EINS, ZWEI, POLIZEI
DREI, VIER – FUCK.

Ella

Sein überraschter Blick schießt von mir über seine linke Schulter in die vage Richtung seiner Kollegen nach oben und wieder zurück. Muss der Abend so enden? Das ist unfair. Augenblicklich bete ich, Juan möge eine bessere Kondition haben als ich und dem Polizisten, der ihm dicht auf den Fersen war, entwischt sein. Ich meine, es ist immerhin mein DJ -Controller, den er sich panisch unter den Arm geklemmt hat. Die Situation ist doch einfach nur beschissen. Eigentlich erwarte ich, dass ich eindeutige Geräusche vom Plateau her höre, aus denen ich mir zusammenreimen könnte, was dort passiert, aber es ist mucksmäuschenstill … bis auf das Räuspern über mir.

Im Schein der Taschenlampe erkenne ich das weißblonde Haar wieder, das an den Seiten kurz geschnitten ist und nur vorne bis in die Stirn fällt. Der krasse Kontrast zu seinen dunklen Augen und den geschwungenen dichten Brauen darüber ist mir schon damals auf dem Festival aufgefallen, aber es verwundert mich, wie vertraut er mir ist. Als hätte Otis mir erst vor ein paar Stunden einen undeutbaren Blick zugeworfen, nachdem ich meinen Mund beim Rockfestival widerwillig auf seine stoppelige Wange gepresst habe.

Auch ohne seine unangebrachte Ankündigung eben hatte ich zugegeben noch im Ohr, wie seine Stimme klingt, wenn er … respektlosen Müll von sich gibt, der anscheinend selbst im Job unentwegt seine Lippen verlässt. Diese öffnen sich exakt in dieser Sekunde.

»Schön, dass wir uns anscheinend schon kennen«, sagt er und fährt sich mit den Fingern durchs Haar. Nur den linken Ärmel seiner Uniform hat er ein Stück hochgekrempelt. »Das verkürzt die Datenaufnahme.«

»Wow, dann ist heute ja mein Glückstag.« Keine Ahnung, wieso das gerade aus mir rauskam, aber wenn sich irgendwer anmaßt, automatisch recht zu haben, nur weil er eine Uniform trägt, verfalle ich in Sarkasmus. Und ganz offensichtlich ist Otis jemand, der zwar ziemlich viel Meinung hat, dafür aber wenig Ahnung, was gleich der nächste Satz unterstreicht.

»Ich nehm mal an, du und ich, wir befinden uns dann auch nicht zum ersten Mal in dieser Position?«

Bitte was?

Ich sehe, wie er herausfordernd die Augenbrauen zusammenzieht, und das reicht aus, um meinen Puls sofort wieder in die Höhe schnellen zu lassen. In meinen Schläfen fängt es an zu pochen, denn … Das ist so typisch für Otis. Deshalb konnte ich den Typen schon auf dem Festival nicht leiden, aber wahrscheinlich ist es in meiner Situation trotzdem sinnvoller, meine Abneigung ab jetzt auf sachliche Antworten zu beschränken. Denn ich glaube nicht, dass Otis mir eine Möglichkeit einräumen wird, ihm irgendetwas zu erklären. Er wirkt eher so, als könne er mir die halbe Nacht seine Macht demonstrieren und auf meinen Oberschenkeln hocken bleiben, die unter seinem Gewicht mittlerweile taub geworden sind. Dafür spüre ich den eiskalten Boden durch meine Kleidung hindurch nun umso deutlicher. Wenn ich mich wegen Otis verkühle, dann … dann halte ich das unbeherrschte Fick dich , das mir schon die ganze Zeit auf der Zunge liegt, nicht mehr zurück. Hätte ich doch wenigstens die blöde Ja…

O nein, die Werbeflyer in den Jackentaschen. Scheiße.

Ich blicke unauffällig nach rechts und links, kann das Stück Stoff in der Dunkelheit aber nirgendwo erkennen.

Das Gespräch muss also ganz dringend ohne weitere Provokationen funktionieren. Aber wenn ich einfach alles, was Otis zu mir sagt oder in dieser Uniform ausstrahlt, an mir abprallen lasse, wird das bestimmt klappen.

»Nein, du bist der erste Polizist, der auf mir draufsitzt«, murmle ich so sanft wie möglich und lächle gezwungen, was bestimmt ziemlich minderbemittelt aussieht, er aber unter der Maske zum Glück eh nicht sehen kann. Ich schlucke und öffne den Mund, um mich ein bisschen bei ihm einzuschleimen, aber … ich schaffe es nicht, mich auf Knopfdruck in jemanden zu verwandeln, der offensichtlichen Sexismus ignoriert. Ich kann Otis nicht damit durchkommen lassen, wenn er jetzt auch noch zweideutig
grinst.

Ist das diese Uniform? Denkt er, er ist der König der Welt, wenn er ein paar Angeber-Abzeichen auf der Schulter trägt?

Was auch immer Otis glauben lässt, so mit mir umspringen zu können, ich schiebe mit zusammengebissenen Zähnen hinterher: »Auch privat nicht, wenn du es genau wissen willst. Für dich also noch mal zum Mitschreiben: Es wäre mir recht, wenn wir unser Gespräch auf die Situation hier beschränken würden, an der ich absolut unschuldig bin.« Was ich gerade eindrucksvoll bewiesen habe, indem ich maskiert vor einem Polizisten weggelaufen bin.

»Es wird dich wundern, aber exakt das behaupten auch jene Leute, die so ziemlich genau das Gegenteil davon meinen«, erklärt er in gelangweiltem Tonfall, doch seine Mundwinkel zeigen weiterhin nach oben. »Ich empfehle dir auf der Wache eine bessere Ausrede, falls ich dich dorthin mitnehme. Aber natürlich gilt erst mal die Unschuldsvermutung.«

Ich nicke nur, auch wenn es mir schwerfällt, die Klappe zu halten. Otis gibt mir nämlich gerade das Gefühl, dass es zwischen uns beiden gleich gewaltig krachen wird. Wie wenig er von mir hält, strahlt doch allein schon das breitspurige Grinsen in seinem Gesicht aus. Und eigentlich auch sonst jede verdammte Faser seines durchtrainierten Körpers.

»Kleine Bitte«, sage ich kurz angebunden und bewege im selben Moment meine Beine, die deshalb zu kribbeln anfangen. »Würdest du vielleicht erst mal von mir runtergehen?«

Ohne ein weiteres Wort hebt Otis das linke Bein über mich hinweg und kniet eine Sekunde später links neben mir. »Sorry«, sagt er und hört sich dabei kein bisschen so an, als würde er die Entschuldigung wirklich so meinen. Der darauffolgende Befehl klingt auch schon wieder zynisch. »Ich muss jetzt wiederum dich bitten, die Maske abzunehmen.«

Ich lache auf, halte dann aber inne, weil Otis nicht den Eindruck macht, als würde ihn der Spruch auch an einen billigen Porno erinnern. Er sieht aus, als ob er die wenig freundliche Unterredung gern schnell hinter sich bringen würde, und auch ein kleines bisschen erschöpft.

Während ich mich aufrichte, frage ich mich, warum sich so viele kleine, tiefe Fältchen um Otis’ Augen herum bilden. An die kann ich mich gar nicht erinnern. Charlie meinte, dass er die Ausbildung zum Polizisten gemeinsam mit ihrem Freund Levy begonnen hat, dann aber nach einem Jahr für ein weiterführendes Studium empfohlen wurde und dafür an die Fachhochschule wechseln musste. Was ich damit sagen will, ist, dass Otis dementsprechend nicht viel älter als Levy sein kann, vierundzwanzig allerhöchstens, und trotzdem dominiert eine Erschöpfung seine Gesichtszüge, die ich eher von meinen älteren Kollegen kenne. Ich würde lügen, würde ich behaupten, nicht wissen zu wollen, was Otis derart mitnimmt, was nur beweist, wie bescheuert ich bin. So viel zu meinem Plan, alles, was mir an ihm auffällt, an mir abprallen zu lassen. Es ist Otis. Der Mistkerl vom Festival, der für jede Situation einen unpassend sexistischen Spruch findet, was er mir erst vor ein paar Sekunden bewiesen hat, und der …

… anscheinend keine Geduld mehr mit mir hat.

Mit Nachdruck deutet er auf die Maske. »In deinem eigenen
Interesse solltest du sie sofort abnehmen. Sonst muss ich das tun.«

»Was? Nein, ich mach ja schon.« Ich zögere nicht lange und ziehe den Stoff vom Gesicht.

»Oh.« Otis starrt mich an, als hätte er gerade Hannibal Lecter persönlich davon überzeugt, sein Gesicht zu enttarnen. Es gibt also doch eine Gelegenheit, bei der selbst Otis kein Spruch einfällt. Dafür ist mein Kopf jetzt voll damit und eine Anspielung auf den Horrorstreifen kann ich mir nicht verkneifen. »Keine Angst, ich hab keinen Hunger.«

Otis nickt nur.

Unschlüssig warte ich darauf, dass er etwas sagt, aber das tut er nicht. Was mich überraschenderweise genug verunsichert, dass ich kurz erkläre: »Wegen Hannibal Lecter. Der trägt eine Maske, damit er niemanden aufisst.«

»Schon verstanden.« Ohne die Miene zu verziehen, holt Otis einfach Block und Stift aus seiner Brusttasche, um mich kurz darauf mit einem Ausdruck anzusehen, der nun auf absolut keine Gefühlsregung mehr schließen lässt. Er erinnert mich an den Blick, den er mir nach unserem Kuss zugeworfen hat. Besser, ich wechsle das Thema.

»Was passiert jetzt? Ich habe nichts getan und –«

Otis unterbricht mich. »Hast du deinen Ausweis dabei?«

Sofort schießt mir Hitze ins Gesicht, weil ich der Anweisung der Veranstalter selbstverständlich gefolgt bin und meine Papiere deshalb zu Hause liegen. Außerdem … muss Otis eigentlich so tun, als ob wir uns noch nie begegnet wären? Ist »oh« wirklich das Einzige, was er mir zu sagen hat? Es ist doch offensichtlich, dass er weiß, wer ich bin. Ja, es ist ein halbes Jahr her, dass ich ihn zuletzt gesehen habe, aber damals habe ich ihn geküsst. Auf die Wange zwar und auch nur wegen Lenis bescheuerter Flunkyball-Zusatzregel, aber trotzdem.

Ich schlucke. Schlucke alles hinunter, was Otis mir nach dem Kuss damals gesagt, wie er mich angesehen hat. Langsam schüttle ich den Kopf, presse beide Hände rechts und links von mir auf den gefrorenen Boden, um aufzustehen, worauf Otis ohne Zögern reagiert.

Ruckartig beugt er sich vor, womit mir sein Gesicht für einen kurzen Moment so nah ist, dass ich die feine Narbe oberhalb seines rechten Nasenflügels erkennen kann. Sie ist verblasst und wahrscheinlich jahrealt. Dann steht Otis auf. Die Bewegung wirbelt seinen Geruch auf. Ich rieche kalten Rauch und nehme einen muffigen Hauch ungewaschener Kleidung wahr, was mir einen unangenehmen Schauder den Rücken entlangjagt.

Ganz automatisch weiche ich zurück. Dass Otis selbst raucht, glaube ich nicht. Der Gestank haftet nur an seinen Klamotten, weil er viel Zeit unter Rauchern verbringt. Das ist bei den Kids im Kindergarten hin und wieder auch so. Allerdings wird der schwache Geruch bei ihnen von Waschmittel übertüncht, mit dem ihre Eltern die Kleidung gesäubert haben. Otis’ Uniform hingegen hat wohl schon länger keine Waschmaschine mehr von innen gesehen.

Ich will nicht über die Hintergründe dafür nachdenken, befürchte aber, dass sich das meiner Kontrolle entzieht. Und das nervt mich. Mein Kopf ist gerade ein richtiges Klischee. Aber natürlich grüble ich jetzt darüber nach, weil ich es nicht ignorieren kann, wenn mir solche Dinge an jemandem auffallen.

Ich bin Erzieherin, und manchmal kommt es vor, dass selbst kleine Veränderungen an Kindern wie ungewaschene Kleidung ein Warnzeichen sein können. Nur sollte mir klar sein, dass es eine Milliarde Gründe haben kann, weshalb Otis seine Uniform nicht regelmäßig wäscht, und wahrscheinlich muss mir keiner davon Kopfzerbrechen bereiten. Vor mir steht ein erwachsener Mann, kein Kleinkind. Warum tue ich mir dann nicht selbst einfach den Gefallen und vergesse schleunigst wieder, dass Otis, seine müden Augen mit den zig winzigen Fältchen und die ungewaschene Uniform existieren?

»Mein Ausweis liegt zu Hause«, sage ich ihm die Wahrheit, als ich mich ebenfalls aufrapple, woraufhin Otis sofort einen Schritt nach hinten macht. »Ist das ein Problem?«

»Nein, du musst ihn nicht dabeihaben. Nenn mir bitte kurz deine Daten.«

Klingt das schon wieder total kompromissunfähig und überheblich? Shit, ich hätte Otis eben die Hölle heißmachen können, als ich die Maske vom Kopf gezogen habe und er das arrogante Riesenarschloch für zehn Sekunden links liegen gelassen hat. Stattdessen darf ich jetzt dabei zusehen, wie seine Augenbrauen wieder nach oben wandern, während er mit dem Kugelschreiber zweimal auf das weiße Papier in seinem Spiralblock tippt.

»Ich kann die Daten schnell überprüfen lassen und danach entscheide ich, ob es einen Grund gibt, dich mit auf die Wache zu nehmen.«

»Es gibt keinen.«

Otis unterdrückt ein Gähnen.

Klar, drück mir ruhig rein, dass ich dir deine kostbare Zeit raube.

Aber dann fällt mir ein, dass ich erst vor ein paar Minuten bemerkt habe, dass er müde aussieht. Könnte sogar sein, dass ich länger als eine Sekunde über die Gründe dafür nachgedacht habe. Ganz vielleicht tue ich das jetzt schon wieder. Eine schlagfertige Reaktion bleibt dementsprechend aus.

»In Ordnung, dann sag mir einfach deinen Nachnamen und um den Rest kümmere ich mich«, verspricht Otis nun, aber als ich daraufhin zu ihm hochschaue, bin ich mir da irgendwie nicht so sicher, weil seine strengen Gesichtszüge kein bisschen zu seinem Friedensangebot passen. Falls es überhaupt eines war.

Abermals tippt sein Stift auf den Block. »Heißt, du kannst im Anschluss daran gehen.«

Ich vertraue ihm nicht, kein bisschen. Aber welche Möglichkeiten bleiben mir?

»Okay, hör zu«, sage ich, »das hier ist wirklich wichtig. Ich bin Erzieherin und wenn ich einen polizeilichen Vermerk in mein Führungszeugnis bekomme, dann –«

»Kann das berufliche Konsequenzen nach sich ziehen?«

Mein ganzer Körper spannt sich bei seiner Nachfrage an. »Ja.«

Otis zuckt abermals mit den Schultern. »Das kann ich verstehen.« Mehr fügt er nicht an.

Warum …? Meine Gedanken überschlagen sich, weil sein überraschendes Verständnis zig Fragen aufwirft. Weshalb sollte gerade jemand wie Otis meine Situation nachempfinden können? Empathie und Mitgefühl erwarte ich eher von Leuten wie, keine Ahnung, Charlies Freund Levy, zum Beispiel. Der hat sogar einen TikTok-Kanal, auf dem er anderen mit seiner einfühlsamen Art hilft. Aber Otis …

»Ist das jetzt irgend so eine Polizeimasche?«

»Was?«

»Ob du das nur sagst, damit ich nachgebe? Du spielst mir falsches Verständnis vor, damit ich dir vertraue und etwas zugebe, das ich nicht getan habe.«

»Ja, natürlich. Auf der Wache zerschlage ich dann kurzerhand unsere Vertrauensbasis und werfe dich zusammen mit irgendwelchen Schwerverbrechern in eine Zelle.« Er deutet eine Geste an, die meine geistige Zurechnungsfähigkeit infrage stellt.

»Wo ich deiner Meinung nach auch hingehöre, richtig?«

Otis seufzt, als er mit dem Daumen die Stelle oberhalb seines Nasenflügels massiert, wo mir vorhin die feine Narbe aufgefallen ist. »Das habe ich nicht gesagt.«

»Aber gemeint«, platzt es aus mir heraus. »Tut mir wahnsinnig leid, dass ich im Plattenbau groß geworden bin und es nur zur Erzieherin gebracht habe. Kann ja nicht jeder so … so makellos sein.«

»Wie ich?«

»Ja«, sage ich aufgebracht und bin sofort verunsichert. Mir ist auf die Schnelle kein besseres Wort eingefallen, weil Otis mich mit seinem Stiftgewackel wahnsinnig macht. Dadurch zuckt mein Blick ständig zu seinem Daumen und Zeigefinger, mit denen er den Kugelschreiber festhält, und seine Hände sind nun einmal makellos . Otis hat schöne Fingernägel, kurz und gepflegt, und jetzt frage ich mich ernsthaft, ob er regelmäßig zur Maniküre geht. Ist das etwas, das Otis tun würde? Die Vorstellung ist jedenfalls so witzig, dass ich spontan grinsen muss.

Das bemerkt Otis anscheinend nicht, denn er zuckt einmal mehr mit den Schultern. »Aha.«

Typisch. Jetzt habe ich mich ja doch von ihm provozieren lassen und viel zu lange über das nachgedacht, was er tut und sagt. Toll. Ganz, ganz toll. In meinem Magen beginnt es zu ziehen.

»Es ist ganz sicher kein Trick, wenn ich dir sage, dass ich Verständnis für deine Situation habe.« Otis’ Blick wandert langsam runter zu meinen verkrampften Händen und wieder hoch. »Ich brauche der Vollständigkeit halber aber dennoch deinen Nachnamen. Den Rest kläre ich oben mit den Kollegen. Wenn ich sage, dass ich mich darum kümmere, dann tue ich es auch.«

Ich reibe mir die Augen, weil es in ihnen anfängt verräterisch zu brennen. Das alles ist so scheiße. Ich will keine Schwäche, keine Angst zulassen und am allerwenigsten will ich, dass mich Otis’ Verständnis eigenartig berührt. Er ist ganz sicher nicht der Typ, in dessen Hände ich mein Schicksal legen möchte. Große Hände, zugegeben, mit durchtrainierten Oberarmen, superbreiten Schultern und, äh, Fingern. Die streckt er gerade mit einem Lächeln nach mir aus. Ein Lächeln, das definitiv nicht spöttisch ist, sondern versöhnlich und verständnisvoll.

»Ich verspreche es dir … Ella.«

Für einen Moment blitzt das Gefühl vom Festival wieder in mir auf. Das Gefühl nach unserem Kuss und seinen Worten. Ein völlig unangebrachtes Kribbeln, das mir dämlicherweise einreden will, dass Otis jemand ist, den ich, ganz egal, wie wenig wir uns leiden können, nachts um vier anrufen und dem ich vertrauen könnte. Was zur Hölle? Das Gefühl habe ich schon auf dem Festival nicht kapiert und dass es jetzt wieder auftaucht, macht mich wahnsinnig. Es passt so gar nicht zu meiner Vorstellung von einem Gespräch mit Otis, aber immerhin verdrängt es das unangenehme Ziehen. Zerknirscht konzentriere ich mich auf die silberfarbene Dienstnummer auf seiner Brust. Mehrfach wiederhole ich die Zahlenfolge still im Kopf, bis …

»Ella?«

Ich blicke hoch und direkt in Otis’ Gesicht, auf dem ein Ausdruck liegt, der mir verspricht, dass wir das hinkriegen. »Ja?«

»Ich brauche deinen Nachnamen.«

»Nowak«, erwidere ich. »Aber da darf wirklich kein Vermerk in mein Führungszeugnis geraten, weil ich sonst am Arsch bin, verstehst du das?«

»Ja.« Er berührt ganz kurz meine Schulter, was mich vollkommen eiskalt erwischt. Mein Herz zieht sich zusammen, um sofort doppelt so schnell weiterzuschlagen. »Die Sache wird keinerlei Konsequenzen für dich haben, in Ordnung?«

»Was macht dich da so sicher?«, frage ich hastig und vermutlich aus reiner Hilflosigkeit auch ein klein wenig zu aggressiv, denn Otis’ Mundwinkel erschlaffen daraufhin wieder.

»Weil ich mich darum kümmere. Soll ich es dir schriftlich geben?«

Jetzt bin ich wirklich kurz davor zu heulen. Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich ihm einen Konter reindrücken will oder ob womöglich ein Dankeschön angebrachter wäre. Ich darf jetzt nicht losflennen. Nicht vor Otis, dem unsensibelsten Mann der Welt, der offensichtlich ein kribbelndes Gefühl der Geborgenheit in meinem Magen auslöst, das zu allem Übel nicht verschwinden will.

»Schön«, presse ich hervor und blinzle, um gegen die Tränen anzukämpfen. Das soll komplett unverfänglich klingen, aber ich befürchte, meine Stimme ist dünn und piepsig, weshalb ich auch nichts weiter anfüge.

Als Otis daraufhin den Mund öffnet, senke ich den Kopf. Ich stelle mich auf den unpassendsten und wahrscheinlich auch sexistischsten Spruch ein, den ich je zu Ohren bekommen werde, den ich aber auf gar keinen Fall kontern und wegen dem ich nicht losheulen darf. Keine Ahnung, was von beidem schlimmer wäre.

»Frau Nowak?«

Mein Blick zuckt erneut hoch. Otis hält mir wieder seine Hand hin, nach der ich diesmal greife, was dazu führt, dass er abermals kurz lächelt und sie wie zur Verabschiedung schüttelt.

»Schönen Abend noch.«

»Ernsthaft?« Ich bin perplex und erst als ich ausatme, merke ich, dass ich die Luft angehalten habe. »Ist das ein Witz? Du … du erwartest doch jetzt irgendetwas von mir.« Auf was für dumme Ideen bringe ich ihn denn da? Ich glaube, ich komme gerade nicht damit klar, dass das Gespräch mit Otis so diplomatisch verläuft.

»Ich erwarte eigentlich nichts, nein.« Otis hält meine Hand noch immer fest, seine Augen blitzen im Taschenlampenlicht. »Ich dürfte im Dienst eh keine Gegenleistung annehmen, aber …«

Er schaut mich an wie … ich weiß nicht. Wie jemand, der sein Gegenüber gleich schachmatt setzt? Ich suche erfolglos nach Worten, um das, was da jetzt gleich kommt, abzufangen.

»Aber das gilt ja nicht für mein Privatleben«, beendet er schließlich den Satz. »Abschnitt 55 – wenn du dich bedanken willst, komm gern morgen früh um sechs nach Dienstschluss vorbei.«

Sein Angebot fühlt sich an, wie den Kopf einmal in eiskaltes Wasser zu tauchen: Ich kann wieder klarer denken.

»Nein danke«, fauche ich und lasse seine Hand los. Otis ist ein Mistkerl und dabei bleibt es. Auf manche Dinge im Leben kann man sich eben doch verlassen. Es aber direkt aus seinem Mund bestätigt zu bekommen, hilft, dass auch das dämliche Kribbeln in meinem Magen verschwindet. »Darauf kann ich verzichten.«

Dass Otis jetzt auch noch schallend loslacht, finde ich so unnötig, dass das leise »Fick dich«, das seit Beginn des Gesprächs geduldig auf seinen Einsatz gewartet hat, nun doch meine Lippen verlässt. Dann mache ich kehrt und sprinte den Berg hinunter.