BOOM, BOOM, BOOM, BOOM
I WANT YOU IN MY ROOM
LET’S SPEND THE NIGHT TOGE-
WARTE, WAS? ÄH, NEIN?
Ella
»Wie zur Hölle kommt man denn auf so eine geniale Idee?« Charlie beugt sich so weit nach vorn, dass ihr Gesicht vor der Kameralinse verschwimmt. Leni hat mir gestern von unterwegs ein TikTok mit einem Cocktail-Themenabend geschickt, das … einfach nur richtig bekloppt ist. Und nicht nur, weil wir wegen des Videos seit drei Stunden mitten unter der Woche zu Katy Perrys Last Friday Night Cocktails trinken, obwohl ich morgen früh aufstehen und zur Arbeit muss. Trotzdem nippe ich gerade an einem giftgrünen Schreckliche-Ex-Freunde-Getränk.
»Sind das da etwa saure Gummischlangen in Ellas Cocktail?«, will Charlie wissen. »Ihr wisst, wie sehr ich die liebe.«
»Absolut«, bestätigt Leni mit einem breiten Grinsen und nimmt mir das halb gefüllte Glas ab, um es so in die Kamera zu halten, dass Charlie den flachen Weingummi am Rand besser sehen kann. »Der hübsche Giftcocktail hier steht symbolisch für alle toxischen Ex-Freunde.«
Charlie lacht. »Ihr seid verrückt! Schwenk das Handy mal über die restlichen Cocktails. Ich mag sehen, was ich alles verpasse.«
Nachdem Charlie im vergangenen Sommer ihren Freund Levy auf dem Rockfestival kennengelernt hat, arbeiten die beiden seitdem mit kurzen Unterbrechungen in Irland und bereisen so zusammen die Insel.
Leni greift nach ihrem Handy und filmt die übrigen Gläser. »Siehst du die Schnuller und Zuckerketten an dem gelben hier?«
»Lass mich raten …« Charlie prustet abermals unkontrolliert los. »Typen, die auf dem geistigen Niveau eines Kleinkindes stehen geblieben sind?«
Mit einem Jauchzen stellt Leni das Glas zurück auf den Tisch. »Dafür kriegst du einhundert Punkte und den hier haben wir im Übrigen Toni gewidmet.«
Ich muss lächeln, weil Charlie nachdenklich die Augenbrauen zusammenzieht, als Leni nun den feuerroten Cocktail hochhält. »Wofür steht das Rot?«, fragt sie. »Typen, die dich erst nach Kanada einladen und sich dann nie wieder bei dir melden?«
Das stimmt so nicht ganz, weshalb ich das alberne Bedürfnis habe, meinen Ex-Freund zu verteidigen. Obwohl er mir fremdgegangen ist. Mehrfach. Vor und während seines Kanada-Aufenthalts. Deshalb haben wir uns den ganzen Sommer über ständig am Telefon gestritten, bis mich Toni darum gebeten hat, zu ihm nach Kanada zu fliegen, damit wir in Ruhe über alles reden können. Immer wenn ich darüber nachdenke, dass ich einfach nicht mehr auf seine Einladung reagiert habe, woraufhin er mir eine Schlussmach-WhatsApp geschickt hat, wird mir übel. Weil wir zwei Jahre ein Paar waren. Und weil …
»Red-Flag-Alarm«, erklärt Leni da kichernd und dreht die Kappe auf ihrem Kopf so, dass deren Schirm nach hinten zeigt. »Ich glaube nicht, dass es rein theoretisch möglich ist, besser mit Ex-Freunden abzuschließen als mit diesen Cocktails.«
»Zumindest fällt mir spontan nichts ein, aber … erzähl mal, wie war deine Tour? Bist du heute erst zurückgekommen?«
»Heute Mittag, ja.« Leni seufzt und nimmt demonstrativ einen Schluck vom Red-Flag-Cocktail. »Ich hab keine Ahnung, wie ich es diesmal überlebt habe. Den Typen aus Nordfriesland meine ich, der mich ununterbrochen angegraben hat. Entweder die sprechen da oben kein Deutsch oder … o Gott, ich muss von dem gelben Cocktail trinken. Der Kerl war genauso schwer von Begriff wie ein dreijähriges Kleinkind.«
»Ich wette, meine Kids sind intelligenter als er«, sage ich.
»Na ja. Die Wette würde ich verlieren, von daher …« Geräuschvoll schlürft Leni die gelbliche Flüssigkeit leer und steckt sich anschließend einen Fruchtgummi-Schnuller in den Mund. »Und wie geht’s deinem TikTok-Farmer?«
Charlie lacht auf, nur um sich im nächsten Moment die Hand vor den Mund zu pressen. »Levy schläft schon, ich sollte eigentlich ein bisschen leiser sein.«
»Die Videos sehen wirklich mega anstrengend aus.«
»Ich weiß nicht, Levy bemalt Zäune und schert halb nackt Schafe.« Leni beäugt mich mit einem skeptischen Blick, bevor sie sich wieder ihrem Handy und damit Charlie zuwendet. »Das ist zumindest das, was er auf TikTok hochlädt. Was die beiden wiederum privat veranstalten …«
»Leni!« Charlies Stimme klingt ganz dumpf, so fest muss sie die Hand gegen ihren Mund pressen, um nicht loszulachen. »Vielleicht sucht ihr euch ja auch einfach mal einen Freund?«
»Klar, wieso sind wir da nicht von selbst draufgekommen?« Leni verdreht die Augen und schnappt sich kurzerhand mein Handy. »Am besten, wir swipen uns gleich bis zum passenden Kerl auf Tinder durch.« Sie tippt meinen Handycode ein, den ich seit Jahren nicht geändert habe, und öffnet die dazugehörige App, die einige Zeit braucht, um zu laden. »Ist ja heutzutage alles so einfach geworden.« Sie schnaubt. »Charlie hat recht. Ich weiß gar nicht, wieso wir uns immer so anstellen, Ella.«
Meine Mundwinkel wandern nach oben, während ich Lenis Finger dabei beobachte, wie sie immer wieder nach links wischen, kaum hat es mein altes Smartphone geschafft, eines der Profile anzuzeigen. »So schlimm?«
»Schrecklich! Dieser hier hat ein superverbissenes Lächeln und der Nächste hält gleich drei Hunde in die Kamera, schau!« So schnell, wie Leni den Handybildschirm in meine Richtung dreht, kann ich fast nichts erkennen. »O Gott, der sieht ja aus wie Günther Jauch.« Sie dreht das Gerät zurück zu sich und stößt einen spitzen Schrei aus. »Mann, Ella, dein Handy hängt ständig. Jetzt hätte ich fast auf Annehmen gedrückt. Du brauchst dringend ein neues.«
»Da geb ich Leni recht, ich hatte vergangene Woche zwei Butt Dials von Ellas Hintern.« Charlie gähnt leise. »Leute? Ich glaub, ich muss ins Bett. Schickt mir einfach ein Bild, wenn ihr jemanden gefunden habt. Übrigens sind wir in knapp zwei Wochen für ein paar Tage in Berlin.«
»Das sagst du uns jetzt erst?« Leni legt mein Smartphone auf ihrem Oberschenkel ab. »Weißt du, wie lange es dauert, eine Überraschungsparty zu planen?«
Charlie lacht auf. »Die du gerade gespoilert hast?«
»Eine Nicht-Überraschungs-Überraschungsparty organisiert sich auch nicht schneller«, lenke ich kichernd ein, woraufhin mir Leni mit einem eifrigen Nicken zustimmt.
»Ganz und gar nicht – egal, wir kriegen das schon hin.«
»Ihr seid die Besten«, sagt Charlie und legt nach einem halb gegähnten »Hab euch lieb« auf.
Sofort widmet sich Leni wieder meinem Handy. »Der hier ist ganz niedlich.« Swipe nach rechts. »Nein.« Nach links. »Nope.« Nach links. »Der … ach du Scheiße, schau mal!« Leni schiebt das Gerät mit dem Zeigefinger leicht in meine Richtung und –
Ich schrecke zusammen. »Otis!« Erschrocken will ich mir mein Smartphone schnappen, doch Leni durchschaut meinen panischen Versuch und swipt kurzerhand nach rechts. Na toll.
»Ist doch nur ein Witz«, beschwichtigt sie, als sie meinen schockierten Gesichtsausdruck sieht. »Als ob Otis –«
Der typische Sound, der ein Match bestätigt, ertönt aus meinen Handylautsprechern und unterbricht Leni, die losbrüllt und sich kurz darauf vor Lachen den Bauch halten muss.
»Ach. Du. Scheiße«, johlt sie. »Du hast ein Match mit Super-Sexist Otis.«
»Gib her!« Endlich schaffe ich es, Leni das Handy aus der Hand zu reißen und mit einem gemurmelten »Ich muss aufs Klo« und überraschend schnell pochendem Herzen ins Bad zu hasten. Absichtlich schlage ich dort den Klodeckel gegen die Fliesen, nur um ihn kurz darauf wieder leise zurückzuklappen und mich mit angezogener Jeans auf die harte Keramik zu hocken. Das Smartphone balanciere ich auf meinem rechten Oberschenkel, während ich den Fuß des anderen Beins auf dem Rand der Badewanne abstelle. Meine linke Hand wischt den Bildschirm hoch und runter, bis beim zehnten Mal plötzlich mein Unterleib verkrampft und ich mein Bein deshalb zurück auf die Fliesen stellen muss. Ernsthaft?
Ein leises Pling ist zu hören und ich schrecke schon wieder zusammen. Im selben Moment, in dem ich das Handy gerade noch rechtzeitig vor dem sicheren Fliesenbodentod rette, erscheint eine Tinder-Mitteilung auf dessen Display. Otis schreibt nur drei Worte.
Hast du Bock?
Darauf, wegen dir, ohne zu zögern, die App zu löschen und mein Handy zu verbrennen?
Haha. War das Absicht?
Deine Geburt? Ich hoffe doch nicht, dass Menschen in der Lage sind, so böse Dinge zu planen …
Du hättest auch einfach Nein schreiben können.
Hab ich aber nicht.
Warum?
Warum hast du dich in einer Welt, in der du alles hättest sein können, dazu entschieden, ein Arsch zu sein?
Willst du nicht wissen …
Meint er das ernst? Weil wenn ja, dann weiß ich nicht, was ich Otis darauf antworten soll. Ist das so eine Verletzter-Typ-mit-Bambi-Augen-Nummer? Jetzt bin ich wirklich drauf und dran, die Tinder-App von meinem Handy zu löschen, das so alt ist, da hat Leni recht, dass es beim Laden Probleme macht. Aber dann kommt noch eine weitere Nachricht.
Also, was ist? Hast du Bock? Soll ich vorbeikommen?
Kannst du damit aufhören?
Sag der Sonne, dass sie aufhören soll zu scheinen. Ich mein’s ernst.
Okay, was wird das hier eigentlich? Ich bin irgendwo zwischen verwirrt und kurz davor, laut loszuprusten. Mein Herz macht einen Hüpfer, weil jeder Schlagabtausch mit Otis irgendwie – nein, es existiert kein Wort hierfür.
Fieberhaft überlege ich deshalb, was ich Otis antworten kann. Schließlich fällt mir etwas ein, das ich hin und wieder auf TikTok sehe. Wenn Otis mitspielt, besteht die winzige Chance, dass er nur zu neunundneunzig Prozent ein Vollidiot ist.
Tastes like strawberries.
Was?
On a summer evenin’.
??
And it sounds like a song.
I want more berries.
And that summer feeling …
Ich soll’s dir also doch mit dem Mund besorgen?
O Gott. Das ist so … so … argh. Warum um alles in der Welt weiß Otis, um was es in diesem Harry-Styles-Song geht? Jetzt fällt mir überhaupt nichts mehr ein, was ich ihm schreiben könnte, außer einer weiteren Provokation, die unseren Schlagabtausch zugegeben ein kleines Stück über meine persönliche Grenze treibt:
Regel 1: Kein Kuss.
Regel 2: Kein! Kuss!
Regel 3: Auch nicht auf Wange oder Stirn.
Regel 4: Erst recht nicht dort!
Mein Herz pocht wie wild, weil ich mir bei dieser eindeutigen Ansage vorkomme wie dieser schreckliche Fifty-Shades-of-Grey-Kerl. Ich überfliege meine Nachricht noch mal und noch mal, und am allerliebsten will ich sie sofort wieder löschen, aber Otis hat sie bereits gelesen. Und gerade ploppt seine Antwort auf.
Gib mir zwanzig Minuten.
Für einen Moment erstarre ich vor Schreck, weil Otis augenblicklich offline geht. Äh, mein Angebot war Sarkasmus? Nicht ernst gemeint? Hilfe?! Als ob ich einfach so mit Otis ins Bett springen würde. Andererseits … er hat blonde Haare, nirgendwo sichtbare Tattoos, keine hohen Wangenknochen und selbst sein Adamsapfel ist mir noch nicht ins Auge gestochen … Oh, und er ist ein Vollarsch. Otis bedient keines meiner Ausschlusskriterien für belanglosen Ablenkungssex, ganz im Gegenteil: Er hat absolut nichts an sich, das mein Herz überzeugen könnte, mehr von ihm zu wollen.
Aber das kann ich doch nicht als Argument für ein One-Night-Stand mit ihm werten, weil … absolut nichts für ein One-Night-Stand mit Otis spricht?!
Ich muss meinen nicht ernst gemeinten Vorschlag sofort an der Leine zurückziehen, bevor er noch Schaden anrichtet. Schaden in Form von Otis, der mit irgendwelchen Erwartungen vor unserer WG -Tür auftaucht.
Hahaha. Ich muss morgen früh aufstehen, aber danke fürs Angebot.
Nein, das funktioniert so nicht. Löschen. Sofort löschen.
Scheiße. Und –
Doppelt Scheiße. Mein Unterleib krampft erneut. Ich massiere meinen Bauch auf Höhe der Eierstöcke, woraufhin es sich dort abermals schmerzhaft zusammenzieht. Tja, das ist Schicksal, oder?
Zerknirscht beuge ich mich nach vorn und öffne einen der Badezimmerschränke, um dort blind nach der Tamponverpackung zu tasten, die ich nach einem Blick in die Perioden-App auf dem Nachhauseweg zusammen mit Rasierern noch schnell im Drogeriemarkt mitgenommen habe. Ich kann Otis jetzt unmöglich schreiben, dass ich meine Tage bekomme. Damit würde ich etwas vollkommen Natürliches zur billigen Ausrede abwerten. Mach ich nicht, auf gar keinen Fall.
Otis? Warte!
Kommt jetzt gleich die Ich-hab-spontan-meine-Tage-bekommen-Ausrede?
Okay, jetzt bin ich sauer. Weil sich gerade das eine Prozent Menschenverstand, das ich Otis vorhin noch zugesprochen habe, in Luft aufgelöst hat. Seine Nachricht ist total unnötig und entwürdigend. Himmel, irgendwer sollte diesem Typen eine Lektion in dieser Angelegenheit erteilen.
Vielleicht übernehme ich das einfach.
Nö – viel eher eine Nacht, die du dein Leben lang in Erinnerung behalten wirst. Bis gleich.