19. DEZEMBER, BERLIN

»WENN IRGENDJEMAND VERSUCHT DEIN HERZ ZU BRECHEN, DANN WIRD MEIN RATSCHLAG AN DICH IMMER DIESER SEIN:
SCHICK IHN ZUR HÖLLE, BABY.«

Otis

Für einen Augenblick starre ich auf mein Display. Das ist nicht sein Scheißernst. Sofort rasen zig Möglichkeiten durch meinen Kopf, was ich jetzt tun könnte.

Umdrehen und zu Ella fahren? Ich muss sie sehen. Dringend. Seit sie im Besitz des Notizbuchs ist, habe ich fast durchgehend daran gedacht, zu ihr zu gehen. Aber solange sie sich nicht bei mir meldet, sollte ich die Füße stillhalten.

Endlich zu meinem leiblichen Vater nach Hannover zu fahren, um Linus wiederzusehen, war bis vor zehn Sekunden die perfekte Ablenkung. Doch jetzt …

Zerknirscht wähle ich seine Nummer. Es geht nicht in Ordnung, mir eine Stunde vor unserem abgemachten Treffen seiner Arbeit wegen abzusagen. Es klingelt zweimal, dann werde ich weggedrückt.

Mit Schwung wird im selben Moment die Beifahrertür geöffnet. »Die beschissenen Toiletten sind außer Betrieb. Ist es okay, wenn wir … alles in Ordnung?«, beendet Ria ihren Satz und lässt sich neben mich fallen. Sie hat darauf bestanden, mich nach Hannover zu begleiten. »Was ist los?«

»Er hat mir abgesagt.«

»Dein Vater? So spontan? Warum das denn?«

Wegen seiner Arbeit. Die ist ihm wichtiger, war ihm wahrscheinlich schon immer wichtiger als … ich. »Keine Ahnung. Ich werf dich zu Hause raus und fahr danach auf die Wache.«

»Du hast heute frei.«

Ohne auf Gloria einzugehen, lenke ich den Wagen aus der Parklücke und fahre vom Rasthof zurück auf die Autobahn, wo ich die nächste Ausfahrt nutze, um zu wenden.

»Otis? Hallo?«

»Ich weiß, dass ich freihabe«, murre ich, »aber ich geh trotzdem hin und schreib ein paar Berichte neu, damit Maxim mir die Empfehlung gibt, oder was soll ich deiner Meinung nach sonst tun?«

»Du könntest zum Flughafen fahren.«

Mein Brustkorb zieht sich schmerzhaft zusammen und ich muss aufpassen, dass ich meinem Vordermann nicht auffahre. »Was soll ich denn da?«

»Ella verabschieden.«

»Was?« Gott sei Dank stauen sich die Autos vor uns, weshalb es nicht auffällt, dass ich abrupt abbremse. »W-wohin geht sie?«

Gloria lockert kurz ihren Anschnallgurt und zieht die Beine auf den Sitz. »Nach Kanada, aber …« Sie wirft einen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett. »Ihr Flieger ist mittlerweile ganz bestimmt schon in der Luft.«

»Kanada?« Mein Kopf fährt so ruckartig herum, dass ich mir einen Muskel im Hals zerre. Kanada?! Zu ihrem Vater?

Schnell richte ich den Blick wieder auf die Straße. »Kanada«, wiederhole ich flüsternd.

Meine Schwester ist sonst immer jemand, der viel zu viel redet und jedes Mal nachbohrt, selbst wenn ich nichts von mir aus erzählen will. Doch gerade beißt sie die Zähne zusammen, atmet leise aus und legt den Kopf in den Nacken.

Ich spüre eine Mischung aus Wut und Hilflosigkeit im Magen. Mir kommen Zweifel, ob es so eine gute Idee war, Ella das Notizbuch zu geben. Ist sie überhaupt ein Typ für große Gesten? Ich hätte ihr schreiben sollen, sie viel mehr fragen müssen. Wieso bin ich nicht einfach zu ihr gefahren?

»Ich hoffe, Charlie hat ihr weitergegeben, dass sie mir was von Tim Hortons mitbringen soll«, murmelt Ria mit einem leisen Seufzer. »Laut Google gibt es eine Filiale im Flughafen von Vancouver, aber vermutlich hat Ella in den wenigen Tagen genug mit ihrer Familie zu tun. Sie ist wohl total nervös.«

»Sie kommt wieder zurück?«

Daran, wie Ria schluckt, erkenne ich, dass sie ein Kichern unterdrückt. »Sie bleibt nur eine Woche und wenn du meinen Rat hören willst, dann schreibst du ihr, dass du sie abholen kommst.«

Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll, weshalb Ria leise mit der Zunge schnalzt und sich einen Moment später ihre Handykopfhörer in die Ohren steckt, bevor sie die Augen schließt.

***

Nach drei Stunden im Schreibraum leuchtet mein Handy auf und das Einzige, was ich tun kann, ist, die unbekannte Nummer anzustarren, die mich angerufen hat, als ich kurz draußen war, um mir frischen Kaffee zu holen. Es ist mittlerweile kurz vor sechs Uhr abends. Meine Hand schmerzt vom Schreiben und die Fingerspitzen sind voller blauer Farbe, weil der Kugelschreiber vorhin ausgelaufen ist. Sofort denke ich an Linus. Eben hat mich Maxim im Vorbeilaufen gefragt, ob ich spontan auf der Wache aushelfen könnte, weil Victoria sich krankgemeldet hat und er jetzt schnell Ersatz braucht.

Eigentlich wollte ich ihm deshalb beim Rausgehen gleich zusagen, aber jetzt schaue ich aufs Handydisplay und traue mich nicht, die Nummer zurückzurufen. Es ist mir unangenehm, aber ich gebe zu, dass ich einen kurzen Moment daran gedacht habe, dass Ella doch hiergeblieben sein könnte und nun einen Fremden am Flughafen darum gebeten hat, sein Handy nutzen zu dürfen, um mich damit anzurufen. Doch wieso sollte sie nicht ihr eigenes Smartphone nehmen? Außerdem … kann sie meine Nummer ganz sicher nicht auswendig. Peinlich. In meinem Kopfkino laufen aktuell ein bisschen zu oft kitschige Liebeskomödien.

Wahrscheinlich rede ich mir deshalb plötzlich ein, dass Ella vielleicht gar nicht mehr aus Kanada zurückkommt. Natürlich ist das Quatsch, denn sie wird in ein paar Tagen wieder in Berlin landen. Oder? Irgendwie habe ich bei der Sache ein mulmiges Gefühl. Also hole ich tief Luft und rufe die Nummer zurück.

»Otis … gut, dass du anrufst. Entschuldige, ich habe eine neue Handynummer. Wir wollen dich nicht stören, aber –«

Es raschelt am anderen Ende der Leitung, dann krächzt eine Kinderstimme in den Hörer. »Du hast versprochen, dass du mir heute eine Geschichte vorliest. Wo bist du denn? Dino Rex vermisst dich.«

Ich atme zitternd ein und aus. Dino Rex vermisst dich. Ich habe Linus damals bei ihm zu Hause eine Gutenachtgeschichte versprochen, die ich ihm nie vorgelesen habe. Heute Abend wollte ich genau das nachholen, doch anscheinend habe ich es noch immer nicht kapiert. Sofort zieht sich mein Brustkorb vor Überforderung so hart zusammen, dass ich husten muss. Mir fällt keine Ausrede ein.

Ehrlichkeit. Vielleicht versuche ich es ja mal damit?

»Ich habe Matthias angerufen, weil wir uns Sorgen gemacht haben, dass dir auf dem Weg hierher etwas passiert sein könnte«, erklärt jetzt wieder seine Mutter. »Aber er hat mir gesagt, dass er dir seiner Arbeit wegen für heute absagen musste.«

Am liebsten will ich mir die Ohren zuhalten, um nicht hören zu müssen, was sie mir jetzt gleich vorwirft. Dass mich der Mut verlassen hat und ich feige bin. Dass ich die Absage meines Vaters kurzerhand als Ausrede genommen habe, um Linus nicht in die Augen schauen zu müssen und mich selbst tief in Arbeit zu vergraben. Ich habe solche Angst, dass ich in Linus’ Blick etwas erkenne, das mir beweist, wie viel ich schon zerstört habe. Dass ich nicht mehr sein Held bin, dass er mich längst ersetzt hat. Dass ich ihn verloren habe. Dino Rex vermisst dich.

Das war dumm. Aber zu meiner Verteidigung: Man lernt so etwas nicht von heute auf morgen. Du kriegst keine Lektion erteilt, die dich am nächsten Tag zu einem besseren Menschen macht. Das ist ein langer Weg, den ich gehen will. Ich hoffe, ich darf ihn noch gehen.

Deshalb höre ich jetzt doch hin und bekomme mit, dass Linus in sein Zimmer geschickt wird. Ich erstarre. Er beschwert sich, ziemlich laut und lange, doch dann höre ich ein leises Räuspern.

»Otis, können wir kurz miteinander reden?«

Ich nicke langsam und einen Moment später flüstere ich ein beinahe stilles »Ja«.

»Ich kann nur erahnen, was im Moment in dir vorgeht. Seit wir überstürzt ohne Verabschiedung nach Hannover gezogen sind, meine ich. Deshalb will ich mich erst einmal bei dir entschuldigen«, sagt sie. »Es war ein Fehler, mich wegen der ganzen Sache nicht früher bei dir zu melden.«

Überrascht schlucke ich.

»Wir beide hatten immer guten Kontakt, es wäre das Mindeste gewesen. Die Sache ist nur … für mich war es ganz und gar nicht leicht, so spontan nach Hannover zu ziehen und Linus das alles irgendwie auf die Schnelle zu erklären. Dabei wäre es vermutlich das Beste gewesen, wenn ich mit ihm in Berlin geblieben wäre. Ich dachte, es wäre erst mal vernünftig, entgegen meinem Gefühl, mit Matthias nach Hannover zu gehen, damit Linus bei seinem Vater ist. Aber um ehrlich zu sein …« Ihr Tonfall wird bitter, doch sie schiebt so schnell eine Erklärung nach, dass ich keine Zeit habe, mich deshalb zu wundern. »Ich werde mich von Matthias trennen. Das will ich schon etwas länger. Er hat mir erst vor Kurzem gestanden, dass er neben dir und Linus noch weitere Kinder hat, die er aber alle geflissentlich auf Abstand hält. Auch dich, das fühlt sich zumindest für mich so an, ruft er nur an, wenn ich ihn dazu dränge. Ja, sogar nachdem du das erste Mal vor unserer Tür standest, musste ich ihn stundenlang überzeugen, Kontakt zu dir aufzubauen …«

Sie seufzt. »Ich kann das alles einfach nicht mehr. Anfangs hatte ich Hoffnung, dass der Umzug nach Hannover unsere Situation verbessern würde, aber Matthias war in den vergangenen Wochen kaum eine Nacht zu Hause. Er arbeitet noch mehr als in Berlin. Für Linus wäre es das Beste, wenn wir in der Nähe seiner Großeltern in Berlin leben würden. Ich könnte problemlos zurück in meinen alten Job, vielleicht dürfen wir ja hin und wieder auf deine Unterstützung hoffen und … oje, da ist es irgendwie aus mir herausgebrochen, entschuldige. Ich wollte dich eigentlich wirklich nur fragen, ob du Linus per Skype eine Gutenachtgeschichte vorlesen möchtest. Er vermisst dich so sehr, aber aufdrängen wollen wir uns auch nicht, weil, na ja, du meintest, dass du in nächster Zeit viel Arbeit vor dir hast.

Aber Linus hat sich so auf deinen Besuch gefreut und gestern haben wir den Dino deshalb extra in die Waschmaschine gesteckt. Er wollte es so, frag mich nicht warum. Linus vermisst dich und seine Großeltern sehr, auch deshalb will ich zurück nach Berlin. Er ist mein einziges Kind, ich will nur das Beste für ihn.«

Und das bin unter anderem ich, oder was? Will sie mir das damit sagen?

Ich schlucke zitternd, als ich das Handy ans andere Ohr halte, weil … ich glaube, ich begreife da gerade etwas.

Es ist absurd, die Aufmerksamkeit und Liebe meines leiblichen Vaters erzwingen zu wollen. Wenn ich ihn erst dazu überreden muss, sich mit mir abzugeben, ist es dann überhaupt Liebe? Kann es das jemals sein? Ich verdiene es, mich gut zu fühlen, und wenn ich das nur ohne Matthias tue, dann – ja, dann ist das eben so.

»Entschuldige.« Sie lacht erstickt auf und was sie dann sagt, fühlt sich trotz der Distanz wie eine Umarmung an. »Du bist ein toller Bruder für Linus. Ich mochte dich von Anfang an. Vielleicht will Matthias dich nicht in seinem Leben haben, doch ich will es und Linus ganz bestimmt auch. Wir können über alles noch in Ruhe reden, aber möchtest du ihm denn heute noch etwas vorlesen?«

»Ja!«, sage ich. »Nichts lieber als das.«

Ein paar Minuten später strahlen mich tiefbraune Augen an. Ich wusste nicht, wie sehr ein schlichtes Braun leuchten kann.

»Bist du bereit?«, frage ich ihn, als seine Mutter die Bettdecke bis hoch an sein Kinn gezogen und sich mit dem Tablet an ihr Knie gelehnt neben ihn gesetzt hat. »Für die allerbeste Gutenachtgeschichte der Welt?« Die erste von ganz vielen. Denn ich werde für Linus da sein. Ab heute für immer.

»Ja«, flüstert Linus und hält die winzige Hand vor den Mund, damit ich sein Gähnen nicht erkennen kann. »Leg los.«

Ich muss lächeln. »Es war einmal ein Polizist«, improvisiere ich und schwenke das Handy so, dass er das goldene Wappen auf meiner Brust sieht. »Wann immer der Polizist zur Arbeit ging, war er mutig, tapfer und stark, ein richtiger Superheld eben. Doch sobald er seine Uniform auszog, packte ihn die Angst. Denn ohne Uniform wusste der Polizist ganz und gar nicht, wer er war.« Ich gebe ein leises Brummen von mir und kann nicht verhindern, dass ich dabei die Mundwinkel hochziehe. »Zum Glück gab es da eine Prinzessin, die laute Musik und Matschtage liebte und die ganz schnell verstand, wie traurig der Polizist in Wirklichkeit war …«

Es dauert nicht lange, bis Linus eingeschlafen ist. Sobald seine Mutter mit Matthias gesprochen hat, informiert sie mich und ich werde ihnen beim Umzug nach Berlin helfen. Das Versprechen gebe ich ihr, bevor ich auflege. Diesmal weiß ich, dass ich es auch einhalte.

Ich packe mein Handy weg und hole tief Luft. Die sauber ausgefüllten Berichte schiebe ich auf einen Haufen und lege sie in Maxims Fach, dann suche ich mein Zeug zusammen. Mein Blick verschwimmt, als ich raus in den Flur trete und nach ihm Ausschau halte.

»Heulst du?«, fragt er, kaum dass ich ihn vorne beim Wachleiter gefunden habe.

»Ja«, sage ich und wische die Tränen dabei weg. Sofort habe ich den Drang, eine Erklärung hinterherzuschieben, doch ich belasse es dabei. Mit Maxim werde ich ganz sicher nie über meine Gefühle reden, was okay ist. Aber ich weiß jetzt, bei wem es mir ganz leichtfällt, ich selbst zu sein. Deshalb will ich, dass Ella nach der Landung in Kanada als Erstes eine Nachricht von mir liest, in der genau das steht. Dass ich ihr dankbar dafür bin, dass sie zum genau richtigen Zeitpunkt für mich da war. Dass sie mich so mag, wie ich bin, und mir gleichzeitig die Chance gibt, an ihrer Seite zu wachsen. Selbst in meinem Kopf hört sich das absolut ehrlich an, weshalb ich hoffe, dass Ella es auch zwischen den Zeilen Zigtausend Kilometer von mir entfernt begreift.

»Findest du wen anders, der heute aushilft?«, frage ich Maxim aus diesem Gefühl heraus. »Ich muss …«

Er lacht auf. »Dich an deinen Laptop setzen und versuchen, an Harry-Styles-Tickets zu kommen? Oder heulst du, weil du keine bekommen hast?«

»Genau das. Beides. Nicht zwingend in dieser Reihenfolge.«

Daraufhin greift Maxim ungerührt unter den Anmeldetresen und eine Sekunde später fliegt mir Ellas Jacke entgegen.

»Zieh dir die lieber an, bevor du frierst. Ist Größe M und für Mädchen, sollte also passen.«

Ich zeige ihm den Mittelfinger und verschwinde in Richtung Parkplatz, wo ich mein Auto geparkt habe. Die Uniform behalte ich an, weil ich sie eh dringend waschen muss und Angst habe, dass ich jede Sekunde, die ich noch länger warte, vergesse, was ich Ella schreiben will.

Als ich endlich in meinem Auto sitze, tippen meine Finger wie von selbst los …