55. Kapitel

Hera, Gegenwart

Sie wollte sich keine Gedanken um Katharina machen, und doch konnte sie nicht aus ihrer Haut – ihre Enkelin lag ihr zu sehr am Herzen. Kathi hatte Glück verdient, aber wer hatte das nicht? Sie wünschte es sich für all ihre Enkelkinder, aber tatsächlich am meisten für die aktuell letzte Frau dieser Linie. Das war ihr wieder besonders bewusst geworden, als sie ihr von dem Ritual erzählt hatte. Natürlich war es möglich, dass Athanasios, Panagiotis oder Elonidas Töchter bekamen – aber schon bei ihr hatte sich die Blutlinie verändert, denn es war nicht ihre Tochter, an die sie das Geheimnis weitergegeben hatte. Natürlich hatte Hera als moderne Frau auch ihre Zweifel an der Wirksamkeit der Zeremonie. Denn obwohl sie mit schnellen Schritten auf die hundert zuging, hatte sie doch jede Menge Fortschritt und Entwicklung miterlebt – vor allem in den späten Sechziger- und Siebzigerjahren in Deutschland. Das Wirtschaftswachstum war rasant gewesen und damit auch die technischen Veränderungen. Sie hatte sich zwar immer wieder darauf besonnen, wo sie herkam, aber die immensen Erleichterungen im Alltag, die bestimmte Geräte mit sich brachten – vor allem in der Küche des Restaurants – waren ihr trotzdem immer willkommen gewesen.

Das Familiengeheimnis an ihre Enkelin weiterzugeben fühlte sich dessen ungeachtet auf eine gewisse Art richtiger an, als es, wie Katharina es würde tun müssen, einer Nichte zu erzählen. Zumal es diese eben auch für Katharina noch gar nicht gab. Sie war sich nicht sicher, ob sich Venetsana – Panagiotis’ Lebensgefährtin, die eine erfolgreiche Zahnärztin war – überhaupt als Mutter sah, denn sie war kapriziös und auf ihre Art sehr freiheitsliebend. Und Athanasios und Eva? Der kleine Giorgos war eine Freude, und sie fühlte sich in der Rolle der Urgroßmutter wirklich gut, doch Eva war sehr damit beschäftigt, ihr Äußeres zu optimieren. Ob sie sich noch einmal den Strapazen einer Schwangerschaft und Geburt unterwerfen würde, stellte Hera stark infrage. In Elonidas’ Leben gab es niemand Offiziellen, und sie fragte sich mittlerweile, ob der Junge vielleicht gar keine Partnerin in seinem Leben haben wollte. Obwohl er sich als Manager des Unternehmens wirklich gut machte, hatte sie immer das Gefühl gehabt, er sei besonders empfindsam, und sie hatte schon hie und da den Gedanken gehegt, ob er vielleicht homosexuell war und sich nicht traute, es zu sagen. Es war schwer, so etwas auszusprechen, ohne wirkliche Anhaltspunkte zu haben. Daher schwieg sie dazu.

Sie war müde. Wirklich müde. Und seitdem sie offen mit Katharina über alles geredet hatte, war es, als wäre eine Art Last von ihr abgefallen, die sie an dieses irdische Leben zu ketten schien. Sie war in gewisser Weise lebensmüde. Eine Witwe, die ihre Kinder überlebt hatte – wer wäre da nicht der Existenz überdrüssig? Sie wollte es Kathi sagen, ohne diese zu ängstigen, aber bei all dem, was die junge Frau in den vergangenen Jahren hatte mitmachen müssen, war die Zeit noch nicht gekommen, so offen mit ihr zu sprechen. Andererseits musste ihren Enkelkindern klar sein, dass die Tage ihrer Yaya gezählt waren. Sie wünschte sich immer öfter, gehen zu dürfen, und richtete diese Bitte auch manchmal an den Gott, mit dem sie doch so sehr haderte. Aber er bequemte sich nicht, sie zu erhören und zu holen, dabei hoffte sie so sehr, ihre Lieben dort wiederzutreffen und irgendwie eine zweite Chance zu bekommen. Sie hatte vieles in ihrem Leben gelernt, und je öfter sie bestimmte Situationen durchlebt hatte, umso eher war sie damit zurechtgekommen. Doch zu verzeihen war nach wie vor eine harte bis beinahe unmögliche Aufgabe für sie, und das schien sich auch in ihrer Familie so fortzuführen. Vielleicht konnten Menschen auch gar nicht wirklich verzeihen und taten nur so generös, während der nagende Zorn sie weiter von innen heraus auffraß. Vielleicht gab es aber auch noch eine Aufgabe für sie, und sie durfte deshalb noch nicht sterben. Sie war auf der Insel geboren, von mutigen und liebevollen Menschen aufgezogen worden, aber dennoch hatte alles, was Kreta umgab, seine Prägung in ihr hinterlassen. Es gab bestimmte Dinge, an die glaubte man eben und war von ihnen überzeugt. Und auch wenn viele aus der jüngeren Generation das alles als Aberglaube abtaten, so war doch im Kern immer ein Funken Wahrheit enthalten. Eine alte, gebrochene Frau durfte nicht sterben, musste aber dabei zusehen, wie sie immer mehr verlor – dahinter konnte sich nur ein tieferer Sinn verbergen, und daran musste sie glauben, um nicht vollkommen zu verzweifeln.

Ihre Enkelin lag ihr besonders am Herzen, und was diese gerade erlebte, war vielleicht der Beginn einer wundervollen Geschichte. Es war zu hoffen, dass sie glücklich werden konnte, auch wenn das mit einem deutschen Touristen sicher jede Menge Herausforderungen barg. Da war allein die Sprachbarriere – sie wusste nur zu genau, wie sich das anfühlte. Er würde schnell lernen müssen, denn Katharina hatte Söhne, und diese wiederum bekamen durch den Vater ganz bestimmt jede Menge Ideen in den Kopf gepflanzt, die sich im Alltag als Problem herausstellten. Lambros würde es sich nicht entgehen lassen, gegen den Deutschen zu schießen, wo auch immer sich eine Möglichkeit bot. Ein Partner, der die Kinder nicht verstand, wäre daher kritisch.

Aber sie ersann schon wieder Probleme und briet die Ziege, bevor sie überhaupt gefangen war. Kathi sollte sich gesehen fühlen und nach all den traurigen und grausamen Erfahrungen das Leben als etwas Leichtes und Schönes spüren. Darauf kam es an, wobei es sich auch auf eine gewisse Art sonderbar anfühlte, dass sie die Vertraute ihrer Enkelin war und nun darüber nachdachte, was sich wohl in dem Haus in den Bergen abspielte. Sie war nicht prüde, denn obwohl die Kriegsjahre und das Leid, das man ihrer Familie angetan hatte, ihr wirklich sehr zugesetzt hatten, so waren Elonidas und sie doch ein einander zugetanes Paar gewesen. In ihm hatte sie den Mann gefunden, den ihre Mutter sich für sie gewünscht hatte: ehrlich, treu und gutherzig. Er war auch stur gewesen und beratungsresistent – das hatte vor allem Giorgos von seinem Vater geerbt –, aber das hatte nie etwas an der Tatsache geändert, dass sie ihren Mann auf ihre ganz eigene Weise sehr geliebt hatte. Sie hatten das Bett auch miteinander geteilt, und nach so vielen Jahren der Abstinenz war es beinahe wie beim ersten Mal gewesen, als sie sich wieder angenähert hatten. Sie hatten gute und glückliche Zeiten erlebt, und daher war es für sie nichts, worüber man auf keinen Fall mit ihr sprechen durfte. Sie würde nur niemals mit ihrer eigenen Körperlichkeit hausieren gehen. Das gehörte sich nicht. Gleichzeitig konnte sie aber als Zuhörerin für Katharina zur Verfügung stehen und ihr auch den ein oder anderen Tipp geben. Sie war zwar gewiss keine Expertin für Leichtigkeit im Leben, aber gerade deshalb fühlte sie sich berufen, es zu kommunizieren, denn man wurde hart, wenn alles nur noch eine Belastung war.

Sie würde heute im Dorf ein paar Dinge besorgen. Mittlerweile hatte sich die Situation in ihrem Lebensumfeld wieder beruhigt. Natürlich vergaßen die Leute nicht, was Giorgos getan hatte, aber der Name Dalaras war eben auch eng mit ihrem Elonidas verbunden, und niemand sprach dem Rebellen und Freiheitskämpfer den Respekt ab. Tatsächlich gab es sogar genügend Menschen, die sein Handeln und seine Haltung verstanden, denn wenn man von einem Menschen, mit dem man jahrelang Tür an Tür gelebt hatte, in den Schlund grausamer Gewalt geworfen wurde, dann durfte man hadern.

Und wieder war sie beim Verzeihen.

Ihr Mann hatte sonderbar verziehen, oder sie musste es wohl anders formulieren: Er hatte den Deutschen gewiss nicht vergeben, was sie ihm angetan hatten, doch es war ihm leichtergefallen, mit der Bösartigkeit der Eroberer umzugehen als mit dem Verrat durch einen so engen Freund. Zumindest begegnete man ihr im Ort mittlerweile nicht mehr mit unverhohlener Ablehnung. Es gab kurze und oberflächliche Unterhaltungen und Hilfsangebote – diese konnte sie freundlich ablehnen, aber die kleinen Schwätzchen vermittelten ihr immer mal wieder den Anschein von Normalität. Das Universum, Gott oder wer auch immer da oben oder unten verantwortlich dafür war, sie zu holen, sollte langsam mal einen Zahn zulegen, denn sie hatte wirklich keine Lust, noch zu einem Pflegefall zu werden, bevor sie abtreten durfte. Sie konnte sich die Diskussion im Kreise der Enkelkinder schon lebhaft vorstellen: »Du bist eine Frau, Katharina, und kannst das besser als wir Männer. Außerdem haben wir zu tun, und du kümmerst dich ja eh um deine Kinder …«

Genau so würde es ablaufen, und Kathi hatte dann zu den beiden Jungs noch eine sabbernde Yaya zu versorgen. Das wollte Hera keinesfalls für ihre Enkelin, auch wenn es schon so sein sollte, dass die Nachkommen sich grundsätzlich verantwortlich fühlten. Nur auf diese Weise funktionierte Familie, daher gab es auf der Insel eben auch nicht viele Einrichtungen für alte Menschen. Nein – sie wollte den Kindern nicht zur Last fallen und hoffte, dass ihr nach all dem Leid, das ihr widerfahren war, zumindest ein Tod ohne Pein gewährt wurde. Doch Gott hatte ihrem Mann noch nicht einmal das geschenkt. Gab es eigentlich Gerechtigkeit, oder war es damit ähnlich wie mit dem Verzeihen? War es nur Berechnung, dies zu predigen, um Ungerechtigkeit und Willkür zu ertragen?

Sie erhob sich, um sich anzuziehen, denn ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass ihre Haushaltshilfe gleich kommen würde. Hera würde ins Dorf hinabgehen, und die Frau holte sie dann wieder ab, denn obwohl sie sich grundsätzlich noch als rüstig bezeichnete, so fiel ihr der Weg bergauf mit Einkäufen in der Tasche mittlerweile einfach zu schwer.