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Ravindra Timotheus Bingenheimer trat kräftig in die Pedale seines Damenrades. Die Kette quietschte. Nach vier verregneten Wochen, die sein Gefährt ungenutzt im nicht überdachten Innenhof des Mehrfamilienhauses in der Mainzer Neustadt hatte ausharren müssen, war das wenig überraschend. Auch in voller Fahrt entlang der Boppstraße konnte Ravi deutlich erkennen, dass eine geschlossene Rostschicht alle wichtigen Bauteile dort unten zwischen seinen Füßen überzog. Das betraf die Kette ebenso wie den Zahnkranz und die Pedale. Die daraus resultierenden Geräusche klangen insgesamt wenig vertrauenswürdig, zumal er sich nicht erinnern konnte, dass das Kugellager schon vor seinem Urlaub an zwei Stellen so beängstigend geknackt hätte. Immerhin hatte er, als er gestern Nacht nach Hause gekommen war, feststellen dürfen, dass sein Fahrrad überhaupt noch da war. Das war in dieser Gegend keine Selbstverständlichkeit.

Ein gleichmäßiger Rhythmus aus schiefen Tönen begleitete seine morgendliche Fahrt. Selbst sein dunkler Rucksack mit dem Karabinerhaken daran klapperte im Drahtkorb hinter ihm. Die Oktobersonne schien und wärmte sogar noch ein wenig. Ravi empfand eine ehrliche Vorfreude auf die Arbeit und die Kollegen, die er so lange nicht gesehen hatte, obwohl er sich im Moment noch sehr fern von alldem fühlte, was ihm eigentlich alltäglich war. Die vergangenen Wochen hatten alles verändert. Ein paar Stunden daheim in seiner Wohnung hatten nicht einmal ansatzweise ausgereicht, um Ordnung in seinem Inneren zu schaffen. In seinem Kopf herrschte das reinste Durcheinander, und er war froh, den Schmerz, der ihn während des langen Flugs umfangen hatte, ab jetzt mit Ablenkung bekämpfen zu können.

Obwohl er sich ziemlich sicher war, dass das kein einfaches Unterfangen darstellte. Die vielen Eindrücke der Reise drängten in jeder freien Minute auf ihn ein und rissen an ihm. Er hatte versucht, Klarheit zu schaffen, und dadurch noch viel mehr neue Fragen aufgeworfen, die ihn ab jetzt begleiteten.

Der Fahrtwind wirbelte seine dichten schwarzen Haare durcheinander. Dass er sie wie jeden Morgen mit ein paar Bürstenstrichen zurückgekämmt hatte, war bereits nach kurzer Zeit kaum mehr zu erahnen. Er hatte seine Haare und seinen Bart während der Reise wachsen lassen. Im Unterschied zu dem, was auf seinem Kopf daraus geworden war, sah das Resultat auf seinen dunklen Wangen und am Kinn eher bedauernswert aus. Er bereute es jetzt schon, dass er die dünnen, in alle Richtungen stehenden Flusen vorhin nicht doch noch schnell wegrasiert hatte. Harro und Tobias würden sich prächtig über ihn amüsieren. Um das zu wissen, bedurfte es wenig seherischer Fähigkeiten.

Er musste grinsen, weil er ihre Stimmen bereits im Ohr hatte. Harros knappe und fast immer treffende Kommentare, in denen er nicht mit Spott geizte. Als Ältester und ihr Chef nahm er sich heraus, alles sagen zu dürfen, was ihm in den Sinn kam. Tobias hingegen würde sich wortreich winden, um sich auf kein wirkliches Urteil festlegen zu müssen, weil das die Harmonie im Raum stören könnte. Am Ende würde Harro das letzte Wort haben und eine kurze Zusammenfassung von Tobias’ langatmigen Ausführungen präsentieren, die haargenau seinen eigenen Standpunkt wiedergab.

Ravi war eigentlich ausreichend früh wach gewesen, um das zu vermeiden, doch statt dem fusseligen Bartansatz ein schnelles Ende zu bereiten, hatte er die Zeit damit verbracht, auf sein Postfach zu starren, das alle möglichen neuen Mails anzeigte, aber nicht die, auf die er seit fast vierzehn Tagen wartete. Die Anspannung krampfte auch jetzt wieder in seiner Magengegend und ließ ihn noch fester in die Pedale treten. Vielleicht war die Nachricht ja mittlerweile angekommen?

Begleitet vom Quietschen und Klappern bog er in die Goethestraße ein. Der Radweg war unter den vielen bunten Blättern kaum noch zu erahnen. Er wich einem auf einen Rollator gestützten alten Mann aus, der ihn entgeistert anstarrte und ihm kaum verständliche Unmutsbekundungen hinterherbrüllte. Was er seiner Frau wohl gleich wutschnaubend erzählen würde? »Einer von diesen Ausländern hat mich beinahe über den Haufen gefahren! Viel hat nicht gefehlt, und das mitten auf dem Gehweg! Die werden immer unverschämter, man kann sich ja nirgendwo mehr sicher fühlen!« Vielleicht hätte er ihm im breitesten Mainzer Dialekt eine Erwiderung zurufen sollen, um die Verwirrung komplett zu machen. »Host du koo Aache im Kopp? Des is der Radweg!« Das war noch immer seine bevorzugte Form der Reaktion.

Den Dialekt hatte er erst spät für sich entdeckt und spielte seither sehr gern damit, um seine Gegenüber zu verwirren, wenn man ihn mal wieder für einen indischen Gaststudenten, nordafrikanischen Flüchtling oder etwas zu dunkel geratenen albanischen Autoknacker hielt. Der erstaunte Blick war garantiert, der kurze Moment des nachdenklichen Innehaltens ebenso und nicht zuletzt die bald darauf nachgeschobene verständnisvolle Frage zur Herkunft. »Wo liegen denn Ihre Wurzeln?«

Je nachdem, in welcher Stimmung er war oder wie sympathisch ihm sein Gesprächspartner erschien, trieb er das Spiel auf die Spitze. In knappen Worten warf er ihnen seine persönlichen Daten vor die Füße: »Geboren im Juni 1988, Mutter Gisela Bingenheimer, geborene Bassermann, Vater Dr. Norbert Bingenheimer, leider verstorben, davor niedergelassener Allgemeinmediziner in Otterbach bei Kaiserslautern. Muttersprache Pfälzisch. Im Rheinhessischen, das hier in Mainz gebabbelt wird, bin ich noch nicht ganz sicher. Aber ich lerne schnell dazu. Und obwohl ich noch immer eine Dauerkarte beim 1. FCK auf dem Betzenberg habe, kann ich von einem Großteil der Mainzer Fassenachtsschlager zumindest die erste Strophe nahezu fehlerfrei mitsingen. Möchten Sie noch mehr wissen?«

Zwei Drittel lachten daraufhin und klopften ihm kumpelhaft auf die Schulter, andere schüttelten den Kopf und zogen kommentarlos ab. Ein paar wenige zischten ihm irgendetwas Bösartiges hinterher: »Du kannst dich anstrengen, wie du willst, aus dir wird doch keiner von uns!« Rein optisch war dem wenig entgegenzusetzen, da er nicht vorhatte, seine Haut bleichen und die tiefschwarzen Haare blondieren zu lassen. Innerlich verhielt es sich manchmal ähnlich.

Der Blick, der ausdrückte, dass er als andersartig wahrgenommen wurde, war seit jeher sein Begleiter. Er spürte ihn nun, da er ihn vier Wochen lang nicht wahrgenommen hatte, umso deutlicher. In der Masse der Menschen, die alle so aussahen wie er selbst, war er untergegangen. Es war eine Wohltat gewesen. Niemand starrte ihn an oder bemühte sich, scheinbar unbewusst an ihm vorbeizuschauen.

Mit rhythmisch knackendem Kugellager erreichte er den Fahrradparkplatz neben dem großen grau-weißen Gebäudekomplex. Er war froh, heil angekommen zu sein. Nur ein guter Kilometer auf dem Rad, aber viel zu viel Zeit für sinnlose Gedankengänge. Ein prüfender Blick auf die Auswahl an abgestellten Drahteseln zeigte, dass es hier sicher genug war, um sogar teures Profimaterial getrost seinem Schicksal zu überlassen, selbst wenn man es nur mit einem billigen Fahrradschloss aus dem Baumarkt festmachte. Ein Großteil der Räder würde in der Neustadt nicht mal in einem abgeschlossenen Innenhof unbeschadet und vollständig den nächsten Morgen erleben. Er musste grinsen und langte nach seinem Rucksack.

Mit ein paar schnellen Schritten war er die wenigen breiten Stufen hinaufgeeilt. Die beiden Kollegen warteten bestimmt schon auf ihn. Harro war immer als Erster da und das Büro im Grunde sein eigentliches Zuhause. Daran, dass Tobias schon mal zu spät gekommen war, konnte Ravi sich nicht erinnern.

Schwungvoll drückte er die Tür auf und bog nach einem kurzen Gruß in Richtung der mit einem kaffeetrinkenden Kollegen besetzten Glaskiste in den langen Flur ab, an dessen Ende das K11 einen Teil seiner Büros hatte. In irgendeiner Reform der Organisationsstruktur vor seiner Zeit war das Kommissariat 11 ins Leben gerufen worden, das im Mainzer Polizeipräsidium für die Tötungsdelikte zuständig war. Sie waren die, die gerufen wurden, wenn sich der Kriminaldauerdienst sicher war, dass es um Mord ging. Harros trockenes Lachen konnte er schon hören. Es schallte den Gang entlang. Wahrscheinlich tauschten er und Tobias gerade ihre Wochenenderlebnisse aus. Tobias berichtete immer ausgiebig von seiner zweijährigen Tochter Lena und deren fünfjährigem Bruder Ben, die in ihrer Entwicklung an jedem Sonntag bahnbrechende Fortschritte machten. Die Euphorie machte den glücklichen Vater weitgehend blind für Harros kleine spöttische Bemerkungen. Dessen Tochter war längst erwachsen und hatte den Kontakt zum Vater auf ein Mindestmaß eingeschränkt. Das war jedenfalls Ravis letzter Wissensstand. Im Unterschied zu Tobias, der sie bis in Details, die sie nicht wissen wollten, am Gedeihen seiner Kinder teilhaben ließ, vermied Harro es, von seiner Ex-Frau und der gemeinsamen Tochter zu berichten.

»Unser Weltreisender! Herzlich willkommen daheim.« Tobias Schmahl sprang auf, als Ravi das Büro betrat, und streckte ihm die warme Hand entgegen. Sein luftiger Mittelscheitel wippte mit jeder Bewegung seines Kopfes. Kurz vor Weihnachten würde er vierzig werden, sah aber immer noch deutlich jünger aus. Er steckte in einem blauen Hemd, über das er einen seiner gefürchteten Pullunder mit weitem V-Ausschnitt gezogen hatte. Bis zur Geburt ihres ersten Kindes hatte seine Frau Sara die wärmende Oberschicht noch selbst gestrickt. Dünne, farbenfrohe Exemplare für den Sommer und dicke, in gedeckten Erdtönen für die kalte Jahreszeit, damit die empfindlichen Nieren auch bei langwierigen Ermittlungen in der freien Natur immer gut geschützt waren.

»Willkommen zurück in der Familie. Wir haben das multikulturelle Aushängeschild unserer Mordkommission sehr vermisst.« Harro Betz legte seine Hand auf Ravis Schulter und blickte ihn aus roten, müden Augen herausfordernd, aber freundlich an. Sein Schädel war frisch geschoren. Unter dem ausgewaschenen schwarzen Poloshirt zeichnete sich deutlich sein Bauch ab. Im Unterschied zu allen anderen sah er nach einem freien Wochenende stets weniger erholt aus als noch am Freitag davor.

Über Harro wusste Ravi wenig, außer dass man ihn auf seine Ex-Frau besser nicht ansprach. Wenn er ihn nicht im letzten Sommer eines frühen Morgens in Gonsenheim hätte abholen müssen, weil Harros Wagen nicht angesprungen war, wüsste er nicht einmal, wo er wohnte. Der stark abfallende Zugang zur Drei-Zimmer-Wohnung des Anfang Fünfzigjährigen im Souterrain eines ansehnlichen Einfamilienhauses aus der Gründerzeit hatte bei ihm den Eindruck erweckt, dass die winzige Tiefgarage für zwei bis drei Pkw nachträglich zu lukrativerem Wohnraum umfunktioniert worden war. »Mehr kann ich mir als Hauptkommissar nicht erlauben, solange meine Tochter mal hier, mal da in den teuersten deutschen Großstädten studiert und trotz ihres Alters keine Anstalten macht, zu einem Ende zu kommen.« Mit diesem Satz hatte er damals Ravis fragenden Blick kommentiert und sich nie wieder abholen lassen.

Harro gab den Weg zu Ravis Schreibtisch frei. Er und Tobias saßen zusammen im Büro, während der Chef ein Zimmer weiter allein sein durfte. Die meiste Zeit verbrachte er dennoch hier bei ihnen. Der Austausch war in laufenden Ermittlungen von entscheidender Bedeutung. Jeder musste möglichst auf dem gleichen Wissensstand sein. Außerdem stand die Kaffeemaschine bei ihnen im Raum. Ein Umstand, den er nicht selten als Ausrede für einen ausgedehnten Besuch nutzte.

»Danke für die Postkarte aus Sri Lanka.« Harro sah ihn herausfordernd an. »Wahrscheinlich ist sie noch auf dem Weg. Das soll ja mitunter Wochen dauern.«

Ravi nickte bedächtig, bevor er antwortete. »Nicht selten geht die Post auch auf dem Weg verloren. Das liegt meistens an der Mehrfachnutzung der Briefmarken. Man soll immer darauf bestehen, dass sie direkt entwertet werden, sonst löst der geschäftstüchtige Postbeamte sie umgehend wieder ab und verkauft sie an den nächsten gutgläubigen Touristen.« Den Rucksack stellte er ab und ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl sinken, der unter seinem Gewicht leicht nachgab.

Ravi konnte an den Blicken seiner Kollegen ablesen, was sie von ihm hören wollten. Die Stille im Raum unterstrich diese Erwartung noch. Er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Die emotionalen Eindrücke der vergangenen vier Wochen in diesem Land, das ihm anfangs so fremd gewesen war, bildeten ein unentwirrbares Durcheinander, das ihm die Kehle zuschnürte.

»Lass dir Zeit mit dem Bericht.« Harro nickte ihm aufmunternd zu. »Das holen wir bei einem Yogi-Tee nach. Hier hast du nicht viel versäumt. Einer in der Wanne, ein ganz Dicker auf dem Klo, für den wir vier Kollegen gebraucht haben, um ihn runterzubekommen. Eine Schießerei mit zwei Verletzten in Worms. Da sind wir noch dran. Der ganz normale Wahnsinn. Tobias klärt dich auf, und dann sehen wir weiter.« Harro hielt kurz inne. »Schön, dass du wieder da bist!«

Dann war er draußen. Tobias zuckte mit den Schultern. Die Tür stand offen. Er flüsterte: »Erstaunlich friedlich zurzeit. Ich weiß auch nicht, was mit ihm los ist.«

»Müssen wir uns Gedanken machen?« Ravi schaltete den Computer an. Er spürte, wie warm ihm war. Seine Hände fühlten sich feucht an.

»Er wird altersmilde.«

»Fertig sieht er aus.« Ravi flüsterte jetzt auch.

»Eigentlich wie immer am Montag. Dir fällt es nach vier Wochen Abwesenheit nur mehr auf.«

»Was macht der übers Wochenende?«

Tobias hob wieder leicht die Schultern und deutete mit der rechten Hand eine Trinkbewegung an.

»Privatparty im Souterrain in Gonsenheim? Kann ich mir nicht vorstellen. Dazu bräuchte er ein Privatleben, mit Freunden und gemeinsamen Restaurantbesuchen, Theater, Kino oder so etwas. Harro ist doch eigentlich immer hier.« Ravi musste bei diesem Gedanken grinsen. Tobias winkte ab.

Ravis Computer brauchte eine gefühlte Ewigkeit, um sich zu sortieren und eine bedingte Einsatzbereitschaft zu signalisieren. Er schien unentwegt Daten zu ordnen und unterstrich das mit monoton summenden Geräuschen, die nach einer großen Endlosschleife klangen. Was würde er tun, wenn die erlösende Mail endlich einging? Sollte er sie sofort lesen, oder wäre es sinnvoller abzuwarten, bis er allein war? Zur Not musste er sich eben bis heute Abend gedulden. Er atmete viel zu laut aus, und Tobias sah ihn fragend an. Er schien zu warten.

»Willst du reden?« Tobias warf einen kurzen Kontrollblick in Richtung Tür. Der Chef war weg, sie konnten jetzt über alles sprechen.

»Noch nicht.« Er drückte den Kloß in seinem Hals nach unten. Im gleichen Moment blitzte mindestens ein halbes Dutzend neuer Mails in seinem privaten Account auf. »Und bei euch daheim, alles okay? Wie geht es den Kindern?«

Ravi war froh, als sich Tobias in seinem Stuhl streckte, um zu einem umfassenden Bericht über Lenas und Bens Entwicklung während der letzten vier Wochen auszuholen.