I KNOW THAT I LOVE YOU
MANN, WARUM VERSTEHST DU DENN NICHT?
THAT ALL I EVER WANTED
WAS YOU AND ME
Ella
Ich löse mich aus Juans Umarmung und ziehe mir die Maske ein Stück hoch, als Otis sich durch die Menge quetscht und auf uns zukommt. Erst da realisiere ich, dass ich das kratzige Stoffteil nach dem Auftritt heute für alle weiteren nicht mehr wieder aufziehen muss. Was für eine Erleichterung. Und prompt verpasse ich natürlich den richtigen Moment für einen passenden Übergang in den letzten Song, was hoffentlich niemand außer mir bemerkt.
Fast bin ich erleichtert, dass Otis zuerst Juan begrüßt, der ihm mit einem Nicken in Richtung Lasse und des anderen Veranstalters übersprudelnd vor Freude von unserem Angebot erzählt. So habe ich noch einen winzigen Augenblick, um mich darauf einzustellen, dass –
Okay, es bleibt keine Zeit mehr. »Können wir reden, wenn du fertig bist?«
Ja, das sollten wir. Aber ich will den Moment noch ein wenig länger genießen. Vielleicht funktioniert ja beides?
Ich weiß, dass ich mit Otis über alles sprechen muss, nur möchte ich ihn in diesem Augenblick einfach an mich ziehen und mit ihm tanzen. Denn gerade habe ich allen Grund dazu, ein kleines bisschen durchzudrehen.
»Ja«, erwidere ich heiser und räuspere mich daraufhin sofort. Mit schweißnassen Fingern taste ich geistesabwesend nach den Knöpfen und Reglern auf Juans DJ -Controller und rutsche ab. Juan rettet den Song problemlos, indem er mich ein Stück zur Seite und damit automatisch in Otis’ Richtung stößt, damit er den Controller alleine bedienen kann.
Otis lächelt, dann gibt er mir mit einem Nicken zu verstehen, dass er wartet. Unbeholfen starre ich Juan an und ein paar Sekunden später ebbt die Lautstärke langsam ab, bis die Musik schließlich von frenetischem Applaus abgelöst wird.
Juan zieht mich wieder zu sich, womit sich endlich meine Starre löst. »Wir sind Dirty Feminists «, brüllt er den jubelnden Gästen entgegen, die daraufhin nach einer Zugabe verlangen, die wir ihnen ohne Zögern geben.
Von Otis beim Musikmachen beobachtet zu werden, fühlt sich eigenartig an. Ich will mich nicht von ihm ablenken lassen und gleichzeitig möchte ich mit meinen Bewegungen nicht übertreiben. O Mann, weshalb denke ich überhaupt darüber nach? Ich wollte bis eben doch noch den Moment genießen.
Das tue ich jetzt auch, obwohl mein Blick immer wieder zu Otis schweift. Er hat seine Schulter gegen einen der alten Tanks gelehnt und jedes Mal, wenn er registriert, dass ich ihn anschaue, lächelt er. Ganz kurz dämpft sein Lächeln die Lautstärke um mich herum, bis ich mich wieder daran erinnere, den DJ -Controller zu bedienen.
Ich reiße mich zusammen und bringe den Song zu Ende. Nach einer zweiten Zugabe ziehe ich die Maske vom Kopf und stolpere auf Otis zu. Das Gefühl in meinem Magen, als ich vor ihm stehen bleibe, kann ich nicht deuten. Aber eine Sekunde später werde ich eh von meinem Herzen abgelenkt, das immer wilder pocht.
»Herzlichen Glückwunsch«, sagt er. Ich habe noch nie bewusst wahrgenommmen, dass Otis so viel größer ist als ich. Vielleicht kam ich mir in seiner Nähe auch noch nie so winzig vor wie gerade eben. Ich hasse es, dass ich die Schultern hängen lasse, als ich Otis ein leises »Danke« antworte. Es wird Zeit, dass ich endlich ehrlich zu ihm bin. Ich hole tief Luft und starre auf die schmale Treppe hinter ihm, die mir erst jetzt auffällt. Die Veranstalter haben uns vorhin durch einen der Notausgänge reingelassen. Falls die Party gesprengt wird, können wir darüber fliehen.
»Otis, es tut mir leid, dass ich dich erst im Stich gelassen und dann fast schon dazu gezwungen habe, mit Gloria zu reden.«
»Ria musste die Wahrheit erfahren.«
Wir halten beide inne.
»Aber jetzt ist sie sicher wütend auf dich. Weißt du, dass sie im Moment übergangsweise in Charlies Zimmer wohnt?« Als er nickt, fahre ich fort. »Ich wollte sie längst fragen, ob es ihr gut geht, aber ich … ich hatte Angst.«
»Das ist okay.« Seine Mundwinkel sind nach oben gewandert. »Ich hab auch manchmal Angst vor ihr.«
Wir müssen lachen. Und ganz kurz blitzt das Gefühl vom Abend vor meiner WG auf. Das Gemeinsam-gegen-den-Rest-der-Welt-Gefühl, weil wir einander vertrauen dürfen und keine Regeln brauchen, da wir sie ja sowieso alle brechen.
Dann hustet Otis, als bekäme er nicht richtig Luft, und fährt schließlich mit einem Krächzen in der Stimme fort: »Ich muss sie ihren Weg gehen lassen. Wenn sie mich nicht mehr in ihrem Leben haben will, dann werde ich das akzeptieren.« Er legt die Hand an eines der quer verlaufenden Heizungsrohre. »Obwohl ich keine Ahnung habe, wie ich das aushalten soll. Am liebsten würde ich Gloria befehlen, mit mir zu reden und mir anschließend zu verzeihen.« Er wartet meinen Protest nicht ab, sondern redet schnell weiter. »Ich bin kein Superheld, Ella. Ganz sicher nicht.«
»Ich noch viel weniger!«
»Weil du mit deinem Vater geredet hast?« Otis’ Augenbrauen schießen irritiert in die Höhe. »Das ist –«
»Ich habe ihn davor jahrelang ignoriert, weil ich Panik vor dem hatte, was allein seine Stimme in mir auslöst.«
Er nickt langsam. »Das verstehe ich.«
Jetzt muss ich ihm die Wahrheit sagen, es gibt kein Zurück mehr. Alles andere wäre unfair. »Ich habe nur so zurückweisend auf deine Beichte reagiert, weil ich unendlich eifersüchtig auf dich bin. Ich habe es dir nicht gegönnt, das war das Problem. Dein Vater wirkte im Museum richtig freundlich, sodass ich mich einfach nur schlecht gefühlt habe, weil ich meinen eigenen abblocke. Ich glaube, das hat irgendetwas in mir drin ausgelöst.«
Mir schießen wieder Tränen in die Augen. Vor allem, weil ich Otis ansehe, wie sehr ihn meine Einschätzung seines leiblichen Vaters verletzt. Seine Stirn ist leicht gerunzelt und obwohl er äußerlich nur darauf zu warten scheint, dass ich weiterspreche, signalisieren mir die zu Fäusten geballten Hände, wie es in ihm brodelt.
»Ich hatte regelrecht Panik, dass mir dieses unbekannte Etwas tief in mir drin die Maske vom Gesicht reißt, die ich über Jahre hinweg jeden Tag getragen habe. Deshalb habe ich auch nie weiter nachgefragt.« Mein Tonfall ist ein klägliches Jammern, wofür ich mich so sehr schäme, dass ich die Hände vors Gesicht hebe. »Ich fühle mich in Bezug auf meinen Vater komplett unfähig. Alles, was ich dir vorgeworfen habe, galt in Wirklichkeit mir selbst. Ohne dich wäre ich nie ans Telefon gegangen, als er neulich angerufen hat. Nur weiß ich eben nicht, ob das gut oder schlecht war. Und selbst dafür will ich dich am liebsten verantwortlich machen. Ich möchte die Verantwortung für das, was ich meinem Vater gegenüber tue oder lasse, auf jemand anderen abwälzen. Ja, ich glaube, das ist es. Ich will mich dieser Sache entziehen, so wie ich es mein Leben lang schon mache, und gleichzeitig bin ich neugierig. Albern, oder?«
»Nicht im Geringsten!« Dieses Verständnis in Otis’ Augen, als er zögernd nach meinen Händen greift, um sie fest mit seinen zu umschließen, und seine Stimme, die vor unterdrückten Tränen zittert … »Ich kenne diese Angst, Ella. Meine gesamte Existenz fühlt sich an manchen Tagen einfach völlig falsch an. Ich will meinen Stiefvater lieben, weil er mich mit allem, was er hatte, großgezogen hat, und gleichzeitig ist da ein Mann, mit dem mich so gut wie nichts verbindet. Muss ich ihm nur deshalb alles verzeihen? Weil ich sein Fleisch und Blut bin? Oder darf ich entscheiden, dass ich ihn nicht in meinem Leben brauche, seinen Sohn Linus hingegen schon? Ich finde auch keine Antworten auf diese Fragen. Aber was ist, wenn ich das gar nicht muss? Also, zumindest nicht heute oder morgen.«
Otis’ Brustkorb hebt und senkt sich, als er tief durchatmet. »Zu mehr Erkenntnissen bin ich nach zwei Wochen Grübelei nicht gekommen, sorry. Aber ganz ehrlich? Das sind mehr Antworten, als ich bis zu unserem Wiedersehen überhaupt Fragen im Kopf hatte. Ohne dich hätte ich es nie kapiert. Ich habe zum ersten Mal das Gefühl, dass die Maske fällt und mit ihr der vierjährige Winter in mir drin vorüberzieht.«
Ich bilde mir ein, dass seine Worte jede Faser in mir entzünden. »Danke, dass du mir das gesagt hast.«
»Es gibt da noch etwas …«
Mein Herz macht einen Satz, nur um in der nächsten Sekunde wie verrückt loszudonnern. O nein, bitte sag mir nicht, dass es mit uns trotz allem nicht funktioniert. Bitte, Otis.
»Was denn?«, stoße ich aus.
»Ich habe gelogen.«
Ich muss schlucken. »Weswegen?«
»Auf dem Festival im Sommer hast du mich gefragt, ob es in Ordnung war, mich zu küssen, und ich habe dir daraufhin versichert, dass du dir über einen Wangenkuss keine Gedanken machen musst, weil solche Küsse rein gar nichts zu bedeuten haben. Das stimmt nicht. Der Kuss hat mir etwas bedeutet. Nämlich, dass ich dich wiedersehen will.« Er hält inne, sichtlich überfordert von seinen eigenen Worten. »Sorry«, sagt er abermals. »Das war unangebracht, weil du zu diesem Zeitpunkt noch mit diesem –«
Ich ziehe Otis an mich. Tränen schießen mir in die Augen, während meine Lippen nach seinem Mund suchen. Seine Finger fahren in mein Haar und ziehen mich noch näher, und ich kralle mich an seinem Hemd fest. Ich kann nicht anders, als mich in ihn fallen zu lassen. Sein Wangenkuss war schon ein Versprechen und unser Kuss neulich vor der WG … mit dem hat Otis mir versichert, dass er zu mir zurückkommt. Ob er weiß, wie viel es mir bedeutet, dass er nun wirklich hier ist? Hier bei mir. Ganz offensichtlich hat er sich nämlich daran gehalten. »Ich hab mich in dich verliebt«, gestehe ich atemlos.
Ich spüre, dass er lächelt. »Das trifft sich gut, weil ich dich genauso liebe.«
Wir küssen uns.
Unsere Zungen stoßen aneinander, umkreisen sich. Otis fühlt sich so heiß und fest an und, als er seine Mitte gegen mich drängt, auch hart. Ich vergesse alles um mich herum, vergesse, wo wir sind, und nehme nur noch Otis wahr und wie sehr ich ihn brauche und liebe. Er zieht sich durch meinen ganzen Körper bis runter in meinen Schoß. Ich weiß nicht, wie er das schon von der ersten Sekunde an hinbekommen hat, in der er sich fordernd auf mich gehockt und meine Arme auf meinem Rücken fixiert hat. Doch deshalb habe ich mich in diesen Mistkerl verliebt. Otis ist leidenschaftliches Pulsieren und sichere Ruhe in perfekter Kombination. Das reicht aus.
Am liebsten will ich ihm das alles genau so sagen, aber als wir uns kurz voneinander lösen, nimmt mir jemand anderes die Entscheidung ab.
»Polizei Berlin.« Der Ausruf dringt über die Treppe vom oberen Stockwerk zu uns runter.
Otis erstarrt. Ich muss ihn nicht danach fragen, ich sehe in seinem Ausdruck, dass er keinen blassen Schimmer von dem Einsatz hatte.
»Fuck«, sagt er, die Stimme dabei erstickt. »Wenn die mich hier erwischen, obwohl ich krankgemeldet war … ich … fuck.«
Das Herz hämmert mir bis in den Hals, als ich, ohne nachzudenken, nach Otis’ Hand greife und mit ihm zum Notausgang haste.
Auf dem Weg nach draußen stoßen wir beinahe mit Lasse zusammen, dessen Atmung sich fast überschlägt, als er gemeinsam mit uns vor der verdammten Polizei flieht.
»Polizei Berlin, sofort stehen bleiben!« Das klingt nicht nur angefressen, sondern auch beängstigend nah.
Wir erhöhen unser Tempo, aber mit einem fetten Knoten im Magen muss ich nach wenigen Sekunden feststellen, dass Otis und ich nur wegen mir immer weiter hinter Lasse zurückfallen. Der hat es mittlerweile bis zu einer kleinen Brücke geschafft. In Gedanken zähle ich bis dreißig und warte darauf, dass Otis stehen bleibt oder mich antreibt, damit ich schneller renne, doch er sagt nichts. Er läuft bloß mit mir an seiner Hand.
Das Geräusch schwerer Schritte wird lauter und mischt sich schließlich unter unser Getrampel. Anspannung jagt durch meinen Körper und weil ich nicht wirklich weiß, wie die Nummer hier ausgeht, ist mein Blick noch immer auf Lasse gerichtet, der gerade hektisch die Brücke überquert. Wenn er sich beeilt, kann er die untergehende Sonne nutzen, um im Schatten der Bäume zu verschwinden.
Ich muss Otis’ Hand loslassen, damit zumindest er weglaufen kann und seinen Job nicht verliert. Doch als ich meine Finger lösen will, knurrt er leise. »Vergiss es.«
Während mein Herz deshalb einen Hüpfer macht, ist hinter uns ein lautes Keuchen zu hören und im nächsten Moment wird meine Hand unsanft von Otis’ weggerissen, dessen Körper unter einem anderen wuchtigen, uniformierten zu Boden geht.
Otis wehrt sich nicht und der Polizist fixiert seine Hände genau auf dieselbe Weise auf seinem Rücken, wie Otis es vor ein paar Wochen bei mir gemacht hat.
»Maxim Dede«, sagt er kurz darauf, »Abschnitt 55 – die Dame, einmal den Personalausweis, bitte.«
Tränen schießen mir in die Augen, weil ich riesige Schuldgefühle habe. Ist das eine Verhaftung? Ich hatte immer angenommen, in solch einem Fall den Standardsatz zu hören: Sie haben das Recht zu schweigen und so weiter.
Ich weiß, dass Otis jetzt allein entscheiden muss, was wir tun. Er hat heute einen der Veranstalter kennengelernt. Selbst wenn es mich Lasses Angebot kostet, werde ich Otis nicht aufhalten, wenn er ihn verpfeifen muss, um seinen Job zu behalten.
»Maxim«, sagt er in beschwichtigendem Tonfall, woraufhin dieser, ohne zu zögern, von ihm ablässt, sodass Otis problemlos aufstehen kann.
Ich starre auf seine breiten Schultern, die er in diesem Moment strafft, und versuche mir den Polizisten vorzustellen, den ich damals zum ersten Mal nach dem Festival wiedergetroffen habe. Aber so ganz gelingt mir das nicht, da Otis in den letzten Wochen zu einem Mann geworden ist, der sich nicht mehr für seine Gefühle und Worte schämt. Nur den sehe ich.
Mich überläuft eine Gänsehaut, weil Maxim plötzlich heiser auflacht. »Otis«, sagt er. »Wusste nicht, dass jemand, der krank ist, so schnell rennen kann.«
Otis zögert kurz, aber weil das wahrscheinlich nicht der richtige Moment für Ausreden ist, zuckt er mit den Schultern. »Ich war nur bis gestern krankgemeldet.« Er holt tief Luft. »Dieses Wochenende entspann ich, war dein Vorschlag.«
Ich sehe dabei zu, wie Otis den Kopf dreht und einen Moment später die Augen verengt. Ich weiß nicht, was ihn beunruhigt, weil dieser Maxim einen Oberkörper hat, der gefühlt breiter ist als meine Armspanne, und ich deshalb nichts außer ihn sehen kann.
»Netter Konter«, lobt er Otis, bevor er die Brauen zusammenzieht. Wäre er nicht ein Polizist und ganz offensichtlich Otis’ Vorgesetzter, würde ich jetzt lachen. Maxims Brauen sind so dicht und er hat sie nicht gezupft, weshalb sie seine Augen halb verdecken. »Hast du einen der Veranstalter getroffen?«, will er wissen. »Ein Name wäre im Hinblick auf deine Empfehlung durchaus hilfreich.«
Ich halte die Luft an. Für genau drei Sekunden starre ich auf Maxims Dienstnummer und atme nicht. Ich bin mir sicher, dass Otis ihm Informationen liefern wird. Das ist okay , wiederhole ich in Gedanken. Es muss okay sein.
»Nein«, sagt Otis mit fester Stimme. »Ich bin viel zu spät gekommen, da hatten sich die Veranstalter längst verpisst.«
»Und du?« Maxim wendet sich an mich. »Kennst du jemanden?«
»Es ist … ich …« Ich schüttle schnell den Kopf und fühle mich richtig mies dabei. »Nein.«
»Maxim?«
»Was denn, Vici?«, knurrt dieser, als er einen Blick nach hinten wirft. »Habt ihr jemand Wichtigen drangekriegt?«
»Nee, die Veranstalter waren wohl nur kurz hier.« Jetzt endlich sehe ich die Polizistin, die uns entgegenkommt. Sie trägt ihr schwarzes Haar hochgebunden und weil die Sonne mittlerweile fast untergegangen ist, blitzt vor ihren Füßen ein Lichtschein auf, der von ihrer Taschenlampe ausgeht. »Ist das Otis?«
»Wir kommen gleich rüber«, erwidert Maxim und deutet auf mich. »Ich nehm noch kurz ihre Daten auf.«
Mein Gesicht wird schlagartig heiß. Mein Personalausweis liegt zu Hause.
»Die kann dir Otis sicher auch nennen«, sagt Vici mit einem Lachen. »Anscheinend nimmt er deine Ratschläge ja doch ernst. Wird Zeit, dass du ihm seine Empfehlung schreibst.« Wieder lacht sie und diesmal stimmt Maxim mit ein. Daran, wie Otis sich neben mir verkrampft, merke ich, dass ihm das Thema nicht gefällt. Er sagt nichts. Deshalb ist es wieder Maxims Stimme, die an mein Ohr dringt.
»Du heulst mir jetzt aber nicht den Funkwagen voll«, sagt er an seine Kollegin gewandt, »weil Otis auch andere Weiber an seinen Schwanz lässt.«
Sofort sieht Otis mich an.
Ich spüre meinen Herzschlag. Mehr nicht. Otis hat etwas mit dieser Vici am Laufen. Er hatte Sex mit ihr, vielleicht sagt er ihr, dass er sie liebt.
O Gott.
Ich kann nicht mehr richtig atmen, als sich auch die Blicke der anderen auf mich richten. Doch ich schaffe es nicht, auf Maxims Spruch zu reagieren. Irgendetwas reißt jeglichen Sauerstoff an sich, den ich bräuchte, um Luft zu holen. Keuchend versuche ich zu atmen, versuche Beschwichtigungen zu finden. Alles halb so schlimm. Ich hatte auch Sex mit anderen. Es ist ein Spiel mit Regeln. Nur weil man eine Regel bricht oder sogar mehrere, bleibt es noch immer ein Spiel, nicht?
Wenn ich auch nur eine Sache davon laut ausspreche, werde ich mich auf ewig dafür hassen und deshalb …
… drehe ich mich um und renne weg.
Alles, was ich Otis jetzt entgegenschleudern könnte, würde uns beide verletzen und es würde nichts ändern. Vermutlich sieht er das genauso, denn es folgt mir niemand, weshalb ich nach ein paar Minuten anhalte. Ich muss die Hände auf den Oberschenkeln abstützen und den Rücken krümmen, um irgendwie Luft zu bekommen.
Ich beiße die Zähne aufeinander, weil sich zu der Atemlosigkeit noch ein unangenehmer Druck in meinem Kopf aufbaut. Wäre Charlie jetzt hier, würde sie mich ohne Zögern zurück zu Otis schleppen, allein schon deshalb, da derartige ungeklärte Situationen zu Missverständnissen führen können – Charlies Hass-Trope in Büchern.
War es gut, dass ich weggerannt bin? Nein, verdammt noch mal, es ist nie gut, vor einer Sache wegzulaufen.
Unschlüssig gehe ich ein paar Schritte zurück in Richtung der Fernsehfabrik. Doch mir wird schlecht. Würgend halte ich mir die Hand vor den Mund und bleibe unter einer Laterne mit zerbrochenem Plastikgehäuse stehen. Ein paar Schritte stolpere ich dann doch noch im Halbdunkel zurück, doch irgendwann gebe ich es auf und ziehe mein Handy aus der Hosentasche. Otis hat mir schon eine Nachricht geschrieben.
Es tut mir leid. Alles.
In mir drin wird es beängstigend ruhig. Alles? Was alles? Dass er diese Vici fickt? Dass er sich neben mir mit anderen Weibern trifft, wie es Maxim so widerwärtig ausgedrückt hat? Dass er mir nicht hinterhergelaufen ist? Dass wir jetzt schon wieder alleine sind, obwohl wir doch zusammengehören? Oder meint er mein Herz, das gerade stolpert und dann zerbricht?
Alles ist ein unfassbar großes Wort. Und ich bin mir absolut sicher – drauf geschissen, ob es mich zu Boden ringt oder fliegen lässt –: Für mich ist alles …
Otis.