15. NOVEMBER, BERLIN

»DREI FRAGEN, STELL IHNEN NUR DREI FRAGEN, LIEBLING. UND DU VERSTEHST, WER SIE SIND.«

Otis

Was für eine Scheiße! Seit gestern kriege ich die Nachricht, die ich unfreiwillig auf Ellas Handy gelesen habe, nicht mehr aus dem Kopf. Der Unzuverlässige Arsch ist vermutlich ihr Ex-Freund, der sie, während sie vergangenen Sommer auf dem Rockfestival war, in Kanada betrogen hat. Ella hat mir die Geschichte damals erzählt, weil sie sich nach unserem Kuss in der Flunkyball-Arena selbst unterstellt hat, eben diesem unzuverlässigen Arsch fremdgegangen zu sein. Aber es ist eine Sache, jemand Fremdem während eines albernen Spiels einen flüchtigen Kuss auf die Wange zu drücken, und eine ganz andere, den Partner zu betrügen. Zumindest würde ich das so sehen. Jeder normale Mensch würde das. Dennoch wollte ich mir auf dem Festival kein Urteil erlauben und habe deshalb versucht sie mit einem lockeren Spruch von ihrer Panik abzulenken, was … Ella allen Ernstes geholfen hat? No way.

Was aber eh nicht interessiert, weil das hier gar nicht der Punkt ist. Der Typ fragt, wie er Ella von Kanada überzeugen kann. Jep, dass sollte noch viel weniger von Bedeutung sein. Ella hat Kontakt zu ihrem Ex. Ja und? Sie ist ein erwachsener Mensch, kann deshalb vollkommen alleine entscheiden, ob sie mit zwei oder fünfzig Leuten gleichzeitig etwas am Laufen hat. Das ist in Ordnung und ganz bestimmt nicht meine Angelegenheit. Auf gar keinen Fall.

Wieso mache ich die ganze Sache dann zu meinem Problem?

Es geht mich nichts an. Ella mischt sich bei mir auch nicht ein, sie hat gestern nicht nachgehakt, weshalb ich neulich Filzstift an den Fingern hatte.

Und doch habe ich die ganze Frühschicht über an kaum etwas anderes gedacht. An diese Nachricht, aber vor allem daran, wie sich Ellas weicher Körper unter meinem angefühlt hat, was zusammen in dieser Kombination sehr fragwürdig ist.

Meine Güte, ich interessiere mich eben für meine Mitmenschen. Natürlich tue ich das. Ich bin Polizist, verdammt. Mein Beruf allein rechtfertigt doch schon meine Neugierde für Ellas Situation. Aber dass ein Polizist auch Füße massiert, ist mir ehrlich gesagt neu. Meinen miesen Charakter, die wechselhaften Launen, den elendigen Sarkasmus, direkt zur Sache kommen und Ellas Hände mit einem einzigen Handgriff hinter ihrem Rücken fixieren – ich kann ziemlich vieles auf meinen Beruf schieben und zur Hölle, wie gern würde ich das jetzt auch übers Füßemassieren sagen. Aber das kriege ich mir ganz sicher nicht eingeredet.

Muss also eine Art Übersprunghandlung gewesen sein.

Mir wird heiß, wenn ich daran denke, dass ich Ella an ihrem Knöchel gekitzelt habe, nur um diesen verkniffenen Ausdruck in ihrem Gesicht mit ihrem hübschen Lächeln zu ersetzen. Ella sah aus, als würde sie mir einerseits die Pest an den Hals wünschen, was etwas ist, womit ich als Polizist hervorragend umgehen kann, und im selben Moment mochte sie meine Berührungen, was mir wiederum in meinem Privatleben bekannt vorkommt. Es ist abermals die Mischung aus beidem, die mich vor kognitive Herausforderungen stellt.

Deshalb muss ich wieder Abstand zu Ella herstellen, was nicht sonderlich schwer sein sollte. Doch als ich ihren Knöchel gestreichelt habe … ich konnte Ellas Puls dabei unter meinem Daumen überdeutlich wahrnehmen. Und das wusste ich schon, bevor ich ihren Fuß überhaupt berührt habe. Ich wollte noch einmal spüren, wie sehr ihr Herz bei meiner Berührung rast, weil mir das Vibrieren ihrer Finger an meinem Schwanz gefallen hat.

Ist nicht schlimm, würde ich meinen. Aber es war eben ganz sicher nicht der Plan, dass sich Ellas Herzrasen auf dem Sofa plötzlich bis in meinen Magen ausbreitet. Trotzdem gefiel mir das, weshalb meine Finger viel zu lange an einer Stelle ihres Körpers verweilten, von der ich definitiv die Finger lassen sollte. Ganz große Leistung.

Es wird Zeit, dass ich mich mit etwas ablenke. Schnell schließe ich die Waffe in den Waffenschrank, ziehe mich in Rekordzeit um und blocke vor der Umkleide Victorias Gesprächsversuch ab. Bevor ich die Wache verlasse, willige ich ein, Maxims Frühschicht morgen zu übernehmen, und sitze ein paar Minuten später schon in meinem Auto.

Kurz darauf folge ich dem Straßenverlauf in Richtung Mariendorf. Gloria wartet am Pflegeheim auf mich und wird vermutlich bereits das Gespräch mit ihrer Chefin hinter sich haben. Es wird schon alles gut gegangen sein. Die Praxisanleiterin hat den Vorfall neulich während Rias Nachtschicht wohl doch nach oben gemeldet, obwohl sich meine Schwester, das hat sie mir hoch und heilig versprochen, kooperativ verhalten und mehrfach entschuldigt hat. Aber da kann sie noch so sehr ihre Wimpern – pechschwarz und viel dichter als meine – auf- und zuschlagen, ich glaube ihr kein Wort. Gloria ist niemand, der ein Feuer austritt.

Im Gegenteil: Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie bei jeder sich ergebenden Gelegenheit den Benzinkanister rausholt. Gerade deshalb muss notfalls ich dafür sorgen, dass sie weiterhin in diesem Pflegeheim arbeiten kann. Aber alles steht und fällt mit dem Ausgang des heutigen Gesprächs. Und damit, dass Ria einsieht, wie unerwachsen sie sich verhalten hat. Vielleicht können die es ihr dort besser vermitteln als ich, der gestern Nacht zu einer beinahe wildfremden Frau gefahren ist, um ihr die Scheißfüße zu massieren und kurz darauf – ohne Sex und Erklärung – wegen einer Nachricht aus ihrer Wohnung zu flüchten. Es ist eigentlich nicht sonderlich schwer, das Ziel noch deutlicher zu verfehlen als ich.

Ich stelle den Wagen auf dem Mitarbeiterparkplatz hinter dem Gebäude ab, schreibe Ria eine Nachricht und lehne mich zurück. Gloria mag es lieber, wenn ich im Auto auf sie warte, was ich auch meistens tue, obwohl mir die Atmosphäre des Hinterhofs kein bisschen gefällt. Müll- und Glascontainer, bis zum Rand und darüber hinaus gefüllt, stehen neben einer rostigen Laderampe, von der gerade ein Lastwagen rollt, der das Pflegeheim mit Waren beliefert hat.

Ich drehe den Kopf nach links und schaue auf einen schmalen Weg. Er führt an einem kleinen Tümpel vorbei zu einem Kräutergarten, der um diese Jahreszeit für Patienten nicht zugänglich ist. Nachdem ich gut zehn Minuten gewartet habe, steige ich schließlich doch aus. Gloria hat mir nicht geantwortet. Entweder sie ist noch im Gespräch oder, ohne mir Bescheid zu geben, nach Hause gefahren. Beides wäre kein gutes Zeichen.

Doch als ich reinkomme, sehe ich sie sofort. Sie hockt auf einem Stuhl in der winzigen Cafeteria links neben dem Eingang, die eigentlich nur für Familienangehörige bestimmt ist, und unterhält sich mit einem schlaksigen Mann, der mit dem Rücken zu mir vor Gloria steht.

»Danke für den Tipp«, sagt sie in dieser Sekunde, »ich schau mir den Laden mal an. Herr List ist in Zimmer 004, direkt hier im Erdgeschoss, ganz hinten links.«

Der Typ schaut an Gloria vorbei in die ungefähre Richtung, in die meine Schwester mit dem Finger deutet, und dreht die schwarze Kappe auf seinem Kopf so, dass der bunte Schild nach hinten zu mir zeigt. Er murmelt etwas, das ich nicht verstehe, vermutlich eine Verabschiedung, um dann an Gloria vorbei auf einen der langen Flure zuzutrotten, von dem die einzelnen Patientenzimmer abgehen.

»Wie lief’s?«, frage ich, kaum sitze ich auf dem Stuhl ihr gegenüber, dessen Kante unangenehm in meine Kniekehle drückt.

»Wieso bist du nicht im Auto geblieben?« Ria verdreht die Augen. »Ich wollte nur noch mal kurz durchatmen und wär gleich rausgekommen.«

Ich kann es nicht leiden, wenn Gloria meine Frage mit einer Gegenfrage beantwortet, was sie fast immer tut, aber besonders oft, wenn sie irgendetwas ausgefressen hat.

Ich stelle die Ellbogen auf dem Tisch ab, stütze den Kopf darauf und gähne.

»Lange Nacht gehabt?«, zieht sie mich augenblicklich mit einer weiteren Frage und einem zweideutigen Grinsen auf. Ihre Hände liegen beide auf ihrem Schoß, das fällt mir erst jetzt auf. Und sie umfassen ein Stück Papier, das – o bitte nicht, das ist ihre Kündigung, oder? Nein, nein, nein. Sie muss in dieses Medizinstudium reinkommen. Die Anspannung in meinem Körper wird so groß, dass ich das Gefühl habe, gleich zu platzen. Fuck. Heißt also, ein gutes Ergebnis beim Medizinertest, den Ria vorletzte Woche geschrieben hat, ist unsere einzige Chance.

»Hab nicht viel geschlafen. Was ist das da auf deinem Schoß?«

»Ich dachte, wir reden erst mal über mein Gespräch.« Sie dreht das Papier, womit ich es als Brief identifiziere – mit Stempel und Briefmarke. Keine Kündigung. Durchatmen.

»Wie du magst. Hast du mit deiner Chefin gesprochen? Hatte sie Verständnis?«

»Mehr als das. Ihre Mutter ist vor ein paar Monaten verstorben, weshalb sie meine Situation nachvollziehen konnte.«

»Das ist gut. Sehr gut.« Ich schlage die Beine übereinander und stoße mir prompt das Knie an der Tischplatte. »Was nicht heißt, dass du hier nun einen Freifahrtschein hast.«

»Ich weiß, okay? Das hat sie auch gesagt. Ich hab’s kapiert.«

Sofort ist die Anspannung zurück. Ich beuge mich wieder nach vorn, verschränke die Arme hinter dem Kopf und senke den Blick angestrengt auf einen eingetrockneten Kaffeefleck auf dem Tisch. »Gloria? Sag es mir einmal konkret: Wirst du morgen noch hier arbeiten?«

»Nö, ich hab frei.« Ich höre, wie sie ausatmet, bevor sie mit einem Lächeln in der Stimme hinterherschiebt: »Es ist alles okay, Otis. Sie hat mich abgemahnt, aber meinen Job behalte ich trotzdem.«

»Okay.« Erleichtert blicke ich auf, sehe aber, dass Gloria ernst wirkt. »Doch es gibt ein Aber?«, will ich wissen.

Ohne Umschweife schiebt sie mir den Brief über den Tisch. Er ist bereits geöffnet. »Ich weiß Bescheid.«

»Was?« Ich richte mich ruckartig mit schmerzhaft rasendem Herzen auf und nehme den Brief an mich. Als ich den Stempel einer Berliner Spielothek erkenne, atme ich tief durch, bevor sich mein Herz in den Sturzflug begibt und ich die Rechnung aus dem Umschlag ziehe. Sie sieht genauso aus wie die anderen, die bisher in Papas Briefkasten geflattert sind, früher häufiger und seit er in fast allen Spielotheken Hausverbot hat, seltener. Diese hier ist über drei Monate alt, was aber nichts zur Sache tut, denn allein die Summe ist entscheidend: 805 Euro.

Gloria reißt mir den Zettel aus der Hand und hält ihn mir hin. »Wie lange geht das schon so?«

»Ria …«

»Drei Monate, vier …?«

Ich hasse es, wenn ich ihren Optimismus zerstören muss. Keinen blassen Schimmer, woher sie den immer wieder hernimmt und weshalb sie diese Sache mit dem Sonnenschein-Gute-Laune-Dasein nicht bereit ist aufzugeben. Ich bin einfach froh, dass es so ist, weil ich das ganz sicher nie hinbekommen werde. »Seit Mai dieses Jahres.«

Gloria faltet den Brief zusammen und stopft ihn zurück in den Umschlag. »Wann wolltest du es mir sagen?«

»Sobald ich dich nicht mehr in die Sache mit reinziehen muss.« Vielleicht auch nie. »Ich hätte das garantiert schon irgendwie geschafft. Mamas Wunsch war es, dass du Medizin stu-«

»Sei still.« Gloria greift unter dem Tisch nach meiner Hand und drückt fest zu. »Was das anbetrifft, kann sie mich mal.«

»Sag nichts, was du später bereust, Ria.« Eigentlich will ich nicht weiter darüber reden, wenn ich ehrlich bin. Mama hat mir vor ihrem Tod eingetrichtert, dass wir, mein Vater und ich, jetzt dafür zu sorgen haben, dass Gloria ihre Träume erfüllen kann. Wieso um alles in der Welt sollte ich diesen Wunsch nicht akzeptieren und alles dafür tun, dass Ria die Möglichkeit auf ein Studium hat? Das wäre doch albern. Vor allem jetzt, da mein Vater aus dem Wir ein Otis gemacht hat.

»Vielleicht möchte ich ja gar nicht mehr studieren gehen.« Gloria zieht ihre Hand zurück und verschränkt die Arme. »Wann hast du mich das letzte Mal gefragt, was ich will?«

»Ria«, mahne ich. »Du redest seit dem Abitur von nichts anderem als diesem Medizinstudium.« Allerdings erinnere ich mich wirklich daran, wann sie mir zuletzt irgendwelche Kursübersichten unter die Nase gehalten hat, was jetzt aber auch nicht wichtig ist. »Was wird das hier?«

»Das könnte ich dich genauso fragen«, fährt sie mich an, kaum dass ich meine Frage ausgesprochen habe. »Papa hat mir längst erzählt, dass du ihn in den vergangenen Monaten ständig abgeholt hast. Das letzte Mal, als ich nachgesehen habe, hast du nicht in der Sonne geglitzert, weshalb ich davon ausgehe, dass du kein Vampir bist und deshalb Schlaf brauchst. Ich weiß aber, dass du die übrigen Nächte entweder arbeitest, trinken gehst oder irgendwelche Frauen fi-«

»Ria!« Ich wechsle einen schnellen Blick mit der alten Dame, die sich gerade an den Tisch neben uns setzen wollte und nun das Kinn nach vorne reckt. »Es ist meine Sache, wa-«

»Ach so«, fällt sie mir aufgebracht ins Wort, nachdem uns die Dame neben uns mit einem leisen Schnauben wieder alleine gelassen hat. »Du darfst dein eigenes Leben haben, während ich das tun muss, was Mama sich für mich gewünscht hat.«

»Du wolltest doch immer Medizin studieren. Als Kind bist du ständig mit einem Stethoskop um den Hals durchs Haus gerannt. Du möchtest seit Jahren Ärztin werden.«

»Das bestreite ich ja auch gar nicht. Aber jetzt will ich das eben nicht mehr. Was ist, wenn ich einen Studienplatz irgendwo in München zugeteilt bekomme? Wie um alles in der Welt sollen wir dort eine Wohnung finanzieren? Außerdem will ich Geld verdienen. Ganz abgesehen davon werde ich Papa und dich nicht im Stich lassen. Du wirst nicht mehr alleine für ihn verantwortlich sein und ihn auch nicht mehr ständig nachts abholen müssen, weil ich dir dabei jetzt unter die Arme greife. Und ich frage Frau Lindner, ob sie mich hier nach der Ausbildung übernehmen. Das reicht doch. Weißt du, wie lange es dauert, bis ich eine richtige Ärztin bin, und wie sehr die anfangs ausgebeutet werden? Wer soll sich das denn leisten können? Ich jedenfalls nicht! Vielleicht ziehe ich zurück zu Papa ins Haus, damit ich ein besseres Auge auf ihn haben kann. Vielleicht kann ich ihm helfen.«

Vielleicht kann ich ihr helfen. Als Gloria beinahe ihre Worte von damals wiederholt, zucken wir beide gleichzeitig zusammen. »Papa braucht eine Therapie.«

»Dann überrede ich ihn zu einer.«

»Du kannst niemanden überreden … Ria, ich krieg das schon alles hin. Wenn das Ergebnis deines Medizinertests gut ist, wirst du studieren gehen. Ich diskutiere nicht mit dir.«

»Ich war nicht dort«, sagt sie sofort. »Da hast du’s. Ich bin einfach nicht hingegangen, Otis.«

»Scheiße, was?« Ich drehe den Kopf zwischen Gloria und einem kleinen Jungen hin und her, der anfängt über mein Fluchen zu lachen. Mist. »Wir lernen seit Wochen für diesen Test und du … Manchmal …« Was soll ich denn jetzt auf so was sagen? Verdammt. Verdammt. Verdammt. Gloria hätte mit mir reden müssen. Auch wenn sie erwachsen ist und das Recht darauf hat, ihren Teil beizutragen und ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, ist ihr Verhalten unverantwortlich. Dasselbe gilt für mich andersherum genauso, da hat sie allerdings auch recht. »Manchmal hab ich das Gefühl, ich verstehe dich nicht.«

»Und du meinst, da hilft es, mich nie danach zu fragen, was ich will, und lieber alles über meinen Kopf hinweg zu entscheiden?«

»Anscheinend denke ich das, ja.«

»Dann lass das Denken doch einfach. Kriegst du bei anderen Frauen doch auch hin.« Gloria schnaubt leise. »Mann, Otis, nur weil Mama vor vier Jahren mit der Vorstellung gestorben ist, dass ich in gefühlt fünfhundert Jahren als Ärztin arbeiten werde, muss ich das doch jetzt nicht auch wirklich durchziehen. Sie ist tot. Wenn es dich beruhigt, ich habe Mama auf dem Friedhof von meiner Planänderung erzählt und ob du es glaubst oder nicht, mich hat auf dem Heimweg kein Blitz getroffen. Sie kommt also damit klar. Ich habe mich seit ihrem Tod verändert. So ist das eben.«

Ich presse beide Hände flach auf meine Oberschenkel. So ist das eben. Beschwer dich nicht. Scheiße. Mama hat Rias Vater mit meinem leiblichen Vater betrogen und es erst kurz vor ihrem Tod für nötig gehalten, mir davon zu erzählen. So ist das eben. Beschwer dich nicht. Gloria sagt das so, als wäre Veränderung etwas Großartiges. Schwachsinn. Veränderungen sind am Anfang schwer, in der Mitte chaotisch und am Ende nutzlos. Oder erzählt sie mir gleich, dass selbst Mamas Tod zu etwas gut war? Irrsinnig. Aber eine Sache muss ich ihr zugestehen: die Wahrheit. Was sie damit macht, ist ihre Angelegenheit. Trotzdem … wie zur Hölle soll ich das anstellen?

»Außerdem …«, fährt sie fort, »hat Mama uns beigebracht, Fragen zu stellen. Stell den Leuten drei Fragen und du verstehst sie.« Ria beugt sich über den Tisch und tippt mit dem Zeigefinger auf die Narbe oberhalb meines Nasenflügels. »Schon vergessen?«

Natürlich nicht. Ein paar Sekunden starre ich sie an und sehe dabei zu, wie sie die schilfgrünen Augen verengt. Aber ich will ihr darauf nicht antworten. Nicht nur, weil ich es bereue, ihr vorhin an den Kopf geworfen zu haben, sie nicht zu verstehen, sondern weil ich jetzt wieder an die Frage denken muss, die ich gestern auf Ellas Handy gelesen habe, und daran, dass ich eigentlich schon genug Probleme in meinem eigenen Leben habe.

Weil ich nicht auf sie reagiere, drückt mir Ria die Schulter. »Komm schon, Otis. Wovor hast du Angst? Magst du Hunde? Was tust du, wenn es regnet?«

»Ich weiß.«

Sie lehnt sich zurück und ballt die Hände vor sich auf dem Tisch zu Fäusten. In ihrem Blick erkenne ich, dass sie gegen den Drang ankämpft, mich weiter mit Mamas dämlichem Drei-Fragen-Test zu malträtieren, den sie aus einem Gedichtband hat, aus dem Ria mittlerweile häufig zitiert. Bitte nicht heute. Doch ich sehe, wie sie den Einwand runterschluckt.

»Danke, dass du mir beim Lernen geholfen hast. Ich schätze mal, es war nicht umsonst. Die Chefin hat mir vorhin ein paar knifflige Testfragen gestellt, die ich so ohne Probleme beantworten konnte.«

»Du lügst doch.«

»Möglich«, erwidert sie grinsend. »Aber du wirst es nie herausfinden.« Ihr Grinsen weicht plötzlich einem zweifelnden Ausdruck. »Keine miesen Polizeitricks!«, mahnt sie schnell, was mich zum Lachen bringt.

»Ist schon gut!« Ich greife über den Tisch nach ihren Fingern, um sie mit meinen zu verschränken. »Hast du Hunger? Sollen wir irgendwo Burger mitnehmen?«

»O ja! Ich hab vorhin meine Tage bekommen und sterbe innerlich.«

Ich fahre mit dem Daumen in die Kerbe zwischen Rias Zeigefinger und Daumen, bis ich einen Schmerzpunkt erreiche, den ich sanft massiere. »Fußmassage, Gilmore Girls und Burger?«

»Dazu sag ich nicht Nein«, gibt sie zurück und schiebt mir mit der freien Hand ihr Smartphone über den Tisch. »Das wollte ich dir übrigens noch zeigen.«

Automatisch ziehe ich die Augenbrauen hoch, als Ria das Display in meine Richtung dreht. »Schön, dass es Levy gut geht. Sogar das Schaf sieht zufrieden aus.«

Ria seufzt. »Er ist glücklich mit Charlie und lernt die Sache mit seinem Dad zu akzeptieren.«

»Wie gesagt …« Einen Moment herrscht Stille. »Ich freue mich für ihn.«

»Hört sich aber nicht so an.«

Das weiß ich, auch ohne dass mich Ria skeptisch beäugt. Levy und ich sind seit Jahren befreundet und ich freue mich natürlich für ihn. Jetzt habe ich es ein drittes Mal wiederholt und selbst in meinem Kopf klingt es unglaubwürdig. Aber es ist scheißegal, was da gerade zwischen uns los ist. Levys Vater war lange Zeit auch sein wunder Punkt, doch mittlerweile ist das anders geworden. Soweit ich weiß, hat er sich ihm nicht mehr wieder angenähert, doch dafür sind er und seine Mutter ein unschlagbares Team und Levy lernt immer besser mit der Situation umzugehen. Seit er unter anderem mit Social Media sein Geld verdient, taucht seine Mutter hin und wieder sogar auf seinen Kanälen auf, was seine Follower, den Kommentaren nach zu urteilen, begeistert. Mann, ich vermisse Levy. Aber …

»Gott, ich liebe es, Levian so strahlen zu sehen«, murre ich. »Ganz, ganz wundervoll. Ich vermisse ihn einfach nur so sehr, dass es manchmal ein klein wenig wehtut. Hier …« Mit dem Zeigefinger tippe ich zweimal auf meine Brust. »Hier drin, schau.«

Ria fängt an zu lachen. »Da kam grad ganz viel Schmalz raus.« Sie deutet auf meine Ohren. »Aber dann habe ich gute Nachrichten für dich: Levy schreibt, dass sie bald in Berlin sind und Charlies Freundinnen deshalb feiern wollen.«

»Alles klar«, stoße ich aus. »Schätze mal, ich bin nicht zur Party eingeladen.«

Ria zuckt mit den Schultern. »Du bist mein Plus One.«

»Ziemlich armselig, die Begleitung seiner kleinen Schwester zu sein.«

Ria streckt sich mir entgegen und wuschelt mir durchs Haar. »Seiner Lieblings schwester wolltest du sagen.«

»Du bist meine einzige –«

»Versau es nicht.«

Da muss ich schlucken und merke, dass ich das hier in der Tat auf gar keinen Fall verbocken darf. Scheiße, wenn ich Ria die Wahrheit sage und sie dadurch verliere, was bleibt mir denn dann noch im Leben? Mein verfickter Job?

Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas mal denken würde, aber in Momenten wie diesen hier verstehe ich meine Mutter: Manchmal ist die Wahrheit einfach keine Option.