1

Toni hatte sich gestern krankgemeldet, und der Jugo war gar nicht erst aufgetaucht. Mit dem war sowieso nichts anzufangen. Sobald man ihm den Rücken zuwandte, ließ er die Arme hängen und sank in sich zusammen, um mit ein paar linkischen Bewegungen eine seiner krummen, selbst gedrehten Zigaretten zu fabrizieren, die so aussahen, als ob kaum ein Krümel Tabak mit ins Papier eingerollt worden wäre. Da hatte man die Hecke schneller selbst geschnitten, als dass er die Schere wieder in die Höhe nahm. Die meiste Zeit des Tages schleiften sie ihn mit durch. Toni sah das übrigens ganz genauso. Er sagte nur nichts, weil er Angst vor der Sippe des Jugos hatte. Bei denen wusste man nie genau, ob der Cousin einem nicht ein Messer zwischen die Rippen stieß.

Rolf strich sich die verschwitzten langen Haare aus der Stirn. Er hatte es erst letzte Woche Dienstag wieder überprüft. Das machte er immer mal, um zu belegen, dass der Jugo sich nicht einmal bemühte, etwas schneller zu werden. Fein säuberlich notierte er nach der Feierabenddusche bei einem sauer gespritzten Silvaner die Arbeiten des Tages. Dazu zog er drei Spalten mit dem Lineal und versah jede mit einem Namen: Toni, Jugo und Rolf. Sie hatten an diesem Tag die schier endlos erscheinenden Tujahecken um das Kulturzentrum in Form gebracht. Der Zaun um das riesige Gelände war vollständig zugewachsen, und die Hecken mussten zweimal im Jahr getrimmt werden.

Beim Heckenschnitt gab es keine Ausreden. Der Abstand zwischen zwei Zaunpfosten betrug genau fünf Meter. Er musste daher nur jedes Mal, wenn er den Pfosten als Erster erreichte, überprüfen, wie weit die beiden anderen hinter ihm gekommen waren. Dann zeigte er seinen Großmut, indem er ihnen half, damit sie den nächsten Abschnitt wieder zusammen beginnen konnten. Dass er damit nur kontrollieren wollte, was die beiden wirklich zustande brachten, brauchten sie ja nicht zu wissen.

Toni hatte es über den ganzen Tag hinweg durchgängig bis Meter vier geschafft. Er hatte im letzten Winter ja auch seinen Fünfzigsten gefeiert. Für sein Alter war die Leistung also ganz ordentlich. Der Jugo schaffte das nur in der ersten Stunde morgens und noch mal nach der stärkenden Mittagspause bis zur ersten Zigarette. Dazwischen beschnitt er um die drei Meter, um schließlich ab zwei Uhr nachmittags kontinuierlich weiter nachzulassen. Addierte man das alles einmal ganz korrekt, so wie er es von Zeit zu Zeit praktizierte, dann offenbarte sich schnell, was für eine Niete der Typ war. Nicht einmal die Hälfte der Meter von Toni betrug die Summe in seiner Spalte, wenn er darunter am Ende den Strich mit dem Lineal zog. Der alte Mann war also mehr als doppelt so schnell wie der Jugo.

Da er die Zettel mit dem jeweiligen Datum versah, lochte und in einem eigens dafür vorgesehenen Ordner abheftete, konnte er außerdem die langfristige Entwicklung überprüfen und hatte festgestellt, dass sich seine eigene Leistung im Vergleich zum letzten Mal noch einmal gesteigert hatte. Dafür zollte er sich selbst Anerkennung. Die Arbeit mit den Hanteln machte sich bezahlt, nicht nur optisch.

Zur erneuten Bestätigung schob er den kurzen Ärmel seines schwarzen T-Shirts, das über seinem Bizeps spannte, nach oben und ballte die Faust. Der Umfang seiner Oberarme hatte durch die Übungen und die Nahrungsumstellung, die er mit einem nach Stracciatella schmeckenden Proteinpulver zum Muskelaufbau unterstützte, um mehr als drei Zentimeter zugenommen. Und das in nur etwas mehr als zwei Monaten. Er musste der für sie zuständigen Gemeindesekretärin unbedingt Bescheid geben, dass sie bei der nächsten Bestellung der Arbeitsklamotten auf besonders elastisches Material achten sollte. Es sah mies aus, wenn das Bündchen tief ins Fleisch einschnitt. Er konnte ja nicht die ganze Zeit den Muskel angespannt halten.

Auf die Farbe der Klamotten musste er die Sekretärin auch unbedingt ansprechen, damit ihre derzeitige Kluft eine einmalige Verirrung blieb. Früher hatte das doch immer gut geklappt, warum musste sie jetzt plötzlich mit diesen Albernheiten anfangen? Sie kannte ihre Größen und bestellte zweimal im Jahr eine komplette Ausstattung, für ihn in Blau oder Grau, für Toni und den Jugo in Grün. Rot war auch schon mal dabei gewesen. Im Frühjahr hatte sie aber zum ersten Mal für alle die gleiche Farbe geordert, ein grell leuchtendes Kommunalorange. Jetzt sahen sie aus wie die ungleichen Drillinge von der Müllabfuhr. Im Dorf lachten sie darüber. Das konnte sogar ein Blinder sehen.

Rolf hob ein letztes Mal den Arm und rieb sich den salzigen Schweiß aus dem Gesicht. Die Haare klemmte er hinter die Ohren. Ein nicht unbeträchtlicher Teil schimmerte bestimmt wieder silbergrau im Sonnenlicht. Am Wochenende musste er sie unbedingt noch einmal tönen. Warum das so schnell ging bei ihm, hatte ihm bisher niemand sagen können. Keiner seiner Kumpels aus dem Fitnessstudio oder seiner Stammkneipe, wo sie sich zweimal die Woche zum Dartspiel trafen, hatte wie er schon mit Anfang vierzig graue Strähnen gehabt.

Entschlossen langte er nach dem Stemmeisen und wollte beim Anblick der Müllberge, die sich vor ihm auftürmten, am liebsten laut schreien. Wie schafften die Leute es nur, so viel Dreck und Unrat zu fabrizieren? Ganze Wagenladungen mussten die hier reingekarrt haben. Eine schöne Sauerei, die nun natürlich an ihm allein hängen blieb. »Neubaugebiet am Herrgottsacker in Essenheim«. Er musste kurz auflachen. Das farbige Schild mit den spielenden Kindern im Vordergrund, auf dem diese wohlklingende Bezeichnung stand, hatte die Baufirma schon letzte Woche aufstellen lassen. Blicken ließ sich von denen aber noch niemand. Erst musste er ran. Dabei bekam die Gemeinde, wenn endlich auch der letzte Kleingarten geräumt war, für das gesamte Bauland so viel Geld, dass der Chef ruhig einen professionellen Räumtrupp hätte engagieren können. »Was das wieder kostet!« Rolf äffte halblaut die viel zu hohe Stimme des Bürgermeisters nach, dessen Zunge bei jedem Zischlaut sachte an die Schneidezähne stieß. Dann summte er eine Melodie und sang lispelnd vor sich hin: »Wer soll das bezahlen, wer hat das bestellt, wer hat so viel Pinkepinke, wer hat so viel Geld?«

Mit voller Wucht ließ er das Stemmeisen auf die verfaulten Bodenplanken niedersausen. Das morsche, stinkende Holz splitterte. Er zerrte das Werkzeug heraus und setzte zum nächsten Schlag an. Rolf konnte die Spannung in seinen Oberarmen spüren. Noch entschlossener führte er den nächsten Hieb aus.

Wie das abgelaufen war, dazu brauchte man nicht die Schulbank gedrückt oder studiert zu haben. Über Jahre hinweg hatte ihr schlauer Bürgermeister den Alten im Dorf, die hier am Ortsrand die meist verwahrlosten Gärten besaßen, die Grundstücke zu Spottpreisen abgekauft. Mit einem Grüngürtel ums Dorf hatte er geworben. Streuobstwiesen, Spazierwege und ein Bolzplatz für die sonst an der Kirche herumlungernden Jugendlichen. Alles schön gepflegt und für alle im Dorf frei zugänglich. Warme Worte, hochtrabende Pläne, mit denen er jeden einwickelte.

Rolf hatte sich damals gleich hingesetzt und die Stunden addiert, die zur Pflege einer solchen Parkanlage über das Jahr erforderlich waren, um sie halbwegs in Ordnung zu halten. Was dabei rauskam, war unmöglich zu leisten, auch dann nicht, wenn sie den Jugo endlich rausschmissen und jemand Fähigeren dafür einstellten. Von dem Moment an war ihm schon klar gewesen, dass der Chef etwas ganz anderes im Sinn haben musste als die Errichtung einer dörflichen Parkanlage. Und er hatte wieder einmal recht behalten. In der Schule hatte er es zwar auf keinen grünen Zweig gebracht, aber im Leben kannte er sich aus. Er wusste, wie der Hase lief. Die anderen ließen sich alle verarschen. Ihm passierte das längst nicht mehr. Es war wichtig, nicht auf der Seite der Verlierer zu stehen, sondern bei den Gewinnern.

Nachdem der Chef das letzte Grundstück für die Gemeinde erworben hatte, waren kaum zwei Monate verstrichen, bis er stolz den Bauträger präsentierte, der schon bald loslegen sollte, um den für junge Familien dringend benötigten Wohnraum zu schaffen.

Rolf schleuderte die weichen Bretter hinter sich auf den Holzhaufen, der einen intensiven modrigen Geruch verströmte. Gleich daneben wuchs der Berg für all die anderen Materialien in die Höhe, die sie nicht verbrennen konnten. Die Hütte hatte nach dem Tod ihres Besitzers viele Jahre leer gestanden und den Halbstarken im Dorf als verbotener Spielplatz sowie einigen besonders Einfallsreichen als diskreter Müllplatz für all das gedient, was nur illegal oder mit Zusatzkosten zu entsorgen war. Unzählige auslaufende Autobatterien, einen Anhänger voller halb leerer, durchgerosteter Farbkanister und ein in Auflösung begriffenes Konvolut längst verbotener Pflanzenschutzmittel hatte er in den verschiedenen fauligen Anbauten der Hütte bereits zutage gefördert und abtransportiert. Jetzt blieb noch der zeitraubende Kampf mit dem weitgehend ungefährlichen Restinhalt der heruntergekommenen Hütte, der nur noch entfernt einer Möblierung ähnelte. Ließen Toni und der Jugo ihn damit die ganze Woche allein, wäre der vom Chef anberaumte Zeitplan für die restlose Räumung des gesamten Gartenareals nicht mehr als ein frommer Wunsch.

Zielsicher setzte Rolf das flache Ende des Stemmeisens an einer der noch recht stabil anmutenden Platten des Hüttenbodens an. Dabei beobachtete er den an seinem rechten Oberarm in dieser Haltung besonders klar definierten zweiköpfigen Armbeuger-Muskel. Er zeichnete sich so perfekt ab wie in den Hochglanzmagazinen, die sie im Fitnessstudio auslegten, um das Proteinpulver anzupreisen. Er ging leicht in die Knie. Zu gern hätte er jetzt auch freien Blick auf seine prallen Oberschenkel gehabt. Die langen, lächerlich orangen Arbeitshosen verhinderten das. Er hielt die Spannung reglos noch einen gedehnten Moment aufrecht und bewunderte das grandiose Muskelspiel. Gleichzeitig konzentrierte er sich schon auf das, was ihn womöglich gleich erwartete. Als er gestern den hinteren Anbau niedergerungen und dazu den Boden in die Höhe gehebelt hatte, waren darunter ein gutes Dutzend Ratten spitz fiepend in alle Richtungen auseinandergestoben. Die drei, die gemeint hatten, in seine Richtung rennen zu müssen, hatte er mit dem geschwungenen Bogen des Stemmeisens erschlagen. Es würde ihn nicht wundern, wenn sich der Rest der Nagersippe unter diesem letzten intakten Teil der Konstruktion wiedervereint und erneut häuslich eingerichtet hätte. Darauf war er vorbereitet. Er grinste breit.

In einer einzigen harmonischen Bewegung drückte er sich in die Höhe und mobilisierte so ein Maximum an Kraft, das die schwere, mehrschichtige Bodenplatte aus ihrer Verankerung hebelte. Die verfaulte Unterkonstruktion und die rostigen langen Schrauben boten keine Gegenwehr. Schnell drückte er die Platte nach hinten weg, um gleich darauf das Stemmeisen wie einen Baseballschläger zu umfassen. Rolfs Blick hetzte umher. Er war bereit, das Metall auf alles niederzudonnern, was sich in Todesangst davonzumachen versuchte. Ein dumpfer Geruch fand den Weg in seine Nase, noch bevor es seinem Verstand gelang, die Bilder vor seinen Augen zu sortieren.

Ein kahler Schädel, auf dessen rissiger Decke ein paar letzte dichte Büschel schwarzer Haare zu sehen waren, lag direkt vor ihm. Starrte ihn aus zwei leeren Höhlen erschrocken an, obwohl die Augen längst schon fehlten. Und überall war blasser, gelber Sand.