26. NOVEMBER, BERLIN
»ES GIBT KEIN SCHEISSBOOT,
DAS GROSS GENUG WÄRE, UM MICH
AN IHM FESTZUKLAMMERN, DAMIT ICH
NICHT IN MIR SELBST ERTRINKE.«
Otis
Bevor ich durchdrehe, lege ich eine Hand an die Klinke und stoße die Tür direkt auf.
Gloria hockt tatsächlich im Schneidersitz auf einem der Küchenstühle. Sofort will ich sie zurechtweisen, weil ich ihr schon zigmal gesagt habe, dass ich den Stuhl mit dem abgeplatzten Lack nur notdürftig repariert habe und sie das Sitzpolster jedes Mal unnötig belastet, wenn sie es sich so darauf bequem macht. Aber die Klage bleibt mir im Hals stecken, als Ria zu mir aufschaut. Sie ist blass und in ihrem linken Auge ist eine feine Ader geplatzt. Die Haare hat sie notdürftig zu einem Zopf gebunden. Gerade kneift sie die Augen zusammen und schaufelt sich gleichzeitig einen Löffel Müsli in den Mund. Seltsam widersprüchliche Handlungen, die ich nicht richtig deuten kann. »Auch schon wach?«, fragt sie einen Moment später.
Mein Herz pocht wie wild. Unsere Mutter hat mich das immer gefragt, wenn ich nachts betrunken und völlig fertig zu Hause aufgekreuzt und am nächsten Tag erst nachmittags einigermaßen fit in die Küche getrabt bin. Genau jetzt fällt mir das natürlich wieder ein. Die perfekte Überleitung, könnte man sagen. Ich muss sie nur nutzen ...
»Das hat Mama …« Ich stocke, weil es anscheinend doch nicht so supereinfach ist.
»Ich weiß«, macht Gloria meinen kläglichen Versuch zunichte. »Deshalb hab ich es gesagt.«
Jetzt bilde ich mir ein, irgendetwas in ihrem Tonfall gehört zu haben, und natürlich bricht mir deshalb der Schweiß aus, weil ich einfach nicht weiß, wie ich anfangen soll. »I-ist alles okay?«
»Ich bin seit über vierundzwanzig Stunden wach.« Sie sagt das so, als würde ich irgendetwas Offensichtliches nicht kapieren, und dabei gräbt sie die vorderen Zähne in ihre Unterlippe. »Machst du bitte die Tür zu?«
Was? Warum? Ich zwinge mich zu nicken und danach gehe ich zwei Schritte zurück und schließe die Tür. »Was gibt’s?«
»Papa schläft in meinem Bett, ich will nicht, dass er durch unseren Lärm wach wird.« Sie macht eine Geste, die wohl andeuten soll, wie logisch das alles ist, während ich sie wie ein unzurechnungsfähiger Trottel anstarre. Papa. Kann sie mir den Gefallen tun und einfach ein Scheißpossessivpronomen davorsetzen, das meinen wahnsinnig gewordenen Verstand zur Ruhe bringt? Was weiß ich, wieso der es gerade für witzig hält, mir weiszumachen, dass Gloria die Wahrheit längst kennt.
Schließlich stolpere ich doch zu ihr und setze mich auf den Stuhl ihr gegenüber, der unter meinem Gewicht knackt. »Hat er dich heute Nacht angerufen?« Wenn mich schon bei dieser simplen Frage Scham und Überforderung überrollen, wie schlimm wird es dann erst, wenn ich ihr jene stelle, die mir seit vier Jahren auf der Zunge liegt?
»Nein, Papa hat mir eine Nachricht geschrieben und gefragt, ob ich irgendwann, wann immer es mir passt, bei ihm vorbeischauen kann.«
»Und nach deiner Nachtschicht war ein guter Moment, oder was?« Verdammt, das klingt so angreifend und wertend. Ich muss mich irgendwie zusammenreißen und meine Panik in den Griff kriegen.
»Okay, warte, was? Du darfst ihn jederzeit von überall abholen und nach Hause bringen, selbst während deiner Nachtschichten, ich hingegen soll mich erst brav ausschlafen, bevor ich zu ihm fahre? Ich dachte, das hätten wir schon geklärt!«
»So hab ich das nicht gemeint.« Ich gebe ein Geräusch von mir, das an einen genervten Laut erinnert, und am liebsten will ich mich deshalb ohrfeigen. Es war ganz bestimmt nicht der Plan, mein schlechtes Gewissen auf Ria abzuwälzen. Ich werde richtig wütend auf mich, auf diese ganze Situation, darüber, dass wir so etwas durchmachen müssen und ich mich in eine Position manövriert habe, in der ich Gloria nicht mehr schützen kann. Weil die Gefahr gerade ganz allein von mir und meinen Worten ausgeht. »Scheiße, sorry. Meine Nacht war beschissen …«
»Sieht man.«
Ich verdrehe die Augen, was meinem Kopf ein wenig dabei hilft, schnell ein paar Dinge zu sortieren. »Was wollte Papa dann von dir?«
Sie presst die Lippen zusammen. Sofort bleibt mir das Herz stehen. Kennt sie die Wahrheit? Woher? Hat ihr Vater … nein, er kann es ja nicht wissen, oder?
»Er wollte mit mir reden.«
»Über was?« Ich stehe auf und lehne mich mit dem Rücken gegen die Anrichte.
»Über die Situation.« Rias Blick schießt mir ungebremst ins Herz und quetscht es zusammen. »Ich hab ihn angerufen und er hat schon am Telefon sofort losgeweint und …« Jetzt schluckt sie und mein Herz krampft deshalb noch weiter und weiter.
»Und was?« Ich spüre, wie meine Schultern in sich zusammensacken, weil ich kapiere, dass ich den Verlauf des Gesprächs nun nicht mehr ändern kann. Mir wird richtig übel und ich keuche leise.
Darauf reagiert Gloria sofort. »Otis? Wie viel hast du denn getrunken? Du siehst aus, als ob du dich gleich übergeben musst! Und vor allem … O nein. Ist es wegen Ella? Mann, Otis! Da ist mal ein Mädchen, das dich mag, und andersherum offensichtlich genauso, und du …«
»Lenk nicht ab!«, fahre ich sie überfordert an. Ich hasse es. Ich hasse, wie mein Verstand gerade völlig freidreht. Wäre ich bis vor ein paar Sekunden nicht noch glücklich über jede Ablenkung gewesen? Jetzt bin ich es nicht mehr. Warum auch immer. »Was wollte Papa?«
»Er will eine Therapie anfangen.« Gloria richtet sich auf und stützt den Kopf auf ihren Händen ab. Ich sehe, wie viel Mühe sie dabei hat, die Augen offen zu halten. »Wir reden schon eine Weile darüber und heute Nacht hat er mich endlich darum gebeten, gemeinsam mit ihm einen Therapieplatz zu finden. Daraufhin habe ich ihn in unsere WG geholt, damit er sich ausschlafen kann und wir danach gleich darüber reden können. Er ist in meinem Zimmer.«
»Das ist doch … Papa wird niemals …«
»Doch! Verdammt, ich bin viel häufiger bei ihm, als du weißt, okay? Diese Info schleppe ich schon seit unserem ersten Gespräch im Altersheim mit mir rum und ich wusste nicht, wie ich es dir sage, ohne dass du gleich wieder durchdrehst oder versuchst, etwas über meinen Kopf hinweg zu regeln. Das war nicht okay und dafür entschuldige ich mich auch. Es ist nur … Ich krieg das viel besser hin als du, finde ich. Papa vertraut mir und ich glaube, dass wir in den vergangenen Wochen richtig gute Fortschritte gemacht haben. Er hat mir von seinen Schulden und dem Kredit erzählt. Ich weiß Bescheid, Otis. Wir werden das hinbekommen, ich glaube an uns. Die Klinik, die wir uns letzte Woche zusammen angeschaut haben, hat Papa gut ge-«
»Ihr habt was?«
Gloria haut mich gerade völlig um, und das obwohl ich bis eben noch dachte, dass ich die scharfe Granate in der Hand halte.
»Ja, wir haben uns schon eine Klinik angeschaut. Levy hat einen Therapeuten dort empfohlen, mit dem er in Irland Onlinekurse macht. Weißt du, Otis, ich war es einfach leid! Ständig hast du mich behandelt wie ein Kleinkind. Aber das bin ich nicht. Ich kann meine eigenen Entscheidungen treffen und ich … ein bisschen habe ich auch das Gefühl, auf diese Weise Mamas Rolle zu übernehmen. Papa hat mich nie darum gebeten, das zu tun, und auch du fragst ganz sicher nicht nach einem Aufpasser, auch wenn du genauso dringend einen nötig hast. Ich schätze, wenn ich mich für euch verantwortlich mache, fühle ich mich Mama einfach näher. Das war immer ihr Job, oder? Auf uns aufzupassen, meine ich.«
Wieso schafft es Ria, mein Problem so leichtfertig zusammenzufassen? Sie hat recht, sie weiß viel besser, was in mir vorgeht, als ich selbst. Es ist nicht fair, ihr die Wahrheit zu verschweigen. Sie wird eher damit klarkommen als ich.
»Ria, ich …«
Ihr Gähnen unterbricht mich. »Eigentlich wollte ich nur warten, bis du aufwachst, weil … ich hab vorhin bei dir reingeschaut und dein Zimmer hat gestunken wie ein ranziger Club. Ich dachte, ich frag dich auch noch kurz, was los ist, bevor ich mich schlafen lege, aber offensichtlich ist unser Gespräch jetzt etwas anders verlaufen.« Sie lächelt und gähnt abermals. »Darf ich dir den Rest später erzählen? Ich kann mich jetzt schon keine Sekunde mehr konzentrieren.« Demonstrativ legt sie den Kopf auf dem Küchentisch ab und murmelt. »Machst du dir selbst Kaffee?«
»Wenn du jetzt ohne Meckern in mein Bett gehst.«
Es dauert nur ein paar Sekunden, bis sie sich aufrappelt und mir die Zunge rausstreckt. »Ist ja gut. Bis später.«
Später klang selten so verlockend. Es ist peinlich, wie erleichtert ich bin, es einmal mehr geschafft zu haben, um das Gespräch herumzukommen. Großartig, Otis. Richtiges Superheldenverhalten.
Ria mustert mich noch einen Moment, dann gähnt sie erneut und schleppt sich von der Küche in mein Zimmer. Die Tür lässt sie einen Spaltbreit offen.
Minutenlang starre ich auf meine Hände und lasse zu, dass mir Tränen über die Wangen laufen. Irgendwann wische ich sie energisch weg. Scheiße. Jetzt habe ich das Gefühl, mich nur noch tiefer in meine Lügen verstrickt zu haben. Ich setze Kaffee an, schnappe nach Luft und reiße mich vom Wasserkocher los. Dann schüttle ich über mich selbst den Kopf und lasse mich zurück auf den Stuhl fallen.
»Ich muss dir auch was sagen.« Immer wieder wiederhole ich den Satz, den ich vor Gloria nie und nimmer über die Lippen gebracht hätte. »Ich muss dir auch etwas sagen.«
Keinen blassen Schimmer, wie lange ich da hocke, die Worte wie ein Mantra wiederhole und hemmungslos heule, bis plötzlich …
»Otis?«
Ich drehe mich um. Mein Vater steht unschlüssig im Türrahmen. Er atmet mehrmals tief ein und aus, bevor er etwas fragt. »Was ist los? Was musst du sagen?«
»Ich …« Ich lache auf, dann stockt meine Stimme und wieder fange ich an zu heulen. »Ich …«
»Du weißt es, oder?«
Ich senke den Blick auf meine Hände. Sie sind so fest miteinander verschränkt, dass die Knöchel weiß hervortreten. Eine Welle von Schuldgefühlen und Angst überschwemmt mich, als ich die Finger nun langsam voneinander löse, einen nach dem anderen. Ich bin zu geschockt, um nachzufragen, wovon Papa redet. Er könnte alles meinen.
Am liebsten will ich aufspringen und wegrennen, aber damit ist Schluss. Keine Geheimnisse mehr und so einfach wie jetzt wird es mir nie wieder gemacht, das Versprechen an mich selbst einzuhalten. Also …
»Was meinst du?«
»Ich bin nicht dein Vater, Otis.«
»Ich weiß«, erwidere ich und das klappt nur so gut, weil ich auf seinen Adamsapfel starre, der sich hoch und runter bewegt, während er ein paarmal heftig schluckt. »Mama hat es mir gesagt … kurz bevor sie gestorben ist.«
Ich zittere am ganzen Körper. Würde ich nicht sitzen, vermutlich läge ich schon längst zusammengerollt auf den Küchenfließen. Noch nie war ich so fertig wie in diesem Moment. Nicht mal, als Mama gestorben ist. Nicht mal, als eine Stunde danach Gloria und ihr Vater in den Wartesaal gerannt kamen und ich vor ihnen die Fassung wahren musste. Er wusste es? Er wusste es die ganze Zeit und hat nichts gesagt. Wie ich.
Ich weiß nicht, wie ich das finden soll. Welche Gründe hatte er, mir die Wahrheit zu verschweigen? Angst? Hat er ernsthaft gedacht, ein Leben lang belogen zu werden, würde mir helfen? Ich verstehe nicht, wie er darauf kommt. Andererseits … Die Erleichterung eben, ein paar weitere Stunden um ein klärendes Gespräch herumgekommen zu sein, meine erbärmlichen Ablenkungsversuche, die vielen kleineren Lügen, um die eine große zu vertuschen. Vielleicht verstehe ich es doch.
Und so, wie er mich gerade ansieht, ehrlich, so hat er mich noch nie angeschaut. »Eure Mutter hat es mir noch vor deiner Geburt erzählt. Wir haben nie einen Vaterschaftstest gemacht. Sicher hätten wir uns anders entscheiden können, aber für mich stand fest, dass ich mich um dich kümmere, und sie, na ja, …«
Er redet weiter auf mich ein, aber in dem Moment, in dem ich begreife, wie weit das unerwünschte Erbe, das Mama mir da übertragen hat, schon zurückliegt, macht etwas in mir dicht. Sie lügen mich seit meiner Geburt an. Nie im Leben wäre ich auf die Idee gekommen, dass Papa die Wahrheit kennen könnte. Mama war diejenige, die uns alle betrogen hat. So habe ich es immer gesehen. Alles andere ergab in meinen Augen einfach keinen Sinn.
»Seit vier Jahren überlege ich, wie ich es dir sage«, unterbreche ich ihn mitten im Satz. »Vier verfickte Jahre. Hast du eine Ahnung, wie schwer das war? Kapierst du das irgendwo in deinem versoffenen Verstand?«
Ich verabscheue mich dafür, dass ich so wütend werde. Aber in diesem Moment rasen zig unterschiedliche Szenarien durch meinen Kopf. Dass ich Papa erst zuhören muss, bevor ich ihn für etwas verurteile. Dass ich ihn schlagen will. Dass er mich in seine Arme ziehen soll, damit wir beide heulen können. Oder dass ich mich umdrehe, die Haustür aufreiße und für immer gehe. Aber ich bleibe.
»Ich kapier’s einfach nicht. Wie verdrängt man so was? Wie schaut man jemandem jeden Tag ins Gesicht und sagt kein einziges Wort? Redet man sich einfach ein, dass der Junge es nie herausfinden wird? Oder säuft man so lange, bis –«
Er zuckt heftig zusammen. »Otis.« Soll er mich ruhig hassen. »Man biegt sich die Realität so zurecht, wie es erträglich ist, um irgendwie zu überleben. Ich schätze, also … vielleicht erkennst du dich in dieser Sichtweise wieder, vielleicht auch nicht. Du arbeitest sehr viel. Deine Mutter kann nichts mehr dazu sagen. Alles, was ich dir jetzt erzähle, sind meine eigenen Gefühle. Ich habe gehofft, dass wir es dir beide irgendwann in Ruhe erklären können, und am liebsten hätte ich es dir zum erstbesten Zeitpunkt erzählt. Aber deine Mutter …« Er lacht bitter. »Gloria kommt ganz nach ihr. Wenn sie sich etwas in den Kopf setzen, die beiden, dann ziehen sie es ohne Rücksicht auf Verluste durch.«
Er atmet tief durch, bevor er weiterspricht. »Ich schätze, deine Mutter wollte mir einen Gefallen tun, indem sie es dir vor ihrem Tod endlich sagt. Ich gebe zu, dass ich sofort begriffen hatte, was los ist, als du im Krankenhaus auf mich zugestolpert bist. Es war dumm, mir einzureden, dass ich überreagiere und mir nur etwas einbilde. Ich hatte gehofft, dass sich in den darauffolgenden Tagen ein passender Zeitpunkt ergeben wird, aber dann war erst ihre Beerdigung und schließlich habe ich nie wieder das in deinen Gesichtszügen erkannt, was ich geglaubt hatte nach ihrem Tod gesehen zu haben. Da war nur noch die aalglatte Maske, bis heute. Du kannst mir das gerne vorwerfen, Otis. Aber ich hatte Angst, dass ich nicht nur Wunden aufreiße, sondern dir auch noch neue zufüge. Deshalb habe ich geschwiegen.«
In dem Moment, in dem Papa es laut ausspricht, wird mir klar, dass alles, was ich ihm davor an den Kopf geworfen habe, auch mir selbst galt. Ich bin keinen Deut besser als er oder … wir beide sind einfach gleichermaßen in der Hoffnung verloren, andere durch unser Schweigen schützen zu können. Gloria zu beschützen. Verzweifelt schüttle ich den Kopf, eine Entschuldigung liegt mir schon auf der Zunge. Doch bevor ich auch nur die Lippen auseinanderbekomme, redet Papa schon weiter.
»Du wirst mich dazu bringen können, mich für vieles zu entschuldigen. Mir ist klar, dass es unmöglich ist, zu verstehen, wieso ich die vergangenen vier Jahre geschwiegen und euch im Gegenzug lieber noch mehr Probleme aufgehalst habe. Genauso darfst du mich dafür anklagen, dass ich das Spiel die ganze Zeit über mitgespielt habe. Deine Mutter und ich … wir haben in diesem Punkt wohl beide versagt. Aber ich bereue es nicht, dich großgezogen zu haben, Otis. Ich bewundere dich.
Du bist dreiundzwanzig und schon jetzt ein vernünftigerer und clevererer Mann, als ich es je war. Du kümmerst dich um Gloria, ganz gleich, was euch verbindet. Ich bin stolz auf dich und wenn ich nur eine einzige Sache in meinem Leben richtig gemacht habe, dann ist es die, deiner Mutter damals gesagt zu haben, dass ich dein Vater sein werde, als sich dein leiblicher nicht mehr bei uns gemeldet hat. Ich verstehe es, wenn du das nicht willst. Das ist ganz allein deine Entscheidung. Es ist auch meine Schuld, falls du das Wrack, das ich in den letzten Jahren geworden bin, nicht mehr als deinen Vater annehmen möchtest.
Ich wollte das alles nicht. Es tut mir unendlich leid. Ich bereue den Weg, den ich seit dem Tod deiner Mutter eingeschlagen habe, und könnte ich die Zeit zurückdrehen, ich würde es nie so weit kommen lassen. Ich kann an nichts anderes denken und das macht mich beinahe noch mehr kaputt als der Scheißalkohol.«
»Es macht nicht nur dich kaputt.« Mit einem leisen Schnauben verschränke ich die Arme vor der Brust. »Ich –«
Papa unterbricht mich. »Ich weiß, Otis. Es ist …« Sein heiseres Auflachen klingt alles andere als glücklich. »Du kannst mich hassen, in Ordnung? Nur dass mich nichts bereuen lässt, wie ich mich nach deiner Geburt entschieden habe. Ich werde mein Leben lang stolz darauf sein, dass ich der Mann war, der dich zum ersten Mal hat lachen sehen.«
Habe ich gerade noch behauptet, dass mein Kopf leer gefegt ist? Das sickert jetzt aber definitiv durch.
»Ich liebe dich, und daran ändert ein Seitensprung deiner Mutter rein gar nichts.« Mit den Worten zieht er einen Stuhl zurück und lässt sich darauf fallen.
Ich persönlich finde selbst sitzen gerade viel zu anstrengend. Und als seine Schultern plötzlich beben und er beide Handballen auf die Augen drückt, brennen meine ganz genauso. Doch er ist noch nicht fertig.
»Deine Mutter hat häufig versucht Kontakt zu deinem Vater aufzunehmen, auch schon vor deiner Geburt. Es war meistens … schwierig. Du musst wissen, dass er oft zugesagt hat vorbeizukommen und letztendlich ließ er uns die ganze Nacht warten. Ihr hat viel daran gelegen, alles irgendwie unter einen Hut zu kriegen. Nur sah das dein leiblicher Vater wohl anders. Ein einziges Mal haben wir dich für ein paar Stunden bei ihm gelassen. Du kamst mit der Verletzung an deiner Nase zurück, dort, wo du jetzt die Narbe hast. Und da haben wir beschlossen, dass wir dich ihm nie mehr ohne unsere Aufsicht anvertrauen.
Irgendwann hat deine Mutter dann auf einen Vaterschaftstest gepocht. Aber dein Vater war der Meinung, dass sie ihn auf Unterhalt verklagt, wenn er einem Test zustimmt. Er hat ernsthaft gedacht, dass es uns nur darum geht. Um Geld oder irgendwelche Ansprüche. Mit zig Anwälten hat er uns gedroht. Aber alles, was wir jemals von ihm wollten, war die Möglichkeit, dir das Versprechen zu geben, dass dein leiblicher Vater für dich da ist, wenn du ihn brauchst. Dem wollte er nicht zustimmen und schließlich ist er weggezogen. Er ist regelrecht vor uns geflohen. Das war der Zeitpunkt, zu dem wir uns gemeinsam für eine Lüge entschieden haben. Wir konnten nicht ahnen, wie groß deren Ausmaß sein würde …
Erst ein paar Jahre später hat deine Mutter den Grund herausgefunden, weshalb dein Vater uns auf Abstand hielt. Sie hat sich mit ihm treffen wollen, aber er hat sie versetzt und, nun, … Er war verheiratet, und das schon lange, bevor er und eure Mutter sich trafen. Zwei Kinder waren zu dem damaligen Zeitpunkt innerhalb dieser Ehe geboren. Doch mit dir wollte dein Vater weiterhin nichts zu tun haben. Vielleicht hoffte er auch schlichtweg, dass ich mich ausreichend um dich kümmere. Das macht mich bis heute fassungslos. Aber letztendlich haben eure Mutter und ich auch ohne seine Unterstützung einen Weg gefunden.«
Ich kann es nicht begreifen. Der Mann, in dessen Haus ich seit einem Jahr ein und aus gehe, wollte keinen Kontakt zu mir? Er ist für die Narbe in meinem Gesicht verantwortlich? Ich habe im vergangenen Jahr so viele Scheißstunden damit verbracht, Ähnlichkeiten zwischen ihm und mir festzustellen und mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass es allein die Schuld meiner Mutter war, dass ich ihn erst so spät kennengelernt habe. Nie habe ich es in Betracht gezogen, nie, dass sie alle Bescheid wussten und mein leiblicher Vater freiwillig Distanz hergestellt hat. Aber –
War es nicht jedes Mal Linus’ Mutter, die mich angerufen und zu ihnen eingeladen hat? Hätte sie nicht nach Wegen gesucht, mir Kontakt zu meinem Halbbruder zu ermöglichen? Ja. Und es war allein mein leiblicher Vater, der mir nichts als eine Sprachnachricht hinterlassen hat.
»Für mich hat es sich nie so angefühlt, als würde ich seine Rolle ausfüllen, weil du in meinen Augen von Anfang an mein Sohn warst«, fährt Papa fort. »Ich hoffe … also … ich hoffe, dass ich das einigermaßen gut hinbekommen habe.«
»D-das hast du«, flüstere ich. Das meine ich ernst. Ich habe so viele wunderschöne Erinnerungen an den Mann, der zusammengesunken in unserer WG -Küche hockt. Und nachdem Mama gestorben ist, war es für mich absolut selbstverständlich, für ihn da zu sein. Obwohl ich es wusste, hatte ich immer Zeit für ihn. Ich hätte meinen Job riskiert, für ihn und für Gloria gleich doppelt. Weil ich sie beide liebe, bedingungslos, und sie in meinem Leben brauche wie … verdammt, wie man eine Familie braucht.
Ich will nicht mehr dagegen ankämpfen. Ich kann es nicht mehr.
Dass ich aufgestanden und zu meinem Vater gelaufen bin, kapiere ich erst, als auch er sich erhebt und wir beide uns aneinander festhalten. Und das tut … gut. Ist es nicht okay, zwei Halbgeschwister zu haben? Oder drei, vier. Da ist ein leiblicher Vater und einer, mit dem man gemeinsam bis zu diesem Punkt hier gelaufen ist. Das ist doch in Ordnung. Ich presse den Kopf gegen Papas Brustkorb, während wir beide losheulen wie kleine Kinder und ja, alles davon ist okay!
Weg mit der Maske. Weg. Weg. Weg.
»Du wirst immer mein Sohn sein, Otis.« Ich spüre, wie Papa schluckt. »Ich habe eurer Mutter das Versprechen gegeben, dich dabei zu unterstützen, wenn du deinen leiblichen Vater kennenlernen möchtest, und daran halte ich mich. Ich begleite dich jederzeit zu ihm, das wäre okay für mich.« Dabei streichelt er mir über den Rücken, wobei es mir die Kehle zuschnürt.
Trotzdem presse ich hervor: »Ich kenne ihn und auch meinen Halbbruder Linus und dessen Mutter. Nur dass ich mich beiden gegenüber nicht fair verhalte.«
Papa schiebt mich ein Stück von sich weg und … ich glaube, es ist das erste Mal seit Mamas Tod, dass ich mich nicht dafür verabscheue, geweint zu haben. Alles in mir drin fühlt sich dadurch sofort leichter an, weniger aufgerieben und kein bisschen falsch.
Das Gefühl von Stärke und Sicherheit wird deutlicher, als er mir verspricht: »Ich bin mir sicher, dass du das ändern kannst.«
Damit zieht er mich in eine weitere Umarmung, die so lange anhält, bis sich in meinem Rücken jemand räuspert.
»Wann wolltet ihr es mir sagen?«
Ruckartig drehe ich mich zu Gloria um.
»Ria …« Ich schlucke. »Scheiße, ich wollte …« Sofort unterbreche ich mich, weil jetzt alles wie eine Ausrede klingt.
Ihre Augen weiten sich, als Papa hinter mir hart den Atem ausstößt.
»Gloria, Schatz, lass uns in Ruhe reden.«
Aber Ria steht unter Schock und ich tue es auch.
Sie schüttelt langsam den Kopf. »Als ich euch gesagt habe, dass ich erwachsen genug bin, um mit allen Angelegenheiten klarzukommen, da … also … ihr hättet euch für den Anfang auch etwas weniger Beschissenes ausdenken können!«
Ich will zu ihr gehen und Papa hat exakt dieselbe Idee, doch Gloria hebt abwehrend die Hände, weshalb wir beide stehen bleiben.
»Sagt mir nie wieder, dass der Biber uns kein Glück gebracht hat. Seit Mama ihn weggeworfen hat, passieren nur noch schreckliche Dinge! Ich bin fürs Erste bei einer Freundin.« Sie beißt sich auf die Lippe, dann dreht sie sich einfach um und geht. Wir halten sie nicht auf.
»Sie hat keine Sachen dabei.« Es ist Papa, der Minuten später zuerst die Sprache wiederfindet. »Aber sie steht das durch, oder? Sie ist stark und vernünftig. Das ist Rias Art, da ist sie wie ihre Mutter. Bei dem Biber war es doch damals dasselbe.«
Ich ertrage sein Gerede nicht, aber mir fällt gerade auch nichts Besseres ein. Denn das hier hat nichts, aber auch absolut gar nichts mit der Biber-Situation zu tun. Deshalb ist alles, was ich ihm antworte: »Ich weiß es nicht, Papa.«
Einen Moment später hole ich wie betäubt mein Handy aus meinem Zimmer und rufe auf der Wache an, um mich krankzumelden. Es ist mir plötzlich egal, was sie dort von mir denken und ob mir Maxim eine Empfehlung ausspricht oder nicht. Schwächling oder Pussy … sollen sie mich nennen, wie sie wollen. Es reicht, wenn ich meinen richtigen Namen kenne.
In diesem Moment geht es nur um meine Familie, um Gloria, Papa, meinen Vater und seinen Sohn Linus. Auch wenn ich gerade wahrscheinlich zu sehr aus dem Bauch heraus entscheide und das alles hinterher bereuen werde.
Aber das ist Otis allemal wert.