OH, FORGIVE, I DON’T NEED
ICH BEKOMME IN DEINER NÄHE KEINE LUFT
JUST GET AWAY FROM MY LIFE
GEH MIR ENDLICH AUS DEM KOPF!

Ella

»Pass auf, dass du mir dort drüben nicht verloren gehst, ja?« Lächelnd nimmt mich meine Mutter das dritte Mal in den Arm.

Diesmal linse ich nicht über ihre Schulter zum überraschend leeren Flughafeneingang, sondern vergrabe mein Gesicht an Mamas Brust. Ich zwinge mich, nicht zu weinen, was mir nicht gelingt, glaube ich. Die Tränen müssen unter meinen Wimpern hervorströmen, doch ich bin viel zu abgelenkt von dem Chaos an Emotionen, das in meinem Brustkorb miteinander kämpft.

»Hey?«

Mamas Locken kitzeln mich an der Stirn, als sie meinen Kopf behutsam ein Stück anhebt. Ich schaffe es nicht, ihr in die Augen zu sehen. »Es wird alles gut gehen, oder? Er ist mein Vater. Es ist richtig, dass ich zu ihm fliege … Ist es wirklich okay für dich, Mama?«

»Gürkchen«, beginnt sie und streicht mir sanft das Haar zur Seite. »Die ganze Fahrt hierher fragst du mich nichts anderes als, ob es in Ordnung für mich ist, dass du zu ihm nach Kanada gehst. Das ist es.« Sie runzelt die Stirn. »Und ja, natürlich hätte ich gerne früher gewusst, dass er Kontakt zu dir sucht, aber letztendlich bin ich einfach nur froh, dass er es überhaupt getan hat. Außerdem finde ich sein Angebot sehr nett.«

Sie meint jenes, mir ein berufsbegleitendes Pädagogik-Studium zu bezahlen.

In meinem Magen baut sich ein unangenehmer Druck auf, genau wie gestern Abend, als mein Vater plötzlich, vielleicht aus überschwänglicher Vorfreude heraus, vorgeschlagen hat, mir finanziell unter die Arme zu greifen. Mir kam es vor, als wollte er sich irgendwie für meine Entscheidung revanchieren, was natürlich völliger Blödsinn ist. Wer bedankt sich denn mit einem Tausende Euro teuren Teilzeitstudium?

»Das werde ich ganz sicher nicht annehmen«, stoße ich hervor, während neben uns Autos hupen. »Alles, was wir zusammen hatten, hat immer gereicht, Mama, und ich will, dass das auch so bleibt. Aber ich sollte allmählich reingehen, wenn ich den Flieger bekommen möchte.«

Was gelogen ist. Am liebsten will ich zurück in Mamas Auto springen und sie darum bitten, mich nach Hause in ihre Wohnung zu fahren. Dorthin, wo mindestens einmal am Tag gelacht werden muss und niemand das große Licht anschalten darf. Dorthin, wo ich ihr Gürkchen bin.

Was weiß denn ich, ob die Familie meines Vaters lacht. Oder ob überall in ihrem Haus nicht vielleicht diese hässlich grellen Lichter hängen. Mir ist speiübel. Wenn ich jetzt nicht sofort in den Sicherheitsbereich renne, dann werden mich die zwiegespaltenen Gefühle noch dazu bringen, meiner Mutter die Entscheidung zu überlassen, ob ich fliegen soll. Dabei will ich das doch. Oder? Verdammt, oder?

Mama zögert kurz, dann küsst sie mich auf die Stirn: »Du kommst aber wieder zurück, ja?« Sie lacht auf und streicht mir die Sorgenfalten glatt, als sie meinen verunsicherten Blick sieht. »Entschuldige, für mich ist es auch ein wenig aufregend. Ehrlich gesagt hätte ich nie geglaubt, dass der Tag noch mal kommt, an dem ich dich zum Flughafen fahre, damit du zu ihm fliegst. Ich habe immer angenommen, dass er …«

Dass er zu mir kommt. Zurückkommt. So, wie er es versprochen hat. Worte, Küsse und selbst Blicke können ein Versprechen sein, richtig? Ein Versprechen, zu bleiben oder zurückzukommen.

Mama räuspert sich. »Nun, jetzt ist es so und wir nehmen die Dinge so, wie sie kommen.« Sie zieht sich ihre Locken über die Schulter, die dadurch perfekt ihr liebevolles Gesicht umrahmen. »Sei mir anständig dort, dein Vater lebt, na ja, er lebt ein wenig anders als wir …«

Er ist stinkreich, das will sie mir damit sagen. Ich habe den Preis eines Erste-Klasse-Tickets nach Kanada nicht überprüft, aber ich weiß auch so, dass Mama und ich es uns selbst nach vier Jahre Sparen nicht hätten leisten können. Vielleicht kommt Papa mich mit dem Helikopter aus Vancouver abholen? O Gott, bitte nicht.

»Er soll nicht denken, dass …« Tränen schießen ihr in die Augen, weshalb ich sie sofort an mich drücke. Ich will nicht, dass sie weint, und vor allem weiß ich wirklich nicht, wie sie darauf kommt, dass ich mich irgendwie danebenbenehmen könnte. Sie hat mir Anstand und Werte beigebracht.

In dem Augenblick realisiere ich, dass meine Mutter Angst hat. Ich schlucke. Sie hat Angst davor, dass mein Vater sie verurteilt. Dass er denkt, sie hätte mich nicht gut erzogen.

Einen Moment lang wünschte ich, mein Vater hätte sich nie bei mir gemeldet, damit alles noch wie früher wäre. Aber das ist es nicht. Wird es nie wieder sein.

»Dann schau mal, dass du ins Gebäude kommst. Vielleicht rufst du mich kurz an, bevor du in den Flieger steigst? Ich warte außerhalb der Schranke, falls noch etwas ist, ja?« Außerhalb, weil die Parkgebühren schon für die zehn Minuten, die wir hier sind, unser Budget sprengen. Ich bin trotz Minusgraden seit Wochen ohne Jacke unterwegs, weil ich mir eine gute neue im Moment nicht leisten kann. Aber …

»Du solltest deinem Vater eine Chance geben.« Mama lächelt mich an, als ich meine Tasche geschultert – nur Handgepäck, weil ich definitiv nicht vorhabe zu bleiben – und ihr zögernd den Rücken zugewandt habe. »Ella?«

Sofort drehe ich mich wieder zu ihr um und sehe die Tränen auf ihren erröteten Wangen.

»Ich hab dich lieb und ich bin stolz auf dich.« Sie macht eine Geste, die mir wohl sagen soll, dass ich spät dran bin.

»Danke, Mama«, erwidere ich mit belegter Stimme und mache auf dem Absatz kehrt. »Ich melde mich. Hab dich lieb.«

Mit rasendem Puls renne ich zwischen zwei Autos über die Straße. Die riesige Anzeigetafel mit den Abflügen ignoriere ich, obwohl ich nicht einmal weiß, von welchem Gate ich abfliege, aus Angst, dass ich bei den ganzen Flugnummern sofort einen Rückzieher mache. Nur meinen Blick lasse ich hektisch hin und her wandern, bis ich in der Ferne den Einlass zum Sicherheitsbereich erkenne.

Ich rücke den Rucksack auf meiner Schulter zurecht, dann renne ich durch die Aufenthaltshalle zu den vollautomatischen Ticketkontrollen.

Piep. Piep. Piep.

Es ist nicht dieselbe Situation, erinnere ich mich. Ja, noch nicht einmal dasselbe Flughafengebäude. Die ganzen alten, hässlichen Erinnerungen wurden mit der Schließung des Flughafens in Tegel ein für alle Mal dort eingesperrt. Aber warum tauchen dann plötzlich so viele Bilder vor meinem inneren Auge auf? Mir wird noch schlechter, weil mein Vater jahrelang fast achttausend Kilometer von mir entfernt sein Leben durchgezogen hat, aber ich so oft an ihn gedacht habe.

Ich presse die Hände fest an meine Seiten und reihe mich hinter einer Familie ein, deren Handgepäck definitiv größer ist als die Maße, die Mama und ich gestern im Internet recherchiert haben. Zum Glück hat Bela mir auf dem Weg zum Yoga dann noch schnell seinen passenden Rucksack vorbeigebracht. Mama und ich sind nie in den Urlaub geflogen, mein allererster Flug wird der zu meinem Vater sein.

Wieso ist er nicht zurückgekommen, wenn er doch Geld hat? Nur weil er Angst hatte? Siebzehn Jahre lang? Gottverdammt.

Ich wische mir mit der freien Hand über die Augen, weil ich mir noch immer so unsicher bin. Und dann hole ich tief Luft und ziehe mein Handy hervor. Ich öffne das Flugticket. Jetzt muss ich es nur noch gegen den Scanner halten, sobald der Familienvater vor mir durch die Kontrolle durch ist, und dann …

… gibt es kein Zurück mehr.