Exklusivinterviews

Ich ging an diesem Dienstag zum Union Square und brachte noch mehr von meinen grünen Postkarten mit Klebeband an. Hunderte Menschen reihten sich an den Fotografien, Kerzen, Blumen und Plakaten auf und gaben Selbstgeschriebenes dazu. Ich machte meine Arbeit langsam, manchmal musste ich mit den Tränen kämpfen, wenn ich die Aushänge las, die Menschen hinterlassen hatten.

Vermisst

Polizist der Hafenbehörde

UMOJA »DJANGO« RICHARDS

Dienstmarke #811

Wenn Sie ihn gesehen haben,

kontaktieren Sie bitte seine Frau Gwen

Suche nach meinem besten Freund

ABU HASSAN

eSpeed / Cantor Fitzgerald, 112. Etage

Kann sich bitte irgendjemand, der ihn kennt

oder irgendetwas über ihn weiß,

bei mir über irgendeine dieser Telefonnummern

oder per E-Mail melden

Als ich in N. Y. gelebt habe, ist er

der beste Freund gewesen, den ich jemals hatte,

mit einem Herzen aus Gold

Bitte helft mir, etwas rauszufinden!

Leute baten mich um Karten, um sie Freunden zu geben. Die Reporterin einer japanischen Tageszeitung fragte mich, wie viele Karten ich gemacht hatte. »Vierhundert gestern, achthundert heute.«

»Warum haben Sie sie gemacht?«

»Weil ich glaube, dass wir nur eine sehr kurze Zeitspanne zur Verfügung haben, um uns Gehör zu verschaffen, bevor unser Land damit anfängt, Afghanistan zu bombardieren und Zivilisten zu töten.«

»Wir müssen Bin Laden vor Gericht bringen«, sagte sie zustimmend.

Eine Journalismusstudentin von der New School befragte mich auch zu den Postkarten. »Von welcher Organisation sind Sie?«

»Ich habe das allein gemacht«, sagte ich. »Ich bin Amerikanerin; unter keinen Umständen vertraue ich Organisationen. Ich wollte den Menschen etwas an die Hand geben, was sie machen können, ohne zu einer Gruppe zu gehören.«

»Was glauben Sie, sollte getan werden?«

»Wenn ich die Verantwortung hätte? Ich denke, wir sollten unsere UNO-Beiträge zahlen, Bin Laden und seine wichtigsten Leute in Haft bringen und sie vor den Internationalen Strafgerichtshof stellen. Und ganz persönlich? Ich denke, man müsste sich in seine Terrororganisation einschleusen und jeden da drin mit irgendwelchen Machtbefugnissen ausschalten.«

»Unsere Mafia könnte das vielleicht machen«, sagte sie. »Oder die russische, oder kolumbianische Drogenkartelle.«

»Genau! Es handelt sich nämlich nicht um Krieg, sondern um organisiertes Verbrechen.«

»Klar, denn wenn es ein Krieg wäre, würde sich Bin Laden darüber Gedanken machen, ob unschuldige Menschen umkommen könnten. Aber es gibt durch die Anschläge fünfhundert vermisste Muslime. Er fühlt sich keiner Menschengruppe gegenüber verantwortlich, keinem Land gegenüber, noch nicht mal gegenüber einer Profitquelle. Auch nicht gegenüber seinen Anhängern, die bereit sind zu sterben.«

»Sharon, meine Partnerin, sagt, wir sollten ihn verklagen.«

»Oh, ja, super.«

»Stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn sich alle jagdbereiten Geschädigtenanwälte New Yorks zusammentäten.«

»Das ist genial.«

Während ich den Geruch von brennenden Kerzen und Gebäuden einatmete, klebte ich weiter Karten an und las weiter: Friseure schnitten Haare, um Geld für die Opfer zusammenzubekommen. Comedians luden zu Witzeabenden ein. Wir hatten uns nicht über Nacht in Ärztinnen, Ärzte und Feuerwehrleute verwandelt, so sehr wir es uns vielleicht gewünscht hätten. Wir waren schon wieder nur wir selbst, noch mehr als sonst.

Auf einem Zettel stand:

Es gab acht Millionen Geschichten in

der gnadenlosen Stadt*

Jetzt gibt es nur eine

Ich sah einen CNN-Reporter und gab ihm eine Postkarte. »Danke«, sagte er abwesend. Er redete in die Kamera über Planungen für mögliche US-Luftangriffe und ergänzte, dass es neue Erkenntnisse gäbe, die darauf hindeuteten, dass Terroristen geplant hatten oder immer noch planten, einen weiteren irgendwie gearteten Anschlag am Samstag, den 22. September, zu verüben.

Ich stellte fest, dass die meisten meiner Karten vom Montag verschwunden waren, aber ein paar waren noch da. Jemand hatte sie beschmiert: »Blödmann.« »Unrealistisch.« »Ganz genau. Krieg für den Frieden.« Ich nahm sie entmutigt runter und ersetzte sie durch neue Karten. »Es ist nicht ganz umsonst«, dachte ich, als ich eine Frau anhalten und eine Karte nehmen sah. Dann ging ich nach Hause, an den Gesichtern von Beth, Abu, Django und Raj vorbei. Ich entdeckte eine immer noch in den Zaun geschlungene weiße Seidenkhata. Kurz war ich versucht, sie mitzunehmen, aber ich berührte sie stattdessen nur.

* Zitiert die legendären Schlussworte des New-York-Films Stadt ohne Maske (The Naked City, 1948) und jeder Folge der Fernsehserie Gnadenlose Stadt (Naked City, 1958–1963).