Mit ein paar schnellen Schritten war Ravi um die erste Hausecke herum. Das Gartentürchen stand offen, und auf dem Pritschenwagen davor lag bereits ein kleiner Haufen Grünschnitt von den Hecken des Bürgermeisters. Aus dem Garten, den er jetzt erreichte, waren laute Stimmen zu hören. Die Männer brüllten sich an, um den Lärm des Arbeitsgerätes zu übertönen.
»Schlaf nicht ein! Nach so vielen Tagen daheim auf der Couch müsstest du eigentlich ausgeruht sein. Du liegst dich noch wund, wenn du so weitermachst!«
Das schallende Gelächter, das auf diese Worte folgte, wurde etwas dünner, als der Mann mit der Heckenschere ihn erblickte. Der zweite, kleinere, der mit dem Rücken zu Ravi stand, hatte ihn noch nicht gesehen. Er kicherte weiter.
»Ivo, Verwandtschaft!« Der mit der Heckenschere wies auf Ravi, grinste vergnügt und wartete auf die Reaktion seines Kollegen, der sich jetzt umdrehte und genervt mit den Augen rollte.
»Toni, ich bin Serbe, kein Jugo und auch kein Inder! Das wirst du nie verstehen.« Mit einer abwehrenden Handbewegung trat er auf Ravi zu. »Wir kaufen nichts, da musst du oben am Hauseingang klingeln! Aber der hat einen Igel in der Tasche.«
Beide Männer lachten spöttisch. Ravi, der sich nicht von der Stelle rührte, kostete die Situation einen Moment lang schweigend aus, weil er jetzt schon wusste, wie dämlich die beiden gleich dreinschauen würden. Der groß gewachsene Mann namens Toni, der plump und ein wenig unbeholfen wirkte, ließ den Motor der Heckenschere aufheulen und starrte ihn herausfordernd an. Ivo wirkte klein und erweckte nicht den Eindruck, als ob er sein ganzes Leben mit körperlicher Arbeit verbracht hatte. Ravi schätzte Toni auf knapp über fünfzig, Ivo sah gut zehn Jahre jünger aus.
»Bingenheimer, Kriminalpolizei. Ich habe ein paar Fragen an Sie beide.« Er lächelte freundlich und hätte gern den Kopf wippend dazu hin und her bewegt, um dem Stereotyp des Inders zu entsprechen. Da er nicht glaubte, dass sie diese Form der Ironie verstehen würden, unterließ er es.
Toni blickte jetzt tatsächlich ziemlich dümmlich drein. Sein Mund stand offen, und es fehlte nicht viel, dann wäre auch noch seine Zunge herausgefallen. Ivo hingegen schien die Situation zu amüsieren. Er schmunzelte.
»Sie werden wahrscheinlich ahnen, warum ich hier bin?«
Beide standen sie wie angewurzelt da und starrten ihn an, als würden sie noch grübeln, welcher Galaxie er entsprungen war. Die einzelnen Bauteile, aus denen sich ihr Gegenüber zusammensetzte, schienen sie zu verwirren: akzentfreie deutsche Sprache mit leichter regionaler Färbung, südasiatisches Aussehen, deutscher Name, Kripo. Was konnte da nicht stimmen? Toni warf einen schnellen Blick in Richtung der Terrassenfront seines Chefs. Die Hoffnung schien ihn zu leiten, dass von dort die Auflösung dieses verworrenen Rätsels kommen würde. Als dem nicht so war, schüttelte er vorsichtshalber den Kopf. Ivo fand als Erster die Sprache wieder.
»Keine Ahnung, aber wir haben heute Morgen die vielen Polizeiwagen gesehen, die in Richtung Ortsausgang unterwegs waren.« Er kramte in seiner Hosentasche und holte ein abgegriffenes Tabakpäckchen hervor.
»Können Sie den Motor ausmachen, damit wir uns nicht anbrüllen müssen?« Ravi deutete auf die Heckenschere in Tonis Händen, die noch immer munter vor sich hin knatterte.
Das Geräusch erstarb. Kurz war es still, so als würde alles um sie herum verharren, dann setzte leises Vogelgezwitscher ein.
Ravi trat näher. »Am Rand des geplanten Neubaugebietes haben wir die sterblichen Überreste eines jungen Menschen gefunden. Die Person ist schon länger tot, wie lange genau, wissen wir noch nicht, aber an dieser Stelle lag sie erst seit ein paar Tagen oder maximal zwei bis drei Wochen.« Er ließ seine Worte wirken und beobachtete die beiden. Ihre Gesichter verrieten wenig.
»Da waren wir schon länger nicht mehr.« Toni sah zu Ivo, der bestätigend nickte.
»Es ist dort aber doch alles von Ihnen geräumt worden? Die Gärten und die Aufbauten?« Ravi blickte andeutungsweise in Richtung der gläsernen Terrassenfront, hinter der Harro mit Medinger sprach.
»Ja, ja.« Ivo hatte die dünne und leicht gekrümmte selbst gedrehte Zigarette schon im Mund. Sie war noch nicht angezündet. »Bucklig und krumm durften wir uns arbeiten, nur um alles rechtzeitig fertig zu haben. Und am Ende sollten wir auch noch die Gefahrgutentsorgung übernehmen. Der Schuppen auf dem letzten Grundstück war voll mit gefährlichem Zeug. Aber das hat sich unser lieber Bürgermeister so vorgestellt. Wir sind nicht sein Abrisskommando und auch nicht die Spezialeinheit für alle Arten von Sondermüll.« Er zog verächtlich die Mundwinkel nach unten und verstaute den Tabak mit einer umständlichen Bewegung wieder in der Hosentasche. »Säckeweise Batterien, Farbeimer, Gift und Asbest. Und wir sollten alles rausschaffen und abtransportieren. Ohne Schutzkleidung und am besten noch im Laufschritt, weil ja die Baufirma jeden Moment hätte kommen können.« Er richtete sich auf und hielt die Hand schützend vor das Feuerzeug und die Zigarettenspitze. Das Knistern der Flamme, die das dünne Papier entzündete, war in der Stille des Moments deutlich zu hören. Dann sog er tief den Rauch ein.
Toni stand schweigend daneben. Das Mitteilungsbedürfnis schien bei diesem Duo sehr ungleich verteilt zu sein. Aber vielleicht war dem Mann mit der Heckenschere ja doch noch der eine oder andere Satz zu entlocken. Ravi sah ihn prüfend an. Manch einen schüchterte das ein und machte ihn vollends sprachlos. Hin und wieder bedurfte es aber auch genau dieses Anstoßes, um den Stein ins Rollen zu bringen. Wobei er von Toni alles, nur keine wortgewaltigen Erzählungen erwartete. Daher wunderte es ihn auch nicht, dass Ivo das Schweigen beendete.
»Toni hat sich krankgemeldet. So richtig mit Arzt und Schein. Du hast Husten gehabt.« Toni nickte schnell. Dankbarkeit sprach aus seinem Blick, dass Ivo alles so treffend auszudrücken vermochte. Jetzt wollte er Ivos Aussage aber auch bestätigen.
»Mein Vater ist an Lungenkrebs gestorben. Der war Dachdecker. Ich muss husten, wenn ich Asbestplatten nur sehe. Die fasse ich nicht an. Nie im Leben, auch nicht für viel Geld.« Toni hatte eine dunkle Stimme.
»Und ich bin einfach nicht mehr gekommen. Ich lass mich nicht ausbeuten, und allein mit Rolf kann ich nicht arbeiten. Der ist schlimmer als ein Kameltreiber.« Ivo sah Ravi abwägend an. Er schien sich nicht sicher zu sein, ob er dem eindeutig fremdländisch aussehenden Polizisten gegenüber von Kameltreibern hätte sprechen sollen.
»Ohne Krankmeldung?«
Er winkte ab. »Die bringe ich noch.«
»Und wer hat nun die riesige Fläche dort oben freigeräumt?« Ravi sah die beiden fragend an. »Eine Person allein? Dieser Rolf? Ist der so etwas wie der Hulk von euch drei Avengers?«
Ivo blies schnaufend weißen Rauch aus und lachte. Auch Toni musste grinsen. Beide schienen ihn jetzt für leicht begriffsstutzig zu halten. Das war nach Ravis Erfahrung mitunter eine gute Basis, auf deren Grundlage gern und freigiebig erklärt und berichtet wurde. Und ein wenig dieser Freigiebigkeit benötigte er, um endlich die Abläufe hinsichtlich der Rodung des Gebietes und des Abtransports all dessen, was wann, wo und von wem gefunden worden war, zu überblicken.
»Also«, Ivo sprach langsam und betont weiter, »den größten Teil haben wir schon im Sommer gemacht. Es war nur noch der eine Garten übrig. Der schlimmste von allen. Da durften wir aber noch nicht ran. Es gab Probleme. Weil keine Erben da waren oder so ähnlich. Erst als das geklärt war, konnte es losgehen. Aber ohne uns.«
»Also hat Ihr Kollege alles ausgeräumt und diese letzte Hütte allein abgerissen?«
Beide nickten. Sie schienen nicht ganz unglücklich darüber zu sein, dass sich ihr Gegenüber jetzt für ihren Kollegen interessierte.
Ravi blickte sich demonstrativ suchend um. »Und dieser Rolf, der ist jetzt wo?«
Nach einem verstohlenen Kontrollblick in Richtung der Terrassenfront schnipste Ivo den noch glimmenden Zigarettenstummel in die Hecke. »Der hat sich vorhin krankgemeldet. Ganz plötzlich war ihm schlecht.« Zufrieden steckte er die Hände in die Hosentaschen und wippte auf den Zehenspitzen auf und ab.
Ravi hörte Schritte und drehte sich um. Harro hatte das Gartentürchen erreicht und schaute ihn fragend an. Bist du so weit? Ich hab, was ich wollte, sagte dieser Blick.
»Rolf?«
Sein Kollege nickte.