sie nicht anders.
Langsam ging sie auf das Haus zu, in der Hoffnung, nicht gleich im Licht Tausender Scheinwerfer zu stehen, sondern unbeobachtet zu bleiben, während sie ganz ungeniert beobachten wollte. Es war ein Gefühl in ihr, das sie bereits lange verloren geglaubt hatte, denn je näher sie dem Haus kam, umso verbundener fühlte sie sich mit ihrem toten Ex-Mann. Sie hatten so viele gute Jahre gehabt. So viele Augenblicke der tiefen Zugehörigkeit hatten ihren gemeinsamen Weg flankiert, und die Geburt ihrer Söhne war für sie beide etwas gewesen, was ein Band zwischen ihnen gesponnen hatte, das unzerstörbar erschien. Und doch hatte die Zeit es mürbe gemacht, und dann war es zerrissen. Maria hatte sich so viele Jahre in erbitterter Ablehnung befunden, dass sie das alles vergessen hatte. Nun, hier vor seinem Haus, das sie bei allen Erzählungen als Angeberhütte abgetan hatte, erkannte sie, dass der Platz, an dem es stand, von einem ganz besonderen Zauber umgeben war. Egal, was es gekostet hatte und wie viele Handwerker es zum Fluchen gebracht hatte, es war so – sie suchte nach den richtigen Begriffen und fand sie – durchscheinend, offen, bezaubernd und gradlinig. Es war alles davon, und man konnte es eben nicht nur mit dem Adjektiv angeberisch abtun.
Sie glaubte, leise Musik zu hören und das Murmeln zweier Stimmen. So, wie es aussah, war zumindest geplant, dass der Gast heute Abend wieder aufbrechen würde, denn das Tor, das das Grundstück vor allzu Neugierigen schützen sollte, war noch offen, und sicher hätte Katharina es geschlossen, wäre der Besucher ein Übernachtungsgast.
Meine Güte, sie machte sich wirklich Gedanken um Dinge, die sie überhaupt nichts angingen. Ihre Söhne wollten das Haus loswerden, hatten der Cousine aus irgendwelchen an den Haaren herbeigezogenen Gründen aufgeladen, sich darum zu kümmern, und was diese dabei trieb, war ihr überlassen. Sie könnte auch jeden Abend eine wilde Party dort schmeißen, solange es den Wert der Immobilie nicht minderte. Also, was kümmerte es sie als Tante?
Doch etwas sagte ihr, dass das, was dort oben gerade geschah, nichts Alltägliches war. Da war einfach ein Bauchgefühl – mehr nicht. Die Abendluft war mild, und da das Haus etwas entfernt von der nächsten Ortschaft lag, war die Lichtverschmutzung gering, was dafür sorgte, dass sie sich den Sternen irgendwie näher fühlte. Wie es Giorgos wohl ergangen war, wenn er sich hierher zurückgezogen hatte. Hatte er auf der gläsernen Terrasse gesessen, den Himmel betrachtet und sich gefragt, was wann aus dem Ruder gelaufen war und wie er es hätte aufhalten können? Sie hatte sich nicht in einen bösen Menschen verliebt, auch wenn sie vielleicht noch zu jung und unerfahren gewesen war, um so etwas erkennen zu können. In jedem Menschen war so ein Kern, der die Saatkörner des Verabscheuenswerten beherbergte, und es gab gewiss in jedem Leben genügend Dünger, um diese zu nähren und wachsen zu lassen. Sie hatte es ja bei sich selbst bemerkt, wie es war, wenn man sich in etwas hineinsteigerte – dann gab es kein Licht mehr in all dem Dunkel, und die Erinnerungen wurden durch diesen Groll eingetrübt und negativ belegt. Man konnte die Uhr nicht zurückdrehen und in Ruhe auf die Situation und sich selbst darin schauen, und währenddessen war man zu sehr darin gefangen, um einen objektiven Blick zu haben.
Olympia hatte so oft versucht, mit ihr zu reden, bevor Maria endgültig gegangen war. Sie hatte ihr die guten Zeiten und Seiten der Beziehung zwischen Giorgos und ihr und dem vierblättrigen Kleeblatt Giorgos, Maria, Andreas und Olympia aufzeigen wollen. Aber Maria war nicht mehr bereit gewesen, etwas anderes als ihren eigenen Blickwinkel wahrzunehmen. So war das, wenn man sich in etwas verrannte: Man suchte und fand nur noch Belege für die eigene Auffassung, und alles andere erschien konstruiert.
Sie war nun so nah am Haus, dass sie erkennen konnte, dass ein SUV dort parkte und daneben ein weißer Suzuki, der so typisch war, dass er »Leihwagen« zu brüllen schien. Das war ja interessant, denn wer fuhr schon mit einem Mietfahrzeug umher. War der Besuch vielleicht ein Ausländer – jemand, den Katharina während des Studiums kennengelernt hatte? Doch warum sollte sie sich ausgerechnet in einem fremden Haus mit jemandem treffen und nicht in ihrem eigenen hübschen Zuhause unten am Meer. Das war sehr spannend, und sie kam sich ein bisschen wie Miss Marple vor, auch wenn es hier beileibe nicht um ein Verbrechen ging. Das einzige Vergehen war ihre eigene Neugier, die sie dazu trieb, hier im Dunkeln umherzuschleichen und ihre Nichte auszuspionieren. Allerdings fühlte es sich nicht so negativ an. Sie wurde eher von etwas angetrieben, das ihr zurief, genau hinzuschauen.
Die beiden Menschen kamen einander in dem zart flackernden Licht näher, und ihre Schatten wurden zu einem. Maria kam sich wie eine Stalkerin vor und schämte sich, dass sie Katharina so nachstellte, doch dann sah sie, dass es nicht das war, was sie im ersten Augenblick geglaubt hatte, denn die beiden Menschen tanzten miteinander – lösten sich, verschmolzen wieder, drehten sich geschmeidig. Es war selbst auf die Entfernung und im Dunkel der Nacht zu sehen, dass es ein vollkommen harmonischer Einklang war, in dem die schwingenden Bewegungen abliefen – als wären sie ein eingespieltes Tanzpaar. Es sah wunderschön aus, wie ein Schattenspiel, und sie konnte ihren Blick nicht abwenden. Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass es ungehörig war, hier zu stehen und die beiden zu beobachten. Sie war eine alte Närrin, die sich aus tiefstem Herzen wünschte, es wäre Giorgos und ihr möglich gewesen, ihre Differenzen zu überbrücken und hier oben Glück und Frieden zu finden.
Sie schlang ihre Arme um sich, als müsste sie sich zusammenhalten. Es war vorbei – sie konnte nichts mehr mit ihm klären und auch den Schaden, den sie alle erlitten hatten, nicht mehr rückgängig machen. Vielleicht war es sogar teilweise ihre Schuld, dass alles so gekommen war. Nein! Sie hatte ihn nicht zu einem Mörder gemacht. Es hatte nichts mit ihr zu tun. Gewaltsam zwang sie den Gedanken nieder und richtete ihre Aufmerksamkeit auf das tanzende Paar, um sich wieder zu beruhigen und die Harmonie der beiden auf sich wirken zu lassen. Es war ganz bestimmt jemand, den Katharina von früher kannte, denn so tanzte man nicht, wenn man es nicht schon einmal geübt oder getan hatte.
Dann wandte sie sich ab, bewahrte das Bild und das damit verbundene schöne Gefühl in sich und ging langsam zu ihrem Auto zurück. Dort saß sie noch lange und starrte in die Sterne, bevor sie sich auf den Heimweg machte. Sie spürte, dass sie Giorgos vergeben hatte, und das würde vieles für sie leichter machen. Vielleicht würde sie Katharina von ihrem Versuch, sie zu besuchen, berichten und auch von dem, was sie empfunden hatte, während sie dort gestanden hatte. Vielleicht …