Carsten, Gegenwart
Als er die Augen am Morgen geöffnet hatte, hatte er für einen kurzen Augenblick geglaubt, alles nur geträumt zu haben, denn ein solches Erlebnis konnte nicht real sein. Doch dann hatten ihn ihre Haare an der Nase gekitzelt, und er hatte kapiert, dass alles genau so geschehen war. Sie hatten etwas geradezu Überirdisches geteilt. Er hatte geglaubt, wenn er seinen Schmerz offenbarte, würde dieser die Macht haben, die zarte Pflanze zwischen ihnen im Keim zu ersticken, doch das Gegenteil war der Fall gewesen. Aus einem fragilen Spross waren kräftige Wurzeln gewachsen und hatten sich innerhalb kürzester Zeit so gefestigt, dass sie jetzt nur noch sehr schwer zerstörbar erschienen. Er konnte sich nach seinem Geständnis nichts mehr vorstellen, was die Kraft haben sollte, diese Bindung zwischen ihnen zu lösen.
Sie waren beide irgendwann in der Dunkelheit der Nacht aus ihrem tiefen, fast komaartigen Schlaf erwacht, und er hatte ihr erzählt, wie es ihm ergangen war, als er die Entdeckung über seinen Großvater gemacht hatte. Auch seine Mutter konnte nichts gewusst haben, dessen war er sich vollkommen sicher, denn sie hätte es dem geliebten Vater sicher nicht vergeben können, dass er sie ein Leben lang angelogen hatte. War man nicht wirklich offen und ehrlich zueinander, konnte es durchaus möglich sein, ein ganzes Leben in Lüge zu verbringen, ohne sich dessen bewusst zu sein.
»Ich bin dir dankbar, dass du uns dazu gebracht hast, gleich von Anfang an ehrlich zu sein«, hatte sie gesagt, und beim nächsten Wegnicken hatte er sich ihr angeschlossen und ihr »Ich liebe dich« ins Ohr geflüstert.
Er war sich vollkommen bewusst, wie verrückt es war, jemanden, den man erst vor wenigen Tagen getroffen hatte, so sehr im Herzen zu haben, aber egal, was Meri ihm mit dem Orkan hatte sagen wollen, auch sie hatte gleich erkannt, dass da zwischen Katharina und ihm etwas ganz Besonderes war. Katharina und er wussten zudem, dass sie bereits sehr lange verbunden waren. Wenn Seelen wirklich unzerstörbar waren, dann war es doch absolut im Bereich des Möglichen, dass sich diese wiederfanden.
Sie frühstückten wieder gemütlich auf der Terrasse und erzählten sich gegenseitig Dinge über ihre Kindheit und Jugend. Sie hatten beide das Glück gehabt, in vollkommen intakten Familien groß zu werden. Und auch wenn Katharina in einem sehr reichen Umfeld aufgewachsen war und es sich bei ihm um ein typisches Mittelschichtkind gehandelt hatte, so trennte sie hier nichts. Sie waren beide klug und gebildet, hatten auf Reisen einiges gesehen und als Jugendliche auch mal über die Stränge geschlagen, aber auch hier waren sie nur mäßig aus dem elterlichen Regelkorsett ausgebrochen.
»Wir waren schon ein bisschen langweilig«, sagte sie und lächelte ihn spitzbübisch an.
Er war noch immer beseelt von ihrer Reaktion am Vorabend und der beinahe mystischen Verbindung, die sie im Anschluss erlebt hatten, sodass er zwar zum Scherzen aufgelegt war, weil sie es geschafft hatte, dass er seiner Dunkelheit keinen Raum gegeben hatte, aber er war noch nicht schlagfertig genug, um zu reagieren. Mit einer leichten Verzögerung stand er daher auf, packte sie und knurrte wie ein wilder Löwe – also zumindest hoffte er, dass es sich so anhörte – und zerrte sie wie eine Beute in Richtung Bett. Sie kicherte gackernd und ließ sich mitziehen.
Sie schmeckte nach Kaffee und roch nach Morgensonne. Es war eine göttliche Mischung. Sie hatten sich bereits wild geliebt, traumwandlerisch, verführerisch, sexy oder mystisch, und nun lernten sie eine weitere Art kennen: spielerisch. Sie alberten herum, versuchten, sich gegenseitig Küsse zu stehlen, und ihr Lachen erfüllte das Haus – gemischt mit angeregtem Stöhnen. Es war wundervoll, Sex auch auf diese Art zu praktizieren – weg von der zwanghaften Komponente, irgendetwas beweisen zu müssen oder sich gar akrobatisch zu verrenken.
Lachend fielen sie vollkommen befriedigt nebeneinander auf die Laken.
»Das war …«
Sie suchte ganz offensichtlich nach Worten, und er war gespannt, welche sie wählen würde.
»Davon will ich mehr. Ich glaube sogar, dass ich gar nicht genug davon bekommen kann. So habe ich Sex noch nie erlebt.« Sie stützte sich auf den Ellenbogen auf, und er genoss es, ihren wundervollen Körper zu begutachten. Ihre Brüste waren voll und fühlten sich so drall an, wenn man sie knetete. Ihre Hüften luden dazu ein, sie an sich zu drücken, um noch tiefer in sie eindringen zu können, und ihr Po war straff und so sexy. Alles an ihr war perfekt. Sie war perfekt. Ja, sie hatte Ängste und eine Partnerschaft erlebt, die sie kleingemacht hatten. Sie litt unter dem Verlust der Eltern und der Geschichte mit ihrem Onkel, aber sie war eine starke Frau. Sie war mutig, begabt, kreativ, und sie hatte zwei Söhnen das Leben geschenkt, die sie im Großen und Ganzen allein großzog. Wenn das alles nicht bewundernswert war, dann wusste er nicht, wofür man einen Menschen bewundern sollte!
»Eigentlich möchte ich das Haus nicht verlassen, aber irgendwie denke ich auch, wir sollten uns vielleicht ein wenig bewegen oder so.« Sie stöhnte theatralisch.
»Du meinst also, das hier ist nicht Bewegung genug?« Er zog ihr den Ellenbogen weg, sodass sie auf dem Rücken landete, und schwang sich rittlings auf sie.
»Kannst du etwa schon wieder?«, neckte sie ihn und küsste ihn leidenschaftlich.
»Also ich könnte, ja«, gab er großspurig an und deutete dann auf seine Körpermitte, »aber er scheint eine Pause zu brauchen. Gönnen wir sie ihm und gehen eine Runde spazieren, um die Umgebung ein wenig zu erkunden, und dann begeben wir uns nach Meronas in unser Kafenion.«
»In Ordnung, Sir«, sagte sie und versuchte, unter ihm zu salutieren, was ihn zum Lachen brachte.
»In Ordnung, du wunderbares Wesen. Wer zuerst unter der Dusche ist, bekommt den Rücken vom anderen eingeseift.« Er rollte sich von ihr herunter und konnte zusehen, wie sie in einer affenartigen Geschwindigkeit aus dem Bett sprang und durch dieses Überraschungsmoment den Battle gewann.
Sie duschten ausgiebig, streichelten sich liebevoll, und er wusch ihr das Haar. Das war eine ganz spezielle Erfahrung, denn das hatte er noch nie getan. Es war irgendwie ganz besonders persönlich – er konnte nicht erklären, warum, aber so war es eben. Jeder Augenblick, jedes Erlebnis ließ die Verbindung zwischen ihnen gefestigter werden. Die Sicherheit, dass zwei Menschen, die einander so zugetan waren, unzertrennlich wurden, legte sich wie ein schützender Mantel über ihn, und er zog ihn auch über die Geliebte. Ein Wunder war ihnen zuteilgeworden, und das hatte einen Grund: Sie hatten es beide mehr als verdient, auf Augenhöhe geliebt zu werden, und er nahm das Geschenk dankbar an.
Kurze Zeit später marschierten sie Hand in Hand durch das hohe Tor hinaus, und Katharina verschloss die kleine Durchgangstür gewissenhaft. Das Haus wirkte auch bei Tag majestätisch, doch es hatte im hellen Licht der Sonne nicht den Zauber, den die Nacht auf seine Fassade zeichnete. Sie folgten erst der Straße ein Stück und nahmen dann einen Trampelpfad, der in die bergige Landschaft führte. Es gab jede Menge stacheliger, runder Büsche, Thymian und Oregano. Der kretische Oregano faszinierte ihn, denn er hatte nichts mit dem gemein, den man beim Italiener auf die Pizza streute. Er hatte einen ganz eigenen, wundervoll aromatischen Geschmack, und Carsten hatte ihn innerhalb kürzester Zeit auf den unterschiedlichsten Speisen zu schätzen gelernt.
Sie pflückten ein Sträußchen frischer Kräuter, hielten sich an den Händen, stolperten lachend umher, um Ziegenköteln auszuweichen, und blieben immer wieder stehen, um den Blick zu genießen und sich zu küssen.
»Warum hast du nie geheiratet?«, wollte sie wissen. »Wolltest du denn keine Kinder?«
»Ich habe mich nie bewusst für oder gegen Kinder entschieden, aber ich hatte nie eine Beziehung, die ich so definiert hätte, dass ich sie für die Ewigkeit gesehen hätte oder zumindest für so lange, dass man eine solche Verantwortung auf sich nimmt«, antwortete er spontan und wahrheitsgemäß.
»Aber eine Garantie gib es doch nie.«
»Da hast du recht, aber du hast doch gewiss geheiratet und gehofft, dass es hält.«
Sie schwieg, und ihr Blick glitt in die Ferne. »Ich habe es mir gewünscht, aber eigentlich wusste ich, dass Lambros nicht der Richtige ist. Inzwischen weiß ich sicher, dass er es nicht sein konnte. Denn mir ist klar geworden, dass du es bist! Du bist mein Mensch.«
»Ich habe zwar nicht so tief gedacht, aber ich habe bei meinen Beziehungen instinktiv gespürt, dass sie nur an der Oberfläche kratzen, und das war mir immer zu wenig.« Er zuckte mit den Schultern, denn genau so war es gewesen. Er hatte immer gespürt, dass es nicht reichte, und daher nie die Frage aller Fragen gestellt. Diese Frau hier würde er vom Fleck weg heiraten. Sein Unterkiefer klappte ihm quasi auf das Brustbein, als ihm der Gedanke durch den Kopf schoss.
»Hast du einen Geist gesehen?«, foppte sie ihn.
»Das nicht«, er fasste sich rasch, »aber ich dachte gerade, dass ich dich sofort vor den Traualtar schleppen würde.«
Sie schaute ihn perplex an.
»Ich wollte damit nur verdeutlichen, dass ich fühle, dass du meine Kugelmensch-Hälfte bist«, schob er schnell erklärend nach.
»Platon«, sagte sie verstehend und nickte heftig.
»Wir haben uns gefunden, und dafür bin ich unfassbar dankbar.« Er öffnete seine Arme, und sie flog beinahe hinein. Sie hatte ihr Haar nach dem Duschen wieder flechten wollen, doch er hatte sie gebeten, es offen zu tragen, und so flatterte es hinter ihr her wie ein Schleier. Er umschloss sie, und sie legte ihre Wange an seine Brust. So standen sie eine lange Zeit da, und es war, als würden sie von Sekunde zu Sekunde immer enger und tiefer zusammengefügt. Erst als sein Magen laut und vernehmlich zu knurren begann, hob sie den Kopf und sagte: »Lass uns gehen, ich habe Angst …«
Er zog fragend eine Augenbraue hoch.
»Ja«, sagte sie, »vielleicht bist du ein Kannibale und willst mich gleich hier verspeisen.«
»Zum Thema Verspeisen fallen mir ein paar andere Sachen ein«, erwiderte er verschmitzt, »aber kleine Steine und Dreck in meiner Poritze sind nicht unbedingt Dinge, auf die ich stehe. Daher schlage ich vor, erst etwas zu essen, um diese …« Er deutete auf seinen Magen. »… Bedrohung loszuwerden, und dann … dann sehen wir weiter.«
Sie legte ihre Hand kurz auf seinen Schritt, bevor sie sich umdrehte, um den Rückweg anzutreten. »Ich bin gespannt …«
Sie marschierten zurück zum Haus, nahmen diesmal den SUV und fuhren nach Meronas. Er fand die Idee charmant, das Kafenion als ihr Kafenion zu bezeichnen, und sie übernahm es und sagte sogar: »Schau, unser Tisch ist frei.«
Sie nahmen Platz, der Wirt bediente sie auf seine etwas kauzige Art und schleppte ein Tablett mit Meze herbei, das den Eindruck erweckte, für eine Fußballmannschaft gemacht zu sein. Der Mann musste sogar einen weiteren Tisch heranziehen, um all die Köstlichkeiten abzustellen. Sie schlemmten frittierte Ziegenleber, Tomatensalat mit Kapern, Fava, Eintopf, frittierte Kartoffeln und Zucchini, Moussaka, gekochte Bohnen mit Dill, einen Salat aus frischer Petersilie, rote Bete und frittierte Käsebällchen. Es war alles so köstlich, dass er gar nicht aufhören konnte zu essen, und auch Katharina griff mit großem Appetit zu. Es gefiel ihm, dass sie gern aß, und er wusste mittlerweile auch, dass sie es erst seit Kurzem wirklich genießen konnte und nun nicht mehr nach jedem Bissen Reue empfand. Sie wusste wirklich nicht, wie wunderschön sie war und wie anziehend er sie fand. Er war sich sicher, noch nie eine so schöne Frau gesehen zu haben – äußerlich wie innerlich. Vielleicht hatte er hierherkommen müssen und nun eine Chance, seine Krise zu überwinden und sich neu auszurichten – mit einer Frau an seiner Seite, die ihm Flügel gab.
Sie nahm einen Schluck von dem weißen Hauswein, und er trank Wasser. Der Wein am Vorabend war wirklich toll gewesen, aber er würde sich gewiss nicht zum Vinophilen entwickeln. Gab es das Wort überhaupt? Er sah ihr zu, wie sie aß und trank – sie plauderten über Songs von den Stones und Queen, stellten dabei fest, dass sie zwar einen ähnlichen Musikgeschmack hatten, ihm aber Mick Jagger mit seiner Attitüde auf die Nerven ging, während sie für den alternden Rocker zu schwärmen schien. Zudem erklärte sie ihm: »Bei uns in Griechenland hören wir sehr viel griechische Musik, und wir haben absolut großartige Musiker. Wir müssen unbedingt mal zu einem Konzert von Nikos Vertis gehen – der ist echt große Klasse.«
Er lächelte und nickte. Er würde mit ihr selbst zu den Kastelruther Spatzen gehen, sprach es aber nicht laut aus, um nicht erklären zu müssen, was es mit denen auf sich hatte. Zudem fand er es einfach wunderbar, dass sie ihn in ihre Zukunft mit einschloss. Ganz egal, wie kompliziert das auch werden würde mit Sprachbarriere, ihren Kindern und allem Drumherum, so war es doch auch genau das, was er wollte: eine Zukunft mit ihr. Sie gehörten einfach zusammen.
Es war schon Nachmittag, als sie am Haus ankamen, und obwohl er jede Minute des Ausflugs genossen hatte, war er doch froh, wieder zu Hause zu sein. Obwohl dieser Palast weder ihr noch ihm gehörte, fühlte es sich momentan eben so an – wie ein Zuhause.
Sie schälten sich schnell aus den Kleidern und lagen kurze Zeit später erhitzt nebeneinander im Bett.
»Das war jetzt aber ein Quickie«, sagte sie mit leuchtenden Augen.
Und er fragte: »Mochtest du es?«
»Auf jeden Fall …« Sie ergriff seine Hand und platzierte sie auf ihrer Brust. Er begann, ihren Nippel leicht zu liebkosen, und sie stöhnte wohlig auf. »Ich könnte ewig so weitermachen, aber tatsächlich fühlt sich da alles gerade ein wenig überempfindlich an …«
Sie kuschelten sich aneinander und nickten kurz darauf ein. Er träumte, und in jeder Szene war sie an seiner Seite. Er hatte eine Chance, glücklich zu sein. Richtig glücklich. Und vielleicht konnte er mit ihr sogar sein Trauma verarbeiten, von einem Massenmörder abzustammen. Er hatte ihr noch nicht alles erzählt, und es war wichtig, es zu tun, Ehrlichkeit …
Er öffnete die Augen, und es kam ihm so vor, als wären nur wenige Minuten vergangen, doch draußen zog bereits die Abenddämmerung auf. Die Zeit mit ihr verging einfach zu schnell. Sie würden darüber nachdenken müssen, wie sie ihre Zukunft gestalten wollten, doch jetzt ging es nur um den Augenblick. Er bewegte sich vorsichtig, denn er musste unbedingt zur Toilette und hatte Durst.
Sie rekelte sich neben ihm und fuhr dann hoch. »Wir verschlafen unsere Zeit!«
»Oder wir wachsen noch mehr zusammen, weil wir so eng aneinandergekuschelt schlafen können.« Er grinste und trabte in Richtung Bad.
»Oder so«, sagte sie, und ihre Stimme klang wach.
Als er zurückkam, saß sie auf der Terrasse, hatte Pulli und Hose an wie am Abend zuvor und Wasser, Wein und Limonade bereitgestellt. »Hast du noch Hunger?«, wollte sie wissen, und er schüttelte verneinend den Kopf. Sie zündete eine Kerze in einem Glas an, und ein zitroniger Duft entstieg dem Behältnis.
»Das Wetter scheint umzuschlagen«, erklärte sie, »es sind Moskitos unterwegs. Die Kerze hilft.«
Er setzte sich zu ihr und nahm seinen Mut zusammen. »Ich möchte meine Geschichte von gestern Abend noch zu Ende erzählen. Gestern … da … es war so … emotional und … und da konnte ich es nicht. Es fällt mir auch jetzt nicht leicht, es zu erzählen, Katharina. Ich bin zum ersten Mal auf Kreta und … und ich wusste mein Leben lang nicht, dass ich hier Wurzeln habe.«
»Wie meinst du das?« Sie schaute ihn fragend an. »Meinst du mich?«
»Nein, Liebste, leider nicht. Mein Großvater …« Er wusste nicht, wie er es am besten erklären sollte. Vielleicht musste er es wie mit einem Pflaster halten, das man am besten mit einem Ruck abriss. »Mein Großvater stammt … von hier.«
»Wie von hier? Was meinst du damit?«
»Er ist hier geboren, und er … er ist … er war … er hat seine Landsleute an die Deutschen verraten, hat mit der Wehrmacht kooperiert und nicht nur hier auf Kreta, sondern auch auf dem Festland unzählige Menschen getötet. Man verurteilte ihn in Chania in Abwesenheit sogar zum Tode für seine Taten.«
Sie fuhr auf, und er konnte die Aufregung in ihrem Gesicht sehen. »Wie meinst du das? Wie ist so etwas möglich?« Dann trat sie einen Schritt zurück – als müsste sie Abstand zwischen ihn und sich bringen.
Er spürte einen scharfen Schmerz in seiner Brust. »Katharina, ich weiß nur, was ich recherchiert habe, denn ich habe einen alten Ausweis in den Unterlagen meiner Oma gefunden. Danach habe ich mich auf die Suche gemacht.«
»Dein Großvater ist ein Verräter? Das … das ist doch vollkommen verrückt. Ich … also … ich bin die Enkeltochter von Elonidas Dalaras, einem berühmten Freiheitskämpfer. Die Deutschen haben ihn in ein KZ in Deutschland verschleppt und dort fast zu Tode gefoltert. Er hat wie durch ein Wunder überlebt, und die Amerikaner haben ihn befreit. Meine Yaya und er haben bis zu seinem Tod in Hamburg gelebt. Es ist eine lange Geschichte. Mein Großvater und all das Leid, das er erlebt hat, das meine Großmutter und damit auch mein Vater und mein Onkel erlebt haben – das ist ihm passiert, weil er verraten wurde. O mein Gott, Carsten!«
Er fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen, denn seine Geschichte allein war schon schrecklich genug, aber in Kombination mit der ihren ergab sie ein grauenvolles Desaster. »Es ist die Geschichte unserer Familien, aber nicht unsere – also natürlich schon unsere, aber du und ich, wir haben nichts getan.«
Sie stand noch immer ein Stück von ihm entfernt.
Er erhob sich. »Darf ich?«
Sie nickte, und er trat näher, ohne noch etwas zu sagen. Gestern Abend war er der Verzweifelte gewesen, der kein Licht mehr hatte sehen können in all der Dunkelheit, heute Abend schien sie es zu sein.
»Weißt du, wo genau dein Großvater herkommt?« Ihre Stimme war so angespannt, dass sie beinahe klirrte.
Er nickte, und in dem Augenblick, in dem sie die Frage stellte, überkam ihn eine furchtbare Angst, und da war noch mehr … ein Bauchgefühl. In seinem Ohr hallte Meris Stimme nach … Vorboten eines Orkans … »Er kam aus Anogia.«
Sie sog den Atem scharf und schneidend ein, und er spürte, dass sie sich in diesem Moment im Auge des entsetzlichen Sturms befanden. Es war so still, als würde die Zeit stehen bleiben, und doch war ihnen wahrscheinlich beiden bewusst, dass gleich etwas über ihnen zusammenschlagen würde, was die totale Zerstörung mit sich bringen konnte.
»Meine Familie kommt ebenfalls aus Anogia.« Sie hörte sich an, als wäre sie weit fort. Ihr Gesicht war zu einer bleichen und starren Maske geworden.
Das Donnern kam näher, und er konnte schon die Ausläufer des Sturmes spüren, der sie gleich davonfegen und zersplittern würde.
»Wie war sein wahrer Name? Also der, den du auf dem alten Ausweis gefunden, den du recherchiert … über den du all das herausgefunden hast?«
»Ioannis Miserakis«, sagte er, und der Orkan brach los.