Carsten, Gegenwart
Er legte die Handschuhe auf die schmale Kommode im Flur. Es war ein kalter März, und noch immer gab es Tage, an denen leichte Schneeflocken vom Himmel segelten. Er hatte sich nur schwer von seinem Kretaaufenthalt erholt, und da er sich endlich um einen Therapieplatz bemüht hatte, ging er aktuell in eine ambulante Tagesklinik. Er musste lernen, wieder alltagstauglich zu werden, und sowohl die Depression als auch der erneute Verlust seiner zweiten Hälfte hatten ihn zurück in die Dunkelheit geschmettert. Heute wusste er, dass es auch etwas Gutes für ihn hatte, sich mit alldem auseinanderzusetzen, denn er tat es aus eigenem Antrieb und nicht, weil ihn jemand an der Hand nahm. Sein Therapeut versicherte ihm, dass das die effektivste Möglichkeit war, mit seiner Erkrankung und seinen Erlebnissen umzugehen. Es wurde von Tag zu Tag ein wenig besser. Nur das Loch in seiner Brust ließ sich nicht so einfach stopfen, denn dort, wo einst sein Herz gewesen war, klaffte das Nichts und sorgte immer wieder dafür, dass er zwar einen Schritt vorwärts machte, aber auch oft wieder einen halben oder manchmal auch einen ganzen zurück. So kam er nur langsam voran. Sein Therapeut war zum Schweigen verpflichtet, also hatte Carsten ihm die ganze bittere Wahrheit erzählt, und er hatte es auch annehmen können, als der Mann ihm sagte: »Sie haben nichts getan, Carsten. Sie sind ein Opfer der Umstände.«
Er hatte recht. Carsten hatte nichts getan, und auch wenn er sein Bedürfnis, über kriegerische Auseinandersetzungen zu berichten, nun mit seinen furchtbaren Genen erklären wollte, so hatte er doch nie etwas Böses im Sinn gehabt. Auf dieser Erkenntnis ließ sich aufbauen, um ihm zu verdeutlichen, dass er ein wertvoller Mensch war, der geliebt werden durfte. Der es sogar verdient hatte, geliebt zu werden und zu lieben. Doch nach Katharina konnte er sich noch viel weniger als vorher vorstellen, mit einer anderen Frau sein Leben zu teilen. Gut, um das Ganze hier Leben nennen zu dürfen, musste er sowieso erst einmal eine Perspektive haben, denn aktuell hangelte er sich eher von einem Termin zum nächsten, und dieser Rahmen gab ihm Halt.
Er stellte seine Schuhe an ihren Platz, hängte seine Jacke auf und sorgte akribisch dafür, dass alles dort war, wo es hingehörte. Die Ordnung in seiner Wohnung hatte er im Griff, und es war gut, wenigstens über etwas Kontrolle zu haben, wenn einem das Leben sonst immer wieder entglitt. Er würde sich gleich eine Kleinigkeit zu essen zubereiten und dann schreiben. Er hatte begonnen, ein Buch zu verfassen, und das tat ihm gut. Es war eine Mischung aus Autobiografie und Roman, und ein Gespräch mit seinem letzten Auftraggeber – der von seiner Reportage sehr angetan gewesen war –, hatte dazu geführt, dass ihm bereits ein Angebot zur Veröffentlichung vorlag. Niemand machte ihm Druck, und das war gut so, denn so konnte er sich vollkommen auf seine Fähigkeiten konzentrieren, kraftvolle Sätze zu ersinnen.
Er wollte gerade ins Bad gehen, um sich die Hände zu waschen, als es an der Tür klingelte. Er erwartete niemanden. Er war ein einsamer Wolf …
Langsam öffnete er die Tür, schloss sie schnell wieder und öffnete sie dann verdutzt erneut. Er traute seinen Augen nicht. Bestimmt träumte er oder hatte eine Psychose. So etwas konnte vorkommen. Vorsichtig streckte er die Hand aus, davon ausgehend, dass diese Seifenblase oder Fata Morgana oder was auch immer das war, zerplatzte, denn ihr Bild war oft genug für ihn mehr als lebendig gewesen.
Sie ergriff seine ausgestreckte Hand mit der ihren, und alles war wieder da. »Ich war dumm. Wir beide sind unschuldig. Kannst du mir vergeben?«, fragte sie und blieb im Türrahmen stehen.
Er konnte keine Worte finden, und seine Bewegungen erschienen ihm ungelenk, doch er nickte stumm. Er hatte ihr längst vergeben, denn in der Therapie war ihm wieder bewusst geworden, dass Menschen in Schocksituationen auf unterschiedlichste Weisen reagierten. Sie waren beide nicht auf jenen Augenblick vorbereitet gewesen, und dann hatte ein Teil des Gehirns das Ruder übernommen, der hauptsächlich für den Schutz und die Beseitigung einer Bedrohung verantwortlich war. Sie hatte ihn fortgeschickt, und er war gegangen, hatte nichts unternommen, um ihrer beider Verletzungen zu heilen. Doch er hatte erst den Weg der Gesundung beschreiten müssen, um sich all dessen bewusst zu werden – und nun war sie hier. Er war vollkommen überwältigt, doch dann riss er sich am Riemen und zog sie an der Hand zu sich.
Als ihre Körper einander berührten, waren keine Worte mehr nötig. Ihre Seelen waren verbunden, und das würde ihnen helfen, ihre gemeinsame Zukunft zu gestalten. Komme, was da wolle …