7

Tobias sah auf seine Armbanduhr. Es war schon kurz nach drei, und eigentlich waren sie mit dem meisten fertig. Die Zahl der im Einsatz befindlichen Beamten hatte sich bereits merklich reduziert. Eben gerade waren der Chef und Ravi aufgebrochen, um dem Bürgermeister der Gemeinde einen Besuch abzustatten. Sie hatten sich gewundert, dass der noch nicht von selbst aufgetaucht war, bei dem Betrieb in seinem überschaubaren Reich. So viel Besuch von außerhalb gab es hier wahrscheinlich nicht einmal während der Kirchweih.

Obwohl das Dorf hier noch groß war, gemessen an dem, was vor Tobias’ eigener Haustür lag. Dort, wo er mit seiner kleinen Familie gestrandet war, sah es noch viel trostloser aus. Dreißig Kilometer weiter und nur ein Viertel der Einwohner. So fühlte sich Landidylle wirklich an. Ein Drecksnest hatten sie sich als Lebensmittelpunkt ausgesucht. Er konnte darüber nur den Kopf schütteln.

Ein Kollege, der nicht weit von ihm auf dem Boden kniete und vorsichtig den Abdruck eines Autoreifens säuberte, sah zu ihm herüber. Tobias blickte schnell wieder nach unten auf den Sand, den er systematisch von links nach rechts schaufelte, sonst hätte er den Kollegen gleich neben sich, weil er glaubte, es gelte einen Sensationsfund zu begutachten. Und dann dauerte es noch länger, bis sie hier fertig waren.

Wenn sie Todesfälle untersuchten, bei denen die Opfer Kinder waren, war die Stimmung anders als sonst. Es dauerte viel länger, bis durch die kaum vernehmbare Geschäftigkeit einer solchen Ermittlung mal wieder ein halblautes Lachen drang. Wann immer bei zu untersuchenden Gewalttaten Kinder involviert waren, hing die Arbeit auch ihm noch Tage nach, vor allem seit er selbst Nachwuchs zu Hause hatte. Automatisch projizierte er auch diesmal das Grauen, dem das Opfer vor seinem Tod sicherlich ausgesetzt gewesen war, auf den eigenen Sohn oder die Tochter. Dabei spielte es keine Rolle, dass seine Kinder viel jünger waren. Es wollte ihm nur schwer gelingen, nicht sie im gelben Sand liegen zu sehen.

Er zwang sich, nicht gleich wieder auf die Uhr zu schauen. Seit dem letzten Mal waren höchstens ein paar Minuten vergangen. Die Knochen kamen wahrscheinlich gerade in der Gerichtsmedizin an. Frau Dr. Lieberknecht hatte ihnen einen kurzen Besuch abgestattet und sich den Fundort sowie die Überreste auf der Plane angesehen. Alles Weitere erledigte sie im Institut für Rechtsmedizin. Darüber waren alle froh. Sie verbreitete eine unangenehme Unruhe, wo immer sie auftauchte. Die Lieberknecht rauschte mit Getöse heran, fegte über alles hinweg, und ein Stoßseufzer ging durch die gesamte Mannschaft, wenn sie endlich wieder verschwunden war. Das lag zum einen an ihrer Lautstärke. Sie konnte nicht leise sprechen, geschweige denn flüstern. Ihre recht hohe Stimme war auch über größere Entfernungen auszumachen. Zum anderen hatte sie die wohl zwanghafte Angewohnheit, jedem anwesenden Beamten in der Nähe des Leichenfundortes einmal kurz über die Schulter zu schauen, um eine ihrer üblichen Maßregelungen oder wiederkehrende Verbesserungshinweise loszuwerden. »Ihr rechter Fußüberzieher hängt an der Ferse herab. Unter Umständen hinterlassen Sie so Abdrücke, die Ihr Kollege später in Gips gießt.«

Er stieß einen missbilligenden Laut aus und setzte die monotone Arbeit im Sand fort. Wenn er mit der vier Quadratmeter großen Grube fertig war, auf die er Ravi unwissentlich gestoßen hatte, stand einem geregelten Feierabend eigentlich nichts mehr im Wege. Ein Mordfall erforderte normalerweise Tag-und-Nacht-Einsatz. Die ersten vierundzwanzig Stunden waren oft entscheidend. Ließ sich in diesem knappen Zeitraum kein roter Faden finden, lavierte man in den meisten Fällen wochenlang herum, um am Ende mit leeren Händen dazustehen. Das kam hier bei ihnen allerdings selten vor, weil die Stadt Mainz und vor allem das sie umgebende rheinhessische Hügelland mit seinen Weinbergen keinen Kriminalitätsschwerpunkt markierte. Mord und Totschlag stellten in ihrem Berufsalltag Ausnahmesituationen dar. Hier starb man zwar manchmal sehr plötzlich und in mitunter befremdlich anmutenden Positionen, so wie überall, aber nur äußerst selten gab es dafür keine natürliche Erklärung.

Hätten sie die Leiche des Kindes heute Morgen noch fast warm vorgefunden, wäre das eine ganz andere Situation. Überstunden wären vorprogrammiert. Zur Not würden sie die Nacht durchmachen, um gegen Morgen für einen kurzen Schlaf und zum Frischmachen nach Hause zu fahren. Aber das hier – Tobias drehte sich kurz zum Erdhaufen am Friedhofszaun um –, das war alles, nur keine drängende Ermittlung, bei der es auf jede Minute ankam.

Zwar hatten sie im Laufe eines Tages schon einiges an Erkenntnissen gewinnen können. Die Tatsache etwa, dass sie in der Erde unter den letzten Knochen herbstlich gefärbte Blätter der umstehenden Walnussbäume und eines Ahorns entdeckt hatten, sprach eindeutig dafür, dass die sterblichen Überreste des Kindes nur etwa zwei bis drei Wochen dort gelegen hatten. Und aus der kleinen Sandgrube, die sie nach Ravis Entdeckung vollständig freigelegt hatten, stammte der gelbe Sand, den sie im Erdreich sowie an den Knochen und den Resten der Kleidung gefunden hatten. Ganz sicher war es noch nicht, aber vieles deutete darauf hin.

Wahrscheinlich würden sie trotzdem erst weiterkommen, wenn die Untersuchungsergebnisse von Frau Dr. Lieberknecht bezüglich Alter und Todeszeitpunkt des Kindes vorlagen, und damit war frühestens im Laufe des morgigen Vormittags zu rechnen. Bis dahin war es, solange sie alles gesichert und vollständig dokumentiert hatten, sinnlos, sich weiter hier oder im Büro herumzudrücken.

Dass Harro auch heute wieder kein Ende finden würde, war sonnenklar. Auf den wartete daheim in seinem Kellerverlies außer dem Kühlschrank niemand. Und in Ravi hatte der Chef nun wieder einen Gleichgesinnten an seiner Seite. Den beiden war es egal, wann sie Feierabend machen konnten. Er selbst aber hatte eine Familie, die ihn brauchte, und noch eine knappe Stunde Fahrt im Berufsverkehr vor sich. Als winziger Bestandteil eines fast endlos erscheinenden Pendlerkorsos, der sich mit Tempo fünfzig über gewundene Landstraßen schlängelte. Selbst wenn er jetzt schon aufbräche, würde es an den einspurigen Baustellenabschnitten, vor deren Ampeln sich lange Rückstaus bildeten, extrem gut laufen müssen, damit er Ben noch rechtzeitig aus der Betreuung abholen und beim Fußball abgeben könnte. Sein Sohn freute sich die ganze Woche auf das Training mit seiner Mannschaft im Nachbardorf. So wie Sara am Morgen drauf gewesen war, bekam sie das aber wieder nicht geregelt, und der Kleine würde heute Abend am Esstisch mit Tränen in den Augen fragen, wann denn das Training endlich anfinge.

Tobias spürte den Druck auf seiner Brust, der sich immer bei diesen Gedanken einstellte. Er rieb sich über das Gesicht und versuchte, dennoch ein Mindestmaß an Konzentration aufzubringen, um in dem gelben Sand nichts zu übersehen. Schaufel für Schaufel nahm er auf und ließ sie neben sich auf einen kleinen Haufen rieseln. Einen Knopf hatte er vorhin schon gefunden und in ein kleines Tütchen gepackt.

Der gelbe Sand, der an den Spielsand erinnerte, den man im Baumarkt als Sackware kaufen konnte, lag hier zwanzig Zentimeter tief. Proben davon waren schon unterwegs, um in der Rechtsmedizin und dem Labor im LKA untersucht zu werden. Außer dem einen Knopf war im Sand bis jetzt aber nichts weiter zu finden gewesen. Tobias glaubte nicht, dass der Leichnam ursprünglich hier gelegen hatte. Die tieferen Schichten, in denen er inzwischen suchte, wirkten komplett unberührt. Behutsam arbeitete er sich trotzdem weiter vor.

Es war ein Fehler gewesen, mit den beiden kleinen Kindern so weit raus aufs Land zu ziehen. Saras Krankheit war zu diesem Zeitpunkt schon offensichtlich gewesen, aber sie hatten beide gehofft, dass es nicht mehr als eine hormonelle Störung nach der Geburt ihrer Tochter sein und der Ortswechsel ihnen guttun würde. Lena und Ben sollten besser und gesünder aufwachsen, als es in der hektischen und dreckigen Stadt möglich war. Im eigenen Garten, der zusätzlich noch selbst gezogenes Obst und Gemüse bereitstellte, konnten sie spielen und die Natur kennenlernen. Heute schüttelte er den Kopf über so viel Naivität und wurde jedes Mal rasend vor Angst, wenn er Sara bei einem seiner mehrmals täglichen Kontrollanrufe nicht sofort an das Handy bekam. Nicht selten hatte er seine Frau in den letzten Wochen, nachdem er die Kinder auf dem Heimweg von der Arbeit eingesammelt hatte, im dunklen Wohnzimmer in einem halbwachen Dämmerzustand angetroffen. Das Frühstücksgeschirr stand stets noch auf dem kleinen Tisch in der Küche, und sie steckte in Nachthemd und Bademantel. »Die Kraft fehlt mir für mehr. Ich habe es einfach nicht geschafft aufzustehen. Ist es schon so spät?«

Wie sollte das erst im Winter werden, wenn die Dunkelheit noch früher kam und sie ganz gefangen nahm? Es war für ihn schwer vorstellbar, dass die Globuli ihrer Heilpraktikerin dann noch ausreichten. Seiner Ansicht nach zeigten sie ohnehin keine Wirkung. Er schluckte und versuchte, sich aus diesen Gedanken herauszuwinden. Es wollte ihm aber nicht gelingen. Wieder ergriff ihn Zorn, weil sie deswegen schon so oft gestritten hatten. Sara weigerte sich weiterhin standhaft, eine richtige Behandlung zu beginnen. »Madelaine hilft mir. Es wird schon besser. Sie hat Erfahrung damit und versprochen, dass alles wieder gut wird, wenn wir weiter mit vereinten Kräften daran arbeiten.«

Gereizt schleuderte er eine Schaufel Sand auf den Haufen neben sich und blickte sich erschrocken um, ob ihn jemand dabei beobachtet hatte. Die wenigen verbliebenen Kollegen waren zum Glück alle mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Sicher planten sie auch schon den Feierabend. Er glaubte allerdings nicht, dass die sich ähnliche Sorgen machen mussten wie er. Der Beruf, der die Tage oft genug fast ganz verschlang, und die Verantwortung für seine kleine Familie, die mehr und mehr allein auf seinen Schultern lastete, drückten ihn in manchen Momenten regelrecht nieder. Er wurde rasend bei dem Gedanken, dass er schlicht nicht wusste, wo er ansetzen sollte, um ein wenig Abhilfe zu schaffen und wieder Licht am Ende des Tunnels sehen zu können. In ihrem Garten stand das dürre Unkraut in diesem Sommer so hoch, dass die Kinder darin bequem Verstecken spielen konnten. Er konnte das nicht auch noch machen. Und um die Hypothek bis zur Rente getilgt zu haben, war Saras halbe Stelle in der Apotheke ab Januar fest eingeplant. »Ohne mich wäre alles viel einfacher für dich. Du musst eigentlich drei Kleinkinder versorgen, ganz allein. Ich bin eine Last für euch.«

Ihre von Tränen fast erstickten Worte klangen Tobias jetzt wieder in den Ohren. Das Gefühl, das sie bei ihm verursachten, nahm ihm fast die Luft. Sara brauchte dringend richtige Hilfe, auch wenn sie sich weiter weigerte, einen Arzt aufzusuchen. Zur Not musste er sie eben zwingen und sich in der kommenden Woche für einen oder zwei Tage krankmelden, um sie zu dem Fachmann zu begleiten, den er schon vor längerer Zeit ausgesucht hatte.