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Rolf sah die Einsatzwagen, und ihn beschlich sofort das ungute Gefühl, dass es etwas mit den Knochen von vorletzter Woche zu tun haben musste. Die Sirenen hatte er nicht wahrgenommen, weil er den Gehörschutz auf den Ohren trug. Der Laubbläser machte einen solchen Lärm, dass er das Brummen auch noch am Abend und in der Nacht hörte, wenn er längst in völliger Stille auf seinem Sofa lag. Das konnte nicht gesund sein. Der Jugo hatte ihn angestoßen und auf die beiden Streifenwagen gezeigt, die gerade an ihnen vorbeischossen und auf den oberen Ortsausgang zuhielten. Seiner Ansicht nach wohl wieder ein Unfall an der unübersichtlichen Einmündung auf die Landstraße in Richtung Stadecken-Elsheim. Wie oft hatte es da nicht schon Blech- und Personenschaden gegeben. Er ließ den Jugo in dem Glauben. Der hatte wirklich keine Ahnung. Von nichts! Dafür besaß er eine große Klappe und nutzte die Ablenkung, um sich schon wieder eine seiner krummen, dünnen Zigaretten zu drehen. So würden sie nie fertig werden.

Rolf fröstelte beim Gedanken an den Nachmittag in der Hütte. Gleichzeitig rauschte das Blut in seinem Schädel, als die Erinnerungen aufblitzten. Oder kam das Rauschen in seinen Ohren von Tonis Laubbläser? Der Kollege stand weiter oben an der Straße und hatte wegen des Krachs nichts mitbekommen.

Fragend starrte der Jugo ihn an. Sollte er dem Kerl jetzt etwa noch dankbar sein, dass er sich auf den Rechen gestützt die Füße platt stand und den Verkehr beobachtete? Das machte ihn rasend, zumal er nicht die Ruhe fand, das Durcheinander in seinem Kopf zu ordnen. Bestimmt kamen sie gleich zu ihm und verlangten eine Erklärung, weil ihr schlauer Chef behauptet hatte, dass er von nichts wisse und der Abriss der Hütte ganz allein ihre Aufgabe gewesen sei. Genau so würde das laufen, und am Ende war der Chef fein raus, aber ihn hatten sie im Sack. Das galt es zu verhindern, und dazu brauchte er jetzt sofort ein paar Minuten Ruhe, damit er sich einen Plan zurechtlegen konnte.

»Was schaust du so blöde? Hast du nichts zu tun? Zieh die Blätter zusammen und sorge dafür, dass sie verladen werden, bevor der Wind sie wieder dorthin weht, wo sie herkommen!«

»Hoch in den Baum?« Der Jugo grinste ihn herausfordernd an und zog ein Blättchen aus der Pappschachtel im Tabakpäckchen. Den Filter hatte er schon zwischen den Lippen geparkt.

»Werd nicht unverschämt!« Rolf wollte noch etwas ergänzen, da raste der nächste Streifenwagen an ihnen vorbei und riss einen Großteil der Blätter mit sich fort. »So eine Scheiße! Da siehst du, was passiert, wenn man nicht hinterherkommt!«

Schnell setzte er sich den Gehörschutz wieder auf und schaltete den Laubbläser ein, um endlich unbehelligt nachdenken zu können. Die leeren Augenhöhlen starrten ihn an. Der Schädel mit dem Rest Haare, die noch daran hingen. Er hatte gar nicht erkennen können, was sich noch alles unter dem gelben Sand verbarg. Sein Gehirn hatte sich quasi umgehend verabschiedet und wollte auch jetzt keinen klaren Gedanken mehr fassen.

In seiner Not war ihm nichts Besseres eingefallen, als den Chef anzurufen. In dessen Auftrag war er schließlich dort oben mit dem Abriss der verrotteten Behausung beschäftigt gewesen. Aber der Chef hatte ihm gar nicht richtig zugehört. Er hatte ihn am Telefon sofort angebrüllt. »Wegen ein paar alten, vermoderten Knochen rufst du mich an? Sieh lieber zu, dass die Hütte endlich wegkommt. Was macht ihr da draußen eigentlich den lieben langen Tag? Wahrscheinlich muss man sich von früh bis spät neben euch stellen, damit überhaupt irgendetwas gearbeitet wird! Der Friedhof ging früher noch ein gutes Stück weiter. Das werden also nicht die letzten Knochen sein, die wir dort oben finden werden. Nimm den Radlader und kipp den ganzen Kram auf die Halde neben dem Friedhof. Und vergiss nicht, am Ende noch zwei volle Baggerschaufeln saubere Erde drüberzuwerfen, sonst spielen die Kinder dort oben demnächst mit den Gebeinen ihrer Urgroßeltern, und dann kannst du dir einen neuen Job suchen. Oder ich mache den Ivo zum Vorarbeiter, der geht mir wenigstens nicht ständig auf die Nerven!«

So hatte er es dann auch gemacht. Völlig abwegig war ihm das, was der Chef gesagt hatte, in dem Moment nicht vorgekommen. Als Bürgermeister musste er ja schließlich wissen, was in einer solchen Situation zu tun war. Ganz wohl hatte er sich trotzdem nicht gefühlt und zur Sicherheit noch eine dritte Schaufel Erde darüber abgeladen. Es wäre bestimmt nicht so weit gekommen, wenn die beiden Faulenzer hier am Abrisstag nicht gekniffen hätten. Wenigstens mit Toni hätte er sich ja vernünftig beraten können. Jetzt war es zu spät, und er musste allein sehen, wie er seinen Kopf aus der Schlinge zog.

Normalerweise diente die Erde dazu, abgesackte Gräber auszugleichen. Soweit er wusste, sollte der ganze Haufen aber nach der Einebnung des Baugeländes abtransportiert werden, um am äußersten Rand der Gemarkung einen ehemaligen Kalksteinbruch zu verfüllen. Wie er den Chef kannte, wäre das unter normalen Umständen ihre nächste Aufgabe gewesen, sobald die letzten gelben Blätter von den Bäumen und der Straße runter waren. Es hätte also auch alles gut gehen können.