Der Juckreiz an der wulstigen Narbe auf dem Hinterkopf hatte nachgelassen. Eigentlich würde er sie gar nicht mehr spüren, wenn er nicht immer wieder an sie denken müsste. Er tastete jetzt nur nach der Stelle, weil es zur Gewohnheit geworden war. Vielleicht wollte er sich damit vergegenwärtigen, dass alles noch da war: die stetig wachsende Kugel in seinem Kopf und die Ungewissheit, wie lange es noch so weiterging. Er hatte sich bisher dagegen gewehrt, seine Gedanken an den Moment zu verschwenden, ab dem andere für ihn entschieden, weil er dazu nicht mehr in der Lage war. Durfte er es so weit kommen lassen?
Er fuhr mit der Hand über die von der Arbeit vieler Jahre gezeichnete Oberfläche seiner Werkbank. Durch die Arbeitshandschuhe hindurch konnte er von der Struktur kaum etwas fühlen. Die scharfen Metallsplitter und gedrehten Spiralen schob er behutsam an den Rand, bis sie über die Kante in die Tiefe fielen und in seiner anderen Hand landeten. Er wiederholte das, bis alle den Weg dorthin gefunden hatten. Dann ließ er sie in den kleinen schwarzen Beutel rieseln, der auch schon die anderen aufgenommen hatte. Wahrscheinlich war er jetzt zu voll. Das Gewicht würde das dünne Material reißen lassen, wenn er ihn gleich anhob und sich die Spitzen und scharfen Kanten in den Kunststoff bohrten. Das musste er vermeiden, weil er ansonsten den Boden auch noch fegen durfte.
Den Besen hatte er vorhin schon gesucht und befürchtete, dass er ihn auch bei einem zweiten Versuch nicht würde finden können. Dinge verschwanden. Immer mehr Gegenstände lösten sich von ihm und suchten das Weite. Dort, wo sie über Jahre ihre Heimat und einen festen Platz gehabt hatten, waren sie nun nicht mehr anzutreffen. Auf diese Weise wurde seine unmittelbare Umgebung immer übersichtlicher. Sie leerte sich ganz von allein, ohne dass ihm das größere Sorge bereitete. Es zeigte sich dann, dass er auf viele Gegenstände, wenn sie nicht mehr aufzufinden waren, problemlos verzichten konnte. Meistens gab es andere Dinge, die sich für sein Vorhaben ebenso eigneten wie das, was ihn verlassen hatte.
Vielleicht war das der Moment, in dem er gehen konnte? Wenn alles restlos geräumt war. Wenn ihn eine große, wohltuende Leere umgab, in der nur noch er allein existierte. Eine Leere, die ihm signalisierte, dass seine Zeit gekommen war und er getrost alles hinter sich lassen konnte.
Diese Vorstellung bereitete ihm keine Angst. Sie hatte sogar einen gewissen Charme, weil weder Schmerz noch Hoffnungslosigkeit einen Platz in ihr einnahmen. Sie gab lediglich das Zeichen zum Aufbruch, und es wäre an ihm, den ersten Schritt zu setzen, der ihn von hier wegbrachte.
Der Beutel riss schon nach wenigen Sekunden. Zu viel schwerer Abfall, den die dünne Folie schlicht nicht zu halten vermochte. Klappernd fiel alles in die ausgeblichene Erdnussdose, über die er ihn gehalten hatte. Wenn der Besen weg war, musste man Vorkehrungen treffen, die ihn überflüssig machten. Er bewegte die Dose so geschickt unter dem Riss hin und her, dass auch wirklich kein einziger kleiner Splitter danebenfiel.
Er lächelte zufrieden, denn er wusste jetzt, dass ein dünner schwarzer Beutel zu wenig war, um den gesammelten Abfall aufzunehmen. Er besaß ausreichend davon, weil sie an jedem Spazierpfad über den Mülleimern zur Mitnahme bereitlagen. Der lächelnde Hund auf der Box bewachte sie. Auf dem Rückweg vom Friedhof hatte er rasch ein halbes Dutzend herausgezogen und unbemerkt in seiner Jackentasche verstaut. Die anderen hatten da noch über den Zaun geglotzt. Es waren immer mehr Friedhofsbesucher herbeigeströmt, die die Polizisten bei der Arbeit anstierten. Einige hatten den Beamten sogar etwas zugerufen und ernsthaft gehofft, eine Antwort zu bekommen.
Die Schaulustigen waren auch dann noch auf dem Friedhof geblieben, als die Uniformierten den Bereich, der den besten Blick bot, geräumt hatten. Das hatte er aber nur noch aus der Ferne mitbekommen und war heilfroh gewesen, nicht eng gedrängt mit ihnen zusammen zurückweichen zu müssen. Sie hätten über die Knochen geredet und dann auch über ihn. Ganz still und leise hätten ihre Lippen die gezischten Äußerungen formuliert. Dabei hätten sie ihn beobachtet, um zu prüfen, ob er etwas davon mitbekam. Seinem teilnahmslosen Blick hätten sie entnommen, dass sie beruhigt und sogar deutlich lauter weitermachen konnten. Er schien sowieso nicht zu verstehen, was sie an Boshaftigkeiten ausspuckten. Doch da lagen sie falsch. Er wollte es einfach nicht hören, weil sie ohnehin nichts kapierten, selbst wenn sie sich die Zeit nähmen, ihm zu lauschen. Es hatte ihm damals keiner zugehört, warum sollte es heute anders sein? Bestimmt hätten sie ihn bloß wieder auf ähnliche Weise angegangen, hätten ihn erneut beschimpft und bedroht und mit ihren Anklagen zum Schweigen gebracht. Das hatte schon einmal hervorragend funktioniert und ließe sich bestimmt wiederholen. Ganz sicher würden wieder etliche aus dem Dorf mitmachen, weil sie sich von seinen Behauptungen, die er nicht zu beweisen vermochte, angegriffen fühlten. Diesmal hätten sie mit ihren Vorwürfen gegen ihn sogar recht. Er hatte Schuld auf sich geladen, weil er nichts unternommen hatte. Er war nicht besser als die Täter und die anderen aus dem Dorf, die vor allem die Augen verschlossen und sie durch ihr Schweigen schützten.
Im Gegensatz zu den anderen Schaulustigen hatte er die Schuhe des Jungen wiedererkannt. Sie waren jetzt dreckig, aber die rote Farbe war noch zu erkennen gewesen und ebenso der leuchtend grüne geschwungene Haken an der Seite. Als er sie zuletzt gesehen hatte, waren sie ganz neu gewesen. Der winzige Augenblick hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt, mit allen Details. Es war ein heißer Sommertag gewesen. Die Hitze der Mittagsstunden hatte ihn viel früher auf den Friedhof und an das Grab seiner Mutter gezwungen als gewöhnlich. Nur eine Minute früher oder später, und er wäre heute frei von diesen Bildern, die im Unterschied zu den Dingen nicht von allein verschwinden wollten. Sie hatten sich in seinem Kopf festgesetzt und wichen auch nicht der Kugel, die dort oben mehr und mehr Raum für sich beanspruchte.
Es war allein an ihm, aufzuräumen und die Bilder zu tilgen. Im April zuvor hatte er Löwenmäulchen ausgesät, die seine Mutter so sehr mochte und die in ihrer Blüte im Hochsommer zweimal am Tag Wasser benötigten. Auf dem Weg dorthin hatte er ihr Lachen gehört, gedämpft durch die dichten Hecken, die um alle noch so kleinen Gartengrundstücke wuchsen und die es fast unmöglich machten, die noch genutzten von den bereits aufgegebenen zu unterscheiden. Er wäre an ihnen vorbeigelaufen, wenn die Gartentür sich nicht geöffnet hätte. Sie schwang auf, und die Ausgelassenheit schlug heraus. Das Bild, das er einfing und speicherte, hatte er nie wieder vergessen können, obwohl er sich so sehr bemühte.
Er hatte den Jungen gesehen und die, die um ihn herum waren. Aus ihren Augen sprach die Gier. Zwei der drei Männer kannte er. Sie stammten von hier. Dem einen gehörte der Garten, in dem sie standen. Das wusste er, weil er ihn öfter hier gesehen hatte. Allein und stets mit der Hacke über der Schulter, die er so trug, als ob er in die Weinberge hinauszöge, um die frisch gepflanzten Reben vom Unkraut zu befreien. Der andere Mann war ihm hier auch schon begegnet.
Wer der Unbekannte war, hatte er im Nachhinein erfahren. Ihn entdeckte er irgendwann zufällig in der Zeitung. Mit großer zeitlicher Distanz hatte er den Bericht aufgeschlagen und gelesen, der seine Verdienste rühmte. Von da an wusste er seinen Namen und hatte die Gewissheit, dass ihm keiner jemals glauben würde, wenn er denn den Mut fassen sollte, die Bilder aus seinem Kopf herauszulassen, um sie zum Sprechen zu bringen.
Er präsentierte sich auf dem Foto im weißen Kittel, wohlwollend und gütig. Er war Arzt und trug den Orden mit Stolz an seiner Brust. Jetzt konnte er sich auch wieder daran erinnern, wie sehr ihn die Aufnahme erschreckt hatte. Die Blätter der Zeitung hatten geraschelt wie ein lichter Baum, in dessen Restlaub der Herbststurm hineinfuhr, so heftig war er zusammengezuckt. Obwohl ihn das Foto mit einer Krawatte zeigte und der Kragen des Oberhemdes die Stelle beinahe abdeckte, war doch der große Leberfleck zu erkennen gewesen, der herzförmig über der Kragenkante prangte. Aus seinem Blick sprach Entschlossenheit.
Alle zusammen hatten sie dafür gesorgt, dass niemand seiner Geschichte Glauben schenkte.
Er schüttelte die Erdnussdose. Immer schneller bewegte er sie im Kreis, bis der Krach der Metallsplitter, der krummen, rostigen Nägel und der scharfkantigen Spiralen, die der Bohrer aus der Stahlplatte gedreht hatte, alles überlagerte. Wenn er jetzt noch weiter beschleunigte, würde der lärmende Strudel gleich darauf die vorgegebene Umlaufbahn verlassen und sich seinen eigenen Weg suchen.