MA-I-A HI, MA-I-A HU
MA-I-A HO, MA-I-A IST JA GUT!
ICH GEB AUF, VERDAMMT NOCH MAL.

Ella

Nach Otis’ Gesangs- und Tanzeinlage ist die Stimmung viel entspannter. Nur mein Gänsehautgefühl lässt nicht nach. Die ganze darauffolgende Stunde nicht. Einmal hat Otis noch meinen Blick gesucht, als Charlie mein Geschenk ausgepackt und es sofort kreischend an die Wand über unser Sofa gehängt hat. Seitdem geht er mir aus dem Weg oder ich ihm, keine Ahnung. Erst als sich Alex verabschiedet und auch Leni gähnend in ihr Zimmer verschwindet, wird es bei der geringen Anzahl an Gästen schwierig, unbemerkt nach ihm Ausschau zu halten, und irgendwann absolut unmöglich. Ich vermisse Alex’ ansteckendes Lachen sofort, weil das Wohnzimmer, nachdem sie es verlassen hat, ganz plötzlich nur noch halb so groß wirkt und viel zu still.

Schließlich hockt Otis sich mit einem Seufzen neben mich auf die Couch und wischt sich die verschwitzen Strähnen aus der Stirn. Sein Brustkorb hebt und senkt sich schnell und an seiner Narbe bilden sich feine Schweißperlen. Bis eben haben Levy und er so etwas wie Wett-Liegestütze gemacht. Jedes Mal, wenn sie ihre Körper langsam in Richtung Boden gesenkt haben, führten sie die Hände blitzschnell aneinander, um sich so abzuklatschen, was, wie Charlie eben meinte, bevor sie in die Küche verschwunden ist, um Chips zu holen, unfassbar beeindruckend und heiß ist. Letzteres vor allem dann, wenn Levy dabei nackt ist und es über ihr macht, sagt sie. Deshalb muss ich mich jetzt zusammenreißen, mir nicht vorzustellen, wie Otis seinen Körper quälend langsam auf meinen sinken lässt. Wunderbar.

Doch gerade greift er eh nur nach einer Getränkedose und öffnet sie. Ein Energydrink, wie vermutet. Das mache ich dann einfach auch, aber weil ich viel zu fahrig bin, sprudelt die klebrige Flüssigkeit über den Metallrand. Auf dem Tisch bildet sich deshalb eine kleine Pfütze.

Otis sieht kurz überrascht aus, aber dann wischt er einmal mit den Fingern durch die Flüssigkeit und zieht seine Hand zu seinen Lippen. O Gott, ich hoffe, er kann nicht hören, wie heftig mir das Herz dabei gegen den Brustkorb hämmert, als zwei Finger kurz und ohne Zögern in seinen Mund gleiten. Ich starre ihn die ganze Zeit über an. Das Geräusch, das seine Lippen an seinem Finger verursachen, hilft mir kein bisschen dabei, mich zu entspannen. Ganz im Gegenteil. Jetzt mache ich mir wieder tausend Gedanken und auch mein Puls will sich einfach nicht beruhigen.

Demonstrativ rücke ich ein Stück ab, was Otis natürlich merkt. Er sieht mich einen Moment stirnrunzelnd an und ich bin kurz davor, aufzuspringen und in meinem Zimmer zu verschwinden, als er wie als Entschuldigung sagt: »Das Lied umzuschreiben, war Rias Idee.« Langsam führt er die Dose an seine Lippen und trinkt einen Schluck. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich so einen Scheiß nüchtern durchziehen könnte. Aber nachdem ich mit dir bei Minusgraden in die Spree gerannt bin …« Otis grinst schief und mein Gesicht glüht. »Danke, schätze ich.«

Okay, ich hatte gehofft, dass er nicht noch mal damit anfängt, und auch, dass er mich dabei nicht schon wieder so eindringlich ansieht. Schnell lenke ich den Blick auf die Dose in meiner Hand. Hauptsache, weg von den dunklen Augenbrauen, die sich gerade in Richtung seiner im künstlichen Licht unmöglich hell schimmernden Iriden senken.

»Und Biber beim Sex gestört hast«, provoziere ich, nur um nicht mehr die Einzige zu sein, die mit der Situation überfordert ist. »Wahrscheinlich sterben die Viecher jetzt wegen uns aus.«

»Mmh. Das würde ich in Kauf nehmen.«

Wie meint er das denn jetzt? Dass er dabei kein bisschen verlegen klingt, macht mich wahnsinnig. »Warum?«, frage ich deshalb.

»Weil mich Biber kein Stück interessieren.«

Natürlich werde ich bei seiner Antwort sofort nervös. Verdammter Polizist, der berufsbedingt bei jedem Thema übermenschlich sachlich bleiben kann. Mir fällt auf die Schnelle keine bessere Erwiderung ein als eine weitere Stichelei. »Dafür weißt du aber ziemlich viel über sie.«

»Liegt an Gloria. Als Kind war sie völlig besessen von den Tieren. Sie hatte diesen Brockhaus für Kinder und ich musste ihr ständig den Eintrag über Biber vorlesen. Jeden Abend.«

»Ich mag deine Schwester. Ich meine, welcher Normalsterbliche hat denn etwas gegen Biber einzuwenden? Die sind supersüß.«

Beim ersten Satz fährt Otis zusammen, dann zuckt sein Blick kurz zu Gloria, die mit Leni, Charlie und Levy Irland-Fotos auf dessen Handy anschaut. Als sie Otis’ Blick auffängt, streckt sie ihm die Zunge raus.

»Ria hatte diesen unfassbar hässlichen als Kuscheltier.« Er atmet tief ein. »Tausendmal hässlicher als der Dino von Linus.«

»Im Ernst?« Ich muss lachen. »Der mit den komischen Augen und dem Cowboyhut?«

»Sheriffhut«, verbessert Otis mich. »Aber ja, sie hatte ihn seit ihrer Geburt, deshalb war er total zottelig und am Kopf ganz kahl, weil Ria ihn dort ständig abgeleckt hat.« Jetzt lächelt er schief. »Unsere Mutter durfte ihn nicht in die Waschmaschine packen und jedes Mal, wenn sie es heimlich versucht hat, hat Ria es irgendwie vorher mitbekommen und ist ausgerastet. Erst als das blöde Teil mit Hundekacke verschmiert war, hat sie nachgegeben.«

»Mit … was? Wie ist das denn passiert?«

»War meine Schuld«, sagt er knapp. »Jedenfalls wollte sie den Biber nach dem Waschen nicht mehr und hat deshalb ständig behauptet, dass er immer noch nach Kacke riecht, bis Mama aufgegeben und ihn weggeworfen hat. Was denkst du wohl, was dann passiert ist?«

»Ria ist nicht damit klargekommen?«

»Als sie es rausgefunden hat, hat sie drei Tage lang mit niemandem geredet und nichts gegessen. Sie behauptete, dass der Biber uns allen Glück gebracht habe. Ich bin mir sicher, dass sie heimlich bei ihren Freundinnen Fast Food in sich reingestopft hat, während wir uns Sorgen gemacht haben, aber vor uns hat sie jedes Mal das perfekte Pokerface aufgesetzt. Und okay, ich gebe zu, dass ich bis heute deshalb ein schlechtes Gewissen habe und überall verzweifelt nach diesem Scheißding suche. Falls du also mal irgendwo ein sehr hässliches Biberkuscheltier siehst, gib mir gern Bescheid.«

»Klingt nach ganz großer Geschwisterliebe«, sage ich. Otis wird es jetzt bestimmt nicht zugeben, das weiß ich, weil er gerade schon wieder das Gesicht verzieht, aber ich glaube, Gloria kann ziemlich froh sein, einen Bruder wie ihn zu haben. Als Teenager habe ich mir so jemanden an meiner Seite gewünscht, der auf mich aufpasst. Und ganz offensichtlich hat Otis genau das sein Leben lang getan, denn anders erklärt sich mir die liebevolle Beziehung nicht, die er zu Gloria hat. Wahrscheinlich spielt der Tod ihrer Mutter eine große Rolle dabei.

»Klingt vor allem nach: Sprich sie bloß nicht darauf an, sonst heult sie mir die kommenden Tage wieder die Ohren voll.«

»Keine Sorge! Bestimmt hat es eure Mutter ziemlich bereut, den Biber weggeworfen zu haben.«

»Ich weiß nicht. Sie war ziemlich gut darin, eine Sache durchzuziehen, wenn sie fest davon überzeugt war, dass sie gut für uns ist. Koste es, was es wolle.« Otis leert seinen Energydrink, stellt die Dose auf den Tisch und lehnt sich zurück. »Aber ich schätze, immer hat das nicht geklappt.«

Ich will ihn fragen, was er damit meint, doch er stößt einen leisen Seufzer aus, weshalb ich es lasse. Ich frage mich, warum er selten über seinen Vater spricht, aber in meiner Position ist es wohl besser, so weit von diesem Thema wegzulenken wie irgendwie möglich. Obwohl meine Situation wahrscheinlich kein bisschen mit der von Otis zu vergleichen ist. Mein Vater ist einfach nur nicht für mich da. Aber bei Otis … ich kann es nicht sicher sagen, doch ich glaube noch immer, dass ihm seiner aus Gründen Sorgen bereitet, die ich vermutlich gar nicht kenne und über die ich weiterhin nur mutmaßen kann.

Meine Mutter jedenfalls ist ganz anders, als Otis seine eigene beschreibt. Sie würde nichts tun, was sie nicht vorher mit mir besprochen hat. Ihre ganze Erziehung baut auf einem lockeren Regelsystem auf, das sie so früh wie möglich zusammen mit mir aufgestellt hat. Ich glaube, so wirklich habe ich mich nie an auch nur eine dieser Vorschriften gehalten, weshalb die irgendwann zur Nebensache wurden. Denn allein schon die Tatsache, dass wir alles gemeinsam entschieden haben, gab mir immer das Gefühl, dass ich über alles mit ihr reden darf – eine einzige Sache ausgeschlossen.

Ich würde Otis so gerne fragen, was ihn denn die Entscheidungen seiner Mutter gekostet haben, aber ich weiß, wie wenig angebracht diese Frage ist. Wahrscheinlich hat er das gerade eh nur so dahingesagt.

»Ich werde mich auf jeden Fall melden, wenn ich irgendwo einen hässlichen Biber entdecke. Ich finde aber, dass der Dino, den du Linus geschenkt hast, schon ziemlich weit oben auf der Hässlichkeitsskala rangiert. Aber um ehrlich zu sein … ich finde es richtig schön, dass du Linus dieses Kuscheltier mitgebracht hast. Du babysittest ihn schon seit deinem Studium, meintest du, oder? Woher kennst du denn seine Eltern?«

Otis schließt abermals die Augen und ich merke sofort, dass ich mit meiner eigentlich harmlosen Nachfrage eine Grenze überschritten habe. Er kneift die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, als ob er aufpassen muss, dass ihnen nichts Falsches entweicht.

»Bei uns im Kindergarten wollen Eltern hin und wieder wissen, ob wir gute Babysitter kennen, deshalb frag ich.« Es freut mich, dass seine Mundwinkel sich auf meine Worte hin wieder entspannen, aber gleichzeitig bildet sich ein unangenehmer Druck in meinem Magen. So als müsste ich jetzt besonders vorsichtig sein mit dem, was ich anfüge. »Ich könnte dich das nächste Mal empfehlen. Denn wenn ich Linus so zuhöre, weiß ich, dass du deinen Job gut machst.«

»Was hat Linus denn erzählt?« Otis’ winziges Lächeln ist sofort verschwunden und er wirkt wieder verkrampft.

»Dass er den coolsten Polizisten der Welt kennt, glaube ich.« Und weil ich Otis zum Lachen bringen will, füge ich schnell an: »Da stimme ich ihm voll und ganz zu.«

»Als ob«, stößt er lachend aus, beugt sich nach vorn und reibt sich über das Gesicht.

»Doch, definitiv. Dass du keine Anzeige geschrieben hast … Ich schätze, ich hätte mich umfangreicher dafür bedanken sollen.«

»Hast du doch schon.«

»Nein«, wende ich ein. »So richtig bedanken, meine ich. Aufrichtig und ohne Sarkasmus.«

Otis steht auf, schiebt seine Hände in die Hosentaschen und stellt sich vor mich. Von oben schaut er einen Moment lang auf mich runter und lächelt dabei ganz leicht. Seine Augen funkeln. »Du hast dich schon bedankt, Ella, mehr als das«, sagt er. »Letzten Dienstag, als du mit mir im Matsch getanzt hast.«