Mein Freund Bremner kam Montagnacht mit dem Flugzeug aus Paris. Er hatte ein Konzert in New York zu geben, und vor allem wollte er die Stadt mit eigenen Augen sehen. Tagelang war mir der Rauch zu dicht gewesen, um näher ranzugehen, aber am Mittwochmorgen war er diese völlig verschwommene Schmiere am südlichen Horizont. Während ich den Rauch erblinzelte, rief Bremner aus seinem Hotel an. »Sie haben mich den ganzen Broadway runtergehen lassen«, sagte er. »Es war furchtbar, aber ich musste es tun.«
Ich nahm die U-Bahn zur Canal Street und ging zu einer Polizeiabsperrung in einer Seitenstraße. Sie fragten mich nach einem Ausweis, und ich zog mich schüchtern zurück. Auf dem Broadway versuchte ich es noch mal. »Warum sind Sie hierhergekommen?«, wurde ich gefragt, als ich meinen Führerschein vorzeigte.
»Weil ich sehen will, was passiert ist. Die Toten ehren.«
Ich war weiß, gut gekleidet, eine Frau. Er sagte: »Wenn irgendwer fragt, sagen Sie, Sie sind zum Einkaufen hier«, und winkte mich durch. Die leeren Straßen waren still – keine Autos, keine Leute –, aber ich konnte weiter entfernt eine Menschengruppe sehen. Ich fragte mich, wo ich behaupten sollte, einkaufen zu wollen, wenn sich jemand danach erkundigen würde. War das Century-21-Kaufhaus nicht weg?
Weil ich mal mit einer Frau zusammen war, die in Jersey City lebte, war ich sehr oft durch die U-Bahn-Station unter dem World Trade Center gekommen. Ich erinnerte mich an ein verblasstes Kachelmosaik aus blauen, grünen und braunen Plättchen. Und ich erinnerte mich an ein Dutzend Rolltreppen in einer Reihe. Ich hatte sie mal in einem ähnlichen Film wie Koyaanisqatsi gesehen: Im Zeitraffer ordnen sich Hunderte Menschen ins Auf und Ab der Rolltreppen ein, gegengeschnitten mit Hunderten Schlachthofhühnern auf Förderbändern im Zeitraffer. Stand das Mosaik unter Millionen Tonnen Geröll immer noch da? Waren auf diesen Rolltreppen Menschen gestorben?
Außer beim Pendeln und außer bei meiner ersten schwindelerregenden Auffahrt vor fünf Jahren war ich nur noch ein einziges anderes Mal zum World Trade Center gekommen: Nämlich um einen BH zu kaufen, der mir passt. Um sechsmal den gleichen BH von Victoria’s Secret zu bekommen, war ich mit der U-Bahn zu neun ihrer Filialen durch ganz Manhattan gefahren. Einer von vielen ergebnislosen Versuchen war ihr Geschäft im Einkaufszentrum unter dem World Trade Center, das, wie ich schmerzlich erfahren musste, noch gar keine Eröffnung gehabt hatte. Ich erinnerte mich daran, wie ich an zugeseiften und überklebten Schaufenstern vorbeigetrottet war und den N/R-Zug nach Hause genommen hatte. Und dieser Laden, genau dieser Laden, hatte, wie ich las, seitdem Eröffnung gehabt und war nun als Hohlraum unter dem Geröll intakt geblieben. Niemand wurde dort gefunden: Die Türme brachen vor der Öffnungszeit zusammen. Weil ich wusste, dass in der Nähe Plünderer den Tourneau-Uhrenladen ausgeräumt hatten, stellte ich mir in meiner Fantasie einen Feuerwehrmann vor, der mit hell leuchtender Stirnlampe hauchzarte Unterhöschen in seinen ascheweißen Überwurf stopft, und musste lachen. Während ich auf dem Broadway weiter Richtung Unglücksort ging, schüttelte ich ungläubig den Kopf: Vielleicht war mein BH irgendwo da unten.
Als ich das World Trade Center noch aus meinem Fenster sehen konnte, hatte ich es für arrogant, hässlich und langweilig gehalten. Gleichzeitig fand ich es aber, obwohl ich lieber jeden Tag die Thaitänzerinnenkrone des Chrysler Building gesehen hätte, heimlich ganz gut, so zuverlässig ein deutlich erkennbares Stück der New Yorker Skyline vor mir zu haben. Wenn ich ans World Trade Center dachte, war es in meinem Kopf verbunden mit der WTO: monolithisch, repressiv, falsch. Es war Teil einer globalen Maschinerie, die dazu konzipiert war, die meisten Leute bitterarm und ein paar Leute unanständig reich zu machen. Es hatte einen Grund, warum ich für sechs BHs mehr ausgab, als die Frau, die sie genäht hatte, wahrscheinlich in einem Jahr verdiente, und das World Trade Center war ein Teil davon.
Da sie jetzt so sichtlich verwundbar gewesen waren, liebte ich die zwei Gebäude. Ich wollte unbedingt das hässliche Mosaik, die entseelenden Rolltreppen und diesen Tempel der verkehrten Entscheidungen, das Einkaufszentrum, besuchen. »Es hat aber einen Grund, warum sie sich diesen Ort ausgesucht haben, warum sie sich auch das Pentagon ausgesucht haben. Verwundbarkeit kann eine Sache liebenswerter machen, aber nicht weniger verdorben«, dachte ich. Und dann lächelten mir die Gesichter der Toten zu – sie waren keine Welteroberungsmaschinen, sie waren Tausende einzigartige und wertvolle Niemande –, und ich konnte nicht weiterdenken.
Ich ging an der City Hall vorbei und sah nach Westen auf das, was übriggeblieben war.