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Harro blieb noch für einen Moment hinter dem Dom stehen und kramte in seiner Brusttasche. Die Currywurst mit der schärfsten aller verfügbaren Soßenvarianten, die er eben hastig in sich hineingeschlungen hatte, wärmte wohlig seinen Magen. Er liebte Chilis, die ihm anscheinend nichts anzuhaben vermochten. Den lodernden Brand in seinem Rachen und der Speiseröhre genoss er. In dieser Hinsicht hielt er sogar deutlich mehr aus als Ravi, der mit scharfem Essen aufgrund seiner Wurzeln eigentlich gut zurechtkommen sollte. Er musste schmunzeln, weil der junge Kollege, den er gern mochte, mit Pfälzer Saumagen und Riesling groß geworden war. Und bis heute zog Ravi die deftige Hausmannskost kulinarischen Experimenten vor – zumindest dann, wenn sie zusammen unterwegs waren.

Die Dunkelheit hatte die Mainzer Altstadt eingehüllt. Langsam leerten sich die Gassen. Ein dunstiger Nebel, der vom Rhein herangekrochen kam, ließ alles um ihn herum noch verlassener aussehen. Jetzt begann seine liebste Zeit des Tages. Seine Fingerspitzen ertasteten den mehrfach gefalteten Zettel. Er zog ihn aus der Innentasche und lief weiter über das feucht glänzende Kopfsteinpflaster. Hier überkam ihn die Ruhe, die er in seiner Wohnung nicht finden konnte. Er hatte es längst aufgegeben. Daheim auf dem Sofa brauchte er die volle Dröhnung, um in einen Zustand hinabzugleiten, den er doch nur als nervöse Gelöstheit empfand. Kurze Phasen der Entkrampfung, die er meist erfolglos durch Hochprozentiges zu verlängern versuchte.

Seit er sich zurückerinnern konnte, kam er mit nur wenigen Stunden Schlaf aus. Das Problem war es über die Jahre gewesen, dies anzuerkennen und den Rest der verbleibenden Nachtstunden so zu füllen, dass sie nicht zur Qual wurden. Zu Hause wollte ihm das selten und nur unter Hinzuziehung von bedenklich hohen Mengen an Tresterbrand gelingen. Sein Körper litt dann am Morgen unter den Folgen. Das konnte auf Dauer nicht gut für seinen Geist und seine Auffassungsgabe als Kriminalpolizist sein. Daher zog er die halbe Nacht durch die Stadt und folgte ihr in den sie langsam ergreifenden Dämmerzustand, der auch für ihn ein paar Stunden Ruhe bereithielt.

Bis es so weit war, brauchte er aber noch ein wenig Beschäftigung. Im Laufen faltete er den Zettel auseinander und warf einen Blick auf die darauf notierte Hausnummer. Danach knüllte er ihn zusammen und ließ ihn durch die Ritzen eines Gullydeckels fallen, aus dem sich dürre Grashalme in die Höhe reckten. Mit einer knappen Bewegung kontrollierte er zum wiederholten Male den Inhalt seiner Hosentasche. Das dünne Bündel war noch da. Wo sollte es auch hin sein? Er schüttelte den Kopf. Ein hastig vorbeieilender Passant starrte ihn an. Es waren die letzten Scheine, die er sich schon heute Morgen eingesteckt hatte. Er verdrängte den aufkeimenden Gedanken daran, wie es danach weitergehen sollte. Die Laune würde er sich nicht verderben lassen. Nicht jetzt!

Obwohl er sich dagegen sträubte, hallten die Ermahnungen in seinen Ohren wider. Unzählige Male hatte er sie selbst formuliert, trotzdem ertönten sie in solchen Momenten stets in der Stimme seiner Ex-Frau. Carmen und er waren schon seit mehr als zwanzig Jahren geschieden. Sie war eine Fassenachts-Liaison gewesen, die nicht länger als bis zum Aschermittwoch gehalten hatte. So beschrieb er es gern, auch wenn es die zeitliche Dimension nicht ganz korrekt wiedergab. Sie hatten kurz vor der Geburt ihrer Tochter überstürzt geheiratet und bald erkannt, dass das die falsche Entscheidung gewesen war. Carmen war ausgezogen und lebte seither in einem Nest im Westerwald mit ihrer alten Liebe aus der Grundschule zusammen, mit dem sie im Garten seiner Eltern ein Häuschen gebaut hatte. Sie versuchten beide, ihren Kontakt auf das Allernötigste zu begrenzen. Meistens ging es dabei um ihre gemeinsame Tochter Heike und deren bei der Mutter vorgetragene Wünsche, die einer gemeinsamen finanziellen Unterstützung bedurften, oder um seine Mithilfe beim Umzug seiner Tochter von einer pulsierenden Großstadt in die nächste, dorthin, wo sie ganz sicher den nötigen Enthusiasmus entwickeln würde, um das Studium wieder aufzunehmen und zu einem Ende zu bringen. Mit Ethnologie hatte sie einmal angefangen und ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass weitere Nachfragen in Zukunft nicht unbedingt erwünscht waren, zumindest so lange nicht, wie seine Neugierde die Sinnfrage nur spärlich kaschierte.

Carmen krächzte weiter in seinem Kopf, während er sich hastig umsah und dann in den dunklen Hinterhof abbog. Seine Schritte setzte er mit Bedacht, aus Angst, über irgendetwas zu stürzen, das hier quer lag. In der Ferne war das metallische Kreischen eines Zuges zu hören, der sich durch die lang gezogene Kurve hinter dem Südbahnhof quälte.

Seine Augen gewöhnten sich zügig an die Dunkelheit. Er konnte jetzt den schwachen Lichtschimmer erkennen, der durch das gebrochene Glas der Kellertür drang. Das diffuse Licht erhellte die Betonstufen zumindest so weit, dass Harro den Weg hinab fand. Das rostige Geländer leitete ihn wippend in die Tiefe. Vor der Tür blieb er stehen. Sein Atem zitterte. Er genoss die Anspannung und verharrte daher noch einen Moment wie gebannt vor dem Eingang. Die Stimme in seinem Kopf verstummte, weil sie wusste, dass sie auch diesmal wieder verloren hatte. Dann klopfte er wie vereinbart gegen das Holz des massiven Türblatts. Drei kurze Doppelschläge, die in der Stille und der Dunkelheit der Nacht fast ungehört verhallten.