2. NOVEMBER, BERLIN

»DER HIMMEL IST BLAU, AUCH OHNE DICH.
NUR ÜBERRASCHT MICH DIESE TATSACHE NICHT MEHR.«

Otis

Schon seit meinem ersten Tag hier vor zwei Wochen weiß ich, dass mir meine neuen Kollegen das letzte bisschen Glück im Leben zerstören werden. Ob sie mir allein für diesen Gedanken eine verpassen würden? Gut möglich.

Eigentlich habe ich mich auf den Brennpunktabschnitt gefreut. Hier erfolgreich zu hospitieren, bedeutet für eine Beförderung empfohlen zu werden. Als mein Chef mir vorgeschlagen hat, meiner Einsatzgruppe in Spandau für ein paar Wochen den Rücken zu kehren, um die hoch angesehene Arbeitsgruppe »Rave« in Neukölln zu unterstützen, dachte ich, das wird entspannt.

Ist es aber nicht, weil einige meiner neuen Kollegen die Sorte Polizisten sind, die Alkohol und Partys beinahe ernster nehmen als ihren Job. Bisher war ich davon ausgegangen, dass die Leute bei der Hundertschaft anstrengend wären, aber im Vergleich zu den neuen haben die alten Kollegen ein richtig weiches Herz.

Fast jeden Tag, seit ich hier bin, wurde ich vor oder nach den Schichten in irgendwelche Berliner Clubs mitgeschleppt. Die übrigen Nächte habe ich mir entweder auf der Wache oder anderweitig um die Ohren geschlagen, weshalb mein Körper gestern auch schlappgemacht hat. Ich habe mir nach der Spätschicht die Seele aus dem Leib gekotzt.

Das sollte eigentlich kein Problem sein und bei meinen alten Kollegen in Spandau wäre es das auch nicht gewesen, doch anscheinend sieht man das hier in Neukölln ein wenig anders. An meinem Spind in der Männerumkleide begrüßt mich an diesem Abend ein Blatt Papier, auf das jemand Pussy geschrieben hat, und das passiert nicht zum ersten Mal.

Mein Puls beschleunigt automatisch, wenn ich an die andere Situation vor einer Woche denke. Und ja, diese Reaktion ist total sinnbefreit. Immerhin war es nur ein bisschen Wassergeplätscher, das mich nervös gemacht hat. Keine Ahnung, weshalb es im Schreibzimmer überhaupt ein Waschbecken gibt und warum irgendjemand den Wasserhahn nicht ordentlich zugedreht hatte. Verdammt, ich hätte wenigstens die Klappe halten und das Scheißgeräusch beim Berichteschreiben wie ein richtiger Mann einfach ertragen können. Habe ich aber nicht. Stattdessen musste ich ja unbedingt in meiner ersten Woche hier auf dem Abschnitt der Arbeitsgruppenleitung ans Bein pissen.

Ganz sicher wollte ich Maxim keinen lautstarken Vortrag zum Thema Wasserverschwendung halten, aber belanglosen Mist von mir zu geben, ist in solchen Situationen mein Rettungsanker. Auch wenn ich jetzt vor Maxim und den anderen wie ein Schwächling dastehe, der bei ein bisschen Wasserplätschern die Nerven verliert.

Unwillkürlich spanne ich mich an, obwohl niemand außer mir im Umkleideraum ist. Natürlich habe ich keine Panik vor einem Scheißwasserhahn, es ist nur –

Ach, was soll’s, ich reiße den Zettel ab und zerknülle ihn.

Mir steht eh schon eine beschissene Schicht bevor.

Wenn jemand wüsste, weshalb ich viel zu häufig übermüdet und mit zum Zerreißen gespannten Nerven auf der Polizeiwache auftauche, würden sie sich mit Sicherheit noch krassere Beleidigungen einfallen lassen.

»Du siehst scheiße aus«, kommentiert Maxim beim Reinkommen, als ich gerade meine Schussweste aus dem Spind hole und über die Uniform ziehe, die ich dringend zu Hause waschen muss. Im Moment habe ich nur einfach keine Zeit, mich um solche Dinge zu kümmern.

»Lass mich raten: Gestern nach der Spätschicht die Nacht noch bei irgendeiner Alten verbracht?«

Wenn er wüsste. Ich hatte seit letzter Woche keinen Sex, vorausgesetzt Maxim lässt Oralsex überhaupt gelten. Ansonsten sind es knapp drei Wochen. Das Einzige, was mich im Augenblick herausfordert, ist mein Handy, das in den unpassendsten Momenten losklingelt. Seit Wochen kratze ich nachts meinen Vater von der Straße, und noch länger lasse ich mir vor den Kollegen und meiner Schwester Gloria pausenlos Ausreden einfallen, um ihnen nicht die Wahrheit sagen zu müssen.

Mein Vater ist spiel- und alkoholsüchtig. Ich habe keinen blassen Schimmer, was davon zuerst kam, aber ich weiß, dass ich derjenige bin, den er jedes Mal sturzbetrunken anruft und der sich dann nachts im Halbschlaf hinters Steuer quält, um ihn aus irgendeiner Berliner Spielothek abzuholen. Deshalb ist Schlaf etwas, das ich zum größten Teil mit Energydrinks und Kaffee ersetzen muss.

»Klar …« Ich gähne demonstrativ in meine Armbeuge und straffe die Schultern. »Hab grad eine Neue am Start.«

»Wird ja doch noch was aus dir.« Maxim schlägt mir respektvoll auf die Schulter und richtet das Holster an seiner rechten Seite. »Ich geh schon mal vor und lass mir von Jonas die Funkgeräte geben.« Er holt seinen Helm vom Spind und klemmt ihn sich alibimäßig unter die Achsel, bevor er mir abermals gegen die Schulter boxt und geht.

Alibimäßig. Manche stillschweigenden Abmachungen unter Polizisten sind einfach erbärmlich. Die Behörde hat festgelegt, dass Streifenpolizisten ihren Helm bei jedem Einsatz im Polizeiwagen mitführen müssen, woran sich meines Wissens auch jeder auf dem Abschnitt hält. Deshalb greife ich jetzt ebenfalls nach meinem Helm, doch aufziehen werde ich ihn später, genauso wie Maxim und viele andere Kollegen, ganz sicher nicht. Niemand tut das, außer wir werden vorab explizit darauf hingewiesen, dass während des Einsatzes Steine fliegen können. Ist heute nicht der Fall. Darum wird der Helm später im Wagen bleiben. Wenn ich keinen weiteren Spruch riskieren will, halte ich mich besser an solche unausgesprochenen Regeln, und davon gibt es viele.

Wer beispielsweise in der Hundertschaft arbeitet – und demnach nicht bei der Streifen- oder Kriminalpolizei –, der geht dem Klischee nach ständig feiern, hat pausenlos Sex und keine Angst. Das ist etwas, das noch nie in meinen Kopf wollte. Ich kenne Kollegen bei der Hundertschaft, die sich bei Einsätzen in die Hose gepinkelt haben, weil sie Panik hatten, draufzugehen, die aber mit niemandem darüber reden. Sie tun es einfach nicht. Nie. Wahrscheinlich wäre es wichtig, über solche Sachen zu sprechen, aber ich schätze, ein Helm auf dem Kopf eines Streifenpolizisten wäre ebenso nicht übel. Und den trägt hier eben auch kaum jemand.

Ich unterdrücke ein weiteres Gähnen und schnalle mir die Dienstkoppel um die Hüfte. Bei meinem aktuellen Zustand überprüfe ich gleich zweimal, ob ich alles Notwendige am Ledergürtel befestigt habe: Handschuhe, Handfesseln, Taschenlampe, Reizgas und den Schlagstock, den hier jeder als Tonfa bezeichnet. Alles da.

Ich schließe meinen Spind und kaum habe ich die Umkleidekabine verlassen, gerate ich ins Radar meiner Kollegin Victoria.

»Vegiss die Waffe nicht, Bambi.«

Nur weil ihre Hand unmittelbar neben die Handfesseln an meine Dienstkoppel wandert, halte ich das Nenn mich nicht so zurück. Bei der Hundertschaft kriegen wir die Waffe vom dafür zuständigen Waffenmeister ausgehändigt. Irgendwie kann ich mich noch nicht damit abfinden, sie hier eigenständig aus einem Schließfach holen zu müssen.

Victoria hakt zwei Finger unter den Gürtel und zieht mich so fordernd zu sich. Wenn ihr Mund es mir nach der bevorstehenden gemeinsamen Nachtschicht genauso hart wie letzte Woche besorgt, kann sie mich nennen, wie sie will, schätze ich. Also lenke ich unser Gespräch sofort in diese Richtung.

»Benutzt du die Handfesseln auch privat?«

Daraufhin lässt Victoria den Gürtel los und stößt einen Laut aus, der klingt, als hätte ihr jemand aufgetragen, in der Wohnung einer verstorbenen Person auszuharren, bis der Bereitschaftsarzt kommt, um deren Tod festzustellen. Diese Form von Einsatz stinkt wortwörtlich und zieht sich meistens über Stunden hin wie zäher Kaugummi.

Victoria lehnt sich gegen die Waffenschränke. »Du darfst mich überall festbinden, aber bestimmt nicht mit den Teilen.«

Wenn man so darüber nachdenkt, um wessen Handgelenke die schon alles gelegen haben, überzieht einen die Art von Gefühl, die ganz bestimmt nicht zu Sex führt.

»Nachvollziehbar«, murmle ich, packe dann lieber Victorias Handgelenk und ziehe sie so vom Schließfach weg, damit ich die Waffe daraus hervorholen kann.

Victoria seufzt, bevor sie mich abschüttelt. »Was ist los, Bambi? Schlecht geschlafen?«

Klar, wenn es nur das wäre. »Vielleicht liegt’s ja daran, dass du mich ständig Bambi nennst.«

»Wegen der großen braunen Augen. Ich dachte, das wär offensichtlich.«

Ich stecke die Waffe in mein Holster und verriegle den Waffenschrank wieder. »Hätte ja auch mein Charakter sein können.«

»Hätte …« Victoria lacht leise. »Aber ich achte eher auf Körperliches.«

Klar, das habe ich letzte Woche gemerkt. Ist okay für mich.

Auf dem Weg nach vorn kommen wir an zwei Kollegen vorbei, die gleich in einem der drei Funkwagen unterwegs sein werden, die am Einsatz am Teufelsberg beteiligt sind. Die Arbeitsgruppe »Rave« wurde ursprünglich von der Direktion vor Ort gegründet, um den zig illegalen Musikveranstaltungen in und um Neukölln gerecht zu werden. Mittlerweile wird sie jedoch in ganz Berlin eingesetzt, weshalb Maxim aushilfsweise Verstärkung von anderen Abschnitten anfordern darf. Ich weiß, dass er absichtlich an meinen Hundertschaftsleiter herangetreten ist, weil wir ein paar erfahrene, knallharte Leute in unseren Reihen haben, aber stattdessen wurde ich nach Neukölln geschickt. Maxim lässt keinen Tag aus, um meine Grenzen auszutesten, womit es auch keine Gelegenheit gibt, bei der ich nicht demonstriere, was für ein krasser Kerl ich bin. Die anstehenden Einsätze bieten ausreichend Möglichkeit dafür.

»Ist jedes Mal albern, wenn wir einen illegalen Rave hochgehen lassen«, sagt Maxim, als wir auf ihn zusteuern. »Ich war gestern bei einem richtig guten, der auch im Rahmen des Secret Rave Festivals stattfand.«

»Tja, muss dich als Polizist aber kaltlassen.« Victoria hakt sich bei ihm unter. »Obwohl wir uns doch eigentlich einem Befehl widersetzen können, wenn der gegen unsere Moralvorstellungen geht.«

Maxim blickt zu ihr runter und grinst. »Der persönliche Musikgeschmack hat nichts mit Moral zu tun, Vici.«

»Dafür aber mit Gut und Böse«, mische ich mich ein, woraufhin Maxim mir kurz zunickt.

»Damit schon.« Er reibt sich die Schläfe, und das ein paarmal, bevor er abermals schmunzelt. Diesmal in meine Richtung. »Du hörst Harry Styles, nehm ich an.«

An meinem ersten Tag hätte ich diesen Spruch noch als Beleidigung eingeordnet, aber mittlerweile weiß ich, dass solche Sticheleien zu Maxims Umgangston gehören und unmittelbar dazu führen, dass ich einen unbeherrschten Konter auf der Zunge liegen habe.

Ich würde lieber freiwillig stundenlang die Füße meiner Schwester massieren, wenn sie ihre Tage hat, oder mit ihr zusammen auf ein Harry-Styles-Konzert gehen, als Maxim den Sieg zu gönnen. Deshalb krame ich nach irgendeiner Info, die mir Ria über ihren Lieblingskünstler verraten hat. Das sind mindestens zwanzig am Tag, deshalb dauert es, bis ich die passende finde.

»In Watermelon Sugar geht’s um Sex und den weiblichen Orgasmus«, sage ich grinsend, zeige Maxim dabei beide Zahnreihen, so wie er es eben getan hat. »Ich gehe aber davon aus, dass dir Letzteres eher fremd ist.«

Er räuspert sich. Dann zieht er die dunklen Augenbrauen zusammen, bis sie eine einzelne ergeben, was nur dann passiert, wenn –

»Fuck, was soll das?!« Ich reibe mir den Oberarm, weil Maxims Schlag schmerzhaft auf der Haut brennt, trotz Uniform.

»Sei nicht so frech«, sagt er trocken und schielt auf meinen Helm. »Gut, dass du den dabeihast, nicht wahr? Setz ihn lieber auf, damit die Haare nicht durcheinandergeraten.«

Ria würde Maxim für diesen Spruch die Zunge rausstrecken. Um der Versuchung zu widerstehen, erinnere ich mich daran, dass Maxim als Arbeitsgruppenleiter in der Polizei-Rangordnung über mir steht und ich auf seine Beurteilung in knapp sieben Wochen angewiesen bin. Das Geld, das mit der daraus resultierenden möglichen Beförderung einhergeht, brauche ich dringend, um weiterhin die Spielschulden meines Vaters zu begleichen und Glorias Traum vom Medizinstudium aufrechtzuerhalten. Wenn die bessere Position nur nicht so viel mehr Arbeitszeit in Anspruch nehmen würde, aber ich schätze mal, damit werde ich auch irgendwie zurechtkommen. Man bringt doch immer irgendeine Form von Opfer. »Geht klar, Chef.«

Maxim glättet sein schwarzes Haar und erwidert meinen Blick. »Das, zum Beispiel, klingt wie Musik in meinen Ohren. Wir sehen uns im Funkwagen.«

Er boxt mir abermals gegen die Schulter und ich strecke ihm nun doch die Zunge raus, aber erst, als er mir seinen breiten Rücken zugedreht hat.

»Richtiger Klappspaten«, knurre ich und bekomme von Victoria nur ein Schulterzucken zurück. Sie bestätigt mir das, was niemand hier laut ausspricht: So ist es eben, beschwer dich nicht .

Nur schaffe ich das ausgerechnet bei Maxim nicht. Worüber ich mir Gedanken machen sollte, definitiv. Es sollte mich eigentlich nicht weiter kümmern, wie herablassend er mich behandelt, weil ich meinen Mitmenschen wiederum oft mit weitaus weniger Respekt gegenübertrete. Sarkasmus, Ironie und dämliche Sprüche sind mein Halt. Meine besten Freunde, die mir helfen, nicht aus Versehen etwas auszuplaudern, über das ich schweigen muss.

Mein Blick findet wieder Maxim, der sich am Eingang zur Wache mit Victorias Streifenpartnerin unterhält. Ich unterdrücke ein weiteres Gähnen.

»Sicher, dass es dir gut geht?«, will Victoria erneut wissen.

»Ich komm schon klar«, winke ich ab und hole mein Handy aus der Hosentasche, um ihr nicht noch einen verwundbaren Charakterzug zu offenbaren. Keine Nachricht. Das ist gut, weil es bedeutet, dass mein Vater mich im Augenblick nicht braucht. Allerdings beweist mir der leere Sperrbildschirm auch, dass Levy immer noch wütend auf mich ist.

Wenn einer meine Verzweiflung über die neuen Kollegen und den ganzen anderen Mist, der im Moment schiefläuft, verstehen würde, dann Levy. Er war der Einzige, dem ich so gut wie alles anvertraut habe. Levy ist unfassbar ehrlich und direkt, er trägt sein Herz auf der Zunge. Eine Angewohnheit, die mich schon immer genervt hat. Aber dafür trifft er eben mit wenigen gezielten Nachfragen direkt auf den Kern meiner Probleme und bis zum Festival im Sommer war er zu hundert Prozent verlässlich.

Ich überlege, ob ich Victoria nicht zumindest wegen ihm ansprechen sollte, weil … seit er zusammen mit seiner Freundin Charlie in Irland ist, ignoriert er alle meine Nachrichten. Und das tut einfach nur weh. So weh, dass ich mir mittlerweile jedes seiner TikToks anschaue und manchmal darunter kommentiere. Obwohl ich mir Levys Ausführungen zu sexistischem Verhalten und toxischer Männlichkeit nur noch über einen Bildschirm reinziehe, habe ich trotzdem das alberne Gefühl, dass er immer noch für mich da ist. Weil … Scheiße, es gibt im Moment echt niemanden mehr, mit dem ich reden kann.

Gloria meint, dass sie zwischen den Stühlen und in dieser Sache auch eher auf Levys Seite steht. Womit sie recht hat. Ich weiß, dass ich Levy die Wahrheit über die Todesumstände seiner Ex-Freundin Sophie schon viel früher hätte sagen müssen und nicht erst, als er mich sozusagen dazu genötigt hat, mit ihm zu reden. Dass ich aus Angst um meinen Job geschwiegen habe, tut mir leid. Wirklich, wirklich leid. Deshalb habe ich Levy vor einem halben Jahr zum Berliner Flughafen gefahren, damit er Charlie dort sagen konnte, wie sehr er sie liebt. Trotzdem hat er mich vor deren gemeinsamem Work-and-travel-Aufenthalt in Irland um eine Auszeit gebeten und die besteht anscheinend weiterhin.

»Kommst du? Der Große wird sonst ungeduldig.« Victoria nickt in Richtung Eingang, wo Maxim gerade die Hand hebt, um uns zu sich zu rufen. Damit bleibt keine Zeit mehr, um mit ihr zu reden, was mir völlig egal zu sein hat. Denn wie ich vorhin schon festgestellt habe: So ist das eben, beschwer dich nicht.

Die Fahrt auf den Teufelsberg ist zwar lang, aber zu einer ausgedehnten Unterhaltung mit Maxim kommt es nicht, weshalb ich den Kopf zurücklehne und für einen Moment die Augen schließe. Das Wageninnere riecht nach kaltem Rauch. Niemand würde auf die Idee kommen, sich im Polizeiwagen eine Zigarette anzuzünden, doch der Gestank klebt an den meisten Uniformen. Ich rauche nicht und vielleicht bin ich deshalb ständig so scheißmüde.

Schwachsinn.

Eigentlich wollte ich auf der Wache wenigstens noch einen Kaffee trinken, wo Maxim dann aber lieber meine Männlichkeit infrage gestellt hat. Nun muss ich es eben ohne hinkriegen. Ohne Fehler und ohne vor Erschöpfung umzufallen.

Maxim parkt den Polizeiwagen neben den beiden anderen. »Lächerlich«, beschwert er sich beim Abschnallen. »So wie es da oben leuchtet, hätte früher oder später eh jemand die Polizei gerufen. Die Festivalveranstalter werden jedes Jahr dreister. Wird Zeit, dass wir sie drankriegen. Bereit?« Er schlägt mit der Faust auf das Lenkrad, bevor seine Hand schon wieder grob gegen meinen Arm donnert.

Ich atme einmal tief durch, ignoriere das Pochen in meinem Oberarm, den Maxim zum x-ten Mal heute malträtiert hat, und nicke. Ab jetzt bin ich nicht mehr Otis, sondern Polizist. Ohne schlechtes Gewissen, das ich so ziemlich jedem in meinem Umfeld gegenüber habe, und vor allem ohne Angst.

Ich steige zusammen mit Maxim aus, schalte meine Taschenlampe ein und gehe neben meinen Kollegen über platt gestampftes Gras auf den Rave zu. Jetzt sehe ich auch, was Maxim eben meinte: Das Bergplateau ist bunt erleuchtet. Rote und grüne Blitzlichter zucken über das verfallene Spionagezentrum bis runter in die Stadt, basshaltige Musik schallt uns von allen Seiten entgegen. Die Veranstalter geben einen Scheiß darauf, ob sie erwischt werden. Maxim hatte gestern also den richtigen Riecher. Er hat veranlasst, dass wir vorerst in einer kleinen Gruppe vorausgehen, um nicht aufzufallen. Im Geheimen lässt sich eine illegale Veranstaltung leichter hochnehmen. Dennoch hält sich eine zweite Gruppe in der Nähe auf, falls die Nummer eskaliert. Die Eigensicherung steht immer im Vordergrund. Aber ich schätze mal, dass wir die Verantwortlichen auch zu sechst drankriegen. In spätestens einer halben Stunde ist die Party aufgelöst.

»Ich knöpf mir den DJ vor«, befiehlt Maxim, kaum sind wir oben angekommen, und nickt an der tanzenden Menge vorbei einem jungen Mann zu, der gerade passend zum zugegeben krassen Beat beide Arme in die Luft reißt, bevor sein Blick zurück zu Victoria und den anderen Kollegen wandert. »Ich will, dass ihr hinten absichert. Otis checkt die Getränkeausgabe. Irgendetwas sagt mir, dass sie hier keine Verkaufslizenz vorweisen können. Aufs Stichwort ›Polizei Berlin, stehen bleiben‹ geht’s los. Verstanden?«

»Verstanden!«, wiederholen wir gemeinsam wie als Mantra. Mit einer Hand reibe ich mir dabei über die Brust, weil es da drin während Maxims Anweisungen enger geworden ist … Verdammt, ich bin so müde, dass ich gerade nicht in die professionelle Entschlossenheit finde, die mich sonst durch jeden Einsatz trägt.

Abermals atme ich tief durch und auf Maxims Brüllen hin renne ich auf den Campingtisch zu, der als Getränkestand dient. Beim Laufen merke ich, wie zur Enge in der Brust noch ein hohles Pochen im Magen hinzukommt. Dass ich seit dem Aufstehen nur zwei Äpfel gegessen habe, muss jetzt zur Nebensache werden, weshalb ich die Zähne aufeinanderbeiße. Den tätowierten Typen, der mit gesenktem Kopf an mir vorbeihetzt, lasse ich genauso außen vor wie die Getränkeausgeberin, die genauso panisch vor mir wegläuft.

Die beiden interessieren mich nicht. Ich habe es auf die kleine Frau mit Sturmmaske neben einem Campingtisch abgesehen, auf dem rote Plastikbecher stehen. Eine Maskierung wird meiner Erfahrung nach ausschließlich von Leuten getragen, die etwas zu verbergen haben: Veranstalter eines illegalen Rave-Festivals, beispielsweise.

Das Mädchen reißt seinen Kopf unschlüssig hin und her und blickt dann in meine Richtung. Wegen der Maske kann ich es nicht erkennen, aber ich schätze mal, es ist der klassische Fuck-ich-bin-am-Arsch-Blick, wegen dem ich mich eine Sekunde lang mies fühle. Denn das DJ -Kollektiv ist wirklich gut und … zur Hölle, warum denke ich gerade überhaupt über so was nach?

Jetzt hab ich die Kleine fast aus den Augen verloren.

Frustriert schlage ich einen Bogen und renne ihr hinterher.

»Halt! Polizei!«

Ich bin mir sicher, dass ich sie nicht noch mal zum Stoppen auffordern muss, denn die junge Frau hat überhaupt keine Kondition. Ihren keuchenden Atem kann ich bis zu mir hören, als sie Kurs auf ein von Bäumen geschütztes Waldstück nimmt. Abermals ziehe ich scharf die Luft ein und ein paar Sekunden später schmeiße ich mich auf sie, woraufhin sie sich unmittelbar mit Händen und Füßen gegen mich wehrt.

Meine lautstarke Ankündigung, dass ich von der Polizei bin, soll vorrangig absichern, dass sich hinterher niemand damit rausredet, vor einem vermeintlich Kriminellen weggelaufen zu sein. Die Veranstalter des Festivals sind Profis. Sie machen keine Fehler und sie kennen alle Tricks.

Kurz und knapp biete ich ihr nun eine simple Problemlösung an, die sie mit genau solch einem frechen Spruch ablehnt, wie ich ihn nach Maxims Sticheleien heute definitiv nicht mehr hören kann. Einen Augenblick später lasse ich ihr etwas mehr Bewegungsfreiheit, die sie dazu nutzt, um ihren Kopf umständlich zu mir nach hinten zu drehen. Ich erinnere abermals daran, dass mit mir zu kooperieren gerade die beste Option ist.

Wieder gibt sie mir keine eindeutige Zustimmung, verhält sich unkooperativ und angriffslustig. Professionell bleiben , rufe ich mir daher im selben Moment in Erinnerung, in dem ich dann doch einen eher patzigen Ton anschlage.

»Gut«, sage ich. »Dann machen wir es auf die harte Tour. Bist nicht die Erste, die darauf abfährt.« Ich weiß, wie unnötig vor allem der zweite Satz ist, und schon als er über meine Lippen kommt, bereue ich ihn. Aber so läuft das ständig – ich denke etwas Bescheuertes und bevor ich den Gedanken an der Leine zurückziehen kann, ist er schon ausgerissen und über meine Lippen gehuscht.

Das ist scheiße. Schließlich bin ich eigentlich kein pubertierender Teenager mehr. Aber an manchen Tagen kann ich einfach nicht anders und das Einzige, was mein erschöpfter Verstand gerade hinbekommt, ist, zu der Erkenntnis zu kommen, dass heute so ein Tag ist.

Im nächsten Moment nehme ich ein leises Schnauben wahr, als sich die junge Frau abermals windet, und dann erst ihr heiseres Lachen, das sich daruntermischt. Sie schafft es irgendwie, ihren Oberkörper unter mir zu drehen.

»Otis?«, fragt sie belustigt, und da weiß ich, dass ich vorhin recht hatte.

Die Schicht heute wird einfach nur beschissen.