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Der Zorn ließ Achim Roos das Gaspedal seines Traktors bis zum Anschlag durchtreten. Mehr als zwei Stunden hatte er an dem Gerät herumschrauben müssen, um es wieder zum Laufen zu bringen. Der saubere Schnitt am Hydraulikschlauch verriet, dass sich wieder einmal jemand an seinem Eigentum zu schaffen gemacht hatte. Es war nicht das erste Mal, aber in den letzten Monaten hatte es zugenommen. In den nächsten Nächten würde er sich auf die Lauer legen. Der konnte etwas erleben! Der Gedanke besserte seine Laune. Vielleicht sollte er sich beim Heinrich eine Flinte ausleihen und dem Kerl eine Ladung Schrot in den Hintern pusten. Das wäre ihm eine Lehre, an der er ein paar Monate zu knabbern hätte.

Er raste weiter mit Vollgas den Betonweg entlang. Seine dünnen Haare flogen wild im Wind. Nichts lag auf seinem Schädel mehr dort, wo es eigentlich hingehörte. Seine linke Hand stützte er auf dem Oberschenkel ab und umklammerte mit der rechten den abgegriffenen Knauf am Lenkrad. Er sog die kühle Fahrtluft durch die Schneidezähne ein.

Bei jeder kleinen Unebenheit schwankte der Laubschneider durch sein Sichtfeld. Das Gestänge des alten Gerätes, das an der Vorderachse angehängt war, schepperte. Die blanken Kanten der Messer blitzten. Sie allein zeugten davon, dass der alte Haufen rostiger Schrott überhaupt noch zu etwas zu gebrauchen war. Manch einer wunderte sich darüber. Wenn sich die Messer drehten und vor ihm rotierten, durfte ihnen nichts in den Weg kommen. Sie durchschlugen erbarmungslos alles, was sich zu weit herausreckte.

Besonders am Ende der Rebzeile musste man vorsichtig sein. Die Messer drehten sich nur dann ausreichend schnell, wenn er ordentlich Gas gab. Im vergangenen Jahr wäre es fast zum Unglück gekommen, als er auf das Ende der Gasse zuschoss. In den Ohren des Radfahrers hatte er später die weißen Stöpsel erkennen können. Der Mann war an seinem Weinberg vorbeigekommen, abgestiegen, hatte sein Elektrofahrrad an den letzten Rebstock gelehnt und saß davor im Gras. Den Lärm, den sein offener Schlepper produzierte, konnte er nicht hören. Im allerletzten Moment war es Achim Roos gelungen, das Lenkrad herumzureißen. Die Messer hatten die letzten Rebstöcke der Gasse vollständig zerfetzt, die Splitter waren ihm nur so um die Ohren geflogen. Dabei hatten sich die Drähte, die den Reben als Rankhilfe dienten, um die kreisenden Messer gewickelt und die Maschine gerade noch rechtzeitig zum Stillstand gebracht. Wäre er nicht so aufmerksam gewesen, hätten die Messer des Laubschneiders zuerst das Fahrrad und dann den nichtsahnenden Besitzer massakriert.

Im Unterschied zu den neuen, empfindlichen Maschinen war sein mehr als dreißig Jahre altes Gerät nämlich sogar in der Lage, im Oktober nach der Lese die verholzten Triebe seiner verbuschten Weinbergszeilen wieder in Schwung zu bringen und auf ein verträgliches Normalmaß zurückzustutzen. Zu ebendiesem Zweck war er gerade dorthin unterwegs. Auch als Hobbywinzer mit nur drei kleinen Weinbergen hatte er ausreichend Erfahrung, um zu wissen, wie man diesen Arbeitsschritt richtig anging. Daher hatte er vorhin die Schutzbleche am Gerät entfernt. Dort verfingen sich nämlich die elastischen Triebe, die die Messer nicht erreichten, und wickelten sich um die Schrauben, bis gar nichts mehr ging. Es war eine stundenlange Sisyphusarbeit, die ineinander verzurrten, zähen Triebe in winzigen Stücken wieder herauszuschneiden. Aus diesem Grund nahm er alle nicht benötigten Bauteile ab, bevor er mit diesem Arbeitsschritt die Winterruhe im Weinberg einläutete.

Quietschend meldete sich die Bremse, als er das Gewicht seines rechten Fußes darauf verlagerte. Er bog in die erste dichte Rebzeile ein und hielt kurz an, um die Messer des Laubschneiders zu starten. Das Ende der Rebzeile konnte er nicht sehen, weil sich die schmalen Gassen zuerst über eine kleine Kuppe zogen und der Hang erst dahinter ins Tal abfiel.

Seine Frau, die schon länger nicht mehr bei ihm lebte, hatte die Parzellen mit in die Ehe gebracht, die auf dem Papier noch immer bestand. Es waren die letzten Weinberge, die sie noch besaßen. Den Grundbesitz seiner Eltern hatte er vor fünf Jahren verkauft, als ihre gemeinsame Tochter im Hinterland hatte bauen wollen. Das Grundstück war dort, so weit entfernt von der Stadt, durchaus erschwinglich gewesen, setzte man die Preise hier bei ihnen als Vergleich an. Aber die Sonderwünsche ihrer Tochter und mehrmalige Änderungen am Bauplan hatten den Preis für das mickrige Einfamilienhaus dennoch in schwindelnde Höhen getrieben.

Achim Roos rief sich selbst zur Räson. Er durfte nicht schon wieder ungerecht zu ihr sein. Sein Schwiegersohn hatte einen nicht unbeträchtlichen Anteil an der Misere. Er berief sich stets und ständig auf seine beiden linken Hände und ließ selbst die armseligste Fußleiste und den kleinsten Pflasterstein von einer Fachfirma anbringen, während er selbst auf dem Sofa saß und Roséschorle trank. Wen wunderte es da, dass sein Gehalt als Staplerfahrer in einem Postfrachtzentrum nicht für jeden Wunsch am Bau ausreichte. So hatte er zu guter Letzt noch ein zweites und schließlich sogar ein drittes Mal eine gewisse Summe zuschießen müssen, um das Haus überhaupt so weit fertig zu bekommen, dass es bezogen werden konnte. Sein überschaubares Einkommen im Hauptberuf als Busfahrer hatte das natürlich nicht hergegeben. Der Verkauf der Weinberge in Essenheim und Stadecken-Elsheim war die einzige reelle Alternative gewesen, auch wenn es ihn geschmerzt hatte, den letzten Rest Familienbesitz zu verhökern. Aber mit dieser Meinung stand er in seiner Familie allein da.

Ruckelnd setzten sich die Messer in Bewegung. Erst ganz langsam, um dann abrupt rasend zu rotieren, sodass sie für die Augen zu einem Strudel verschwommen, in dem das Einzelne nicht mehr auszumachen war. Schnell griff er hinter sich, um die alte Kappe und die Brille hervorzuholen. Beides schützte ihn ausreichend vor den herumfliegenden Rebholzresten und dem in den Augen brennenden Saft der Triebe.

Bevor er startete, warf er noch einen Blick auf die Uhr. Bis heute Nachmittag wäre er fertig. Selbst wenn er sich Zeit ließe, würde er alles rechtzeitig erledigt haben, damit er pünktlich zum Dienstagstraining seiner Jugendmannschaft kam. Die Jungs hatten sich gut gemacht in den letzten Monaten. Er seufzte milde, weil ihn dieser Gedanke ein wenig darüber hinwegtröstete, dass ihm seine Tochter weiterhin verbot, die beiden Enkel mal für ein Wochenende zu sich zu holen. »Adrian und ich haben das so beschlossen. Wir wollen das nicht.« Was ging das seinen Schwiegersohn an, wenn er als Großvater seine Enkel sehen wollte?

Er legte den Gang ein und ließ die Kupplung langsam kommen. Die rotierenden Messer forderten lautstark Beschäftigung ein. Sie lechzten nach den holzigen Trieben, die verschlungen in die Fahrgasse hineinragten. Gleich würde alles ganz ordentlich aussehen. Dem Chaos wäre ein Ende gesetzt. Der Traktor rollte an, und die Messer schnitten sich gierig ihren Weg frei. Eine schmale, aber akkurate Schneise schuf er auf seinem Gefährt.

Achim Roos gab etwas mehr Gas, weil er spürte, dass die Triebe aufgrund der Trockenheit in diesem Sommer recht dünn und spröde waren. Die Messer kamen da ohne größere Anstrengung leicht durch. Dreck und Staub flogen ihm entgegen und legten sich auf sein Gesicht und seine Kleidung. Ein grober Nebel aus feinsten Holzresten, Blättern und dem klebrigen Saft der noch wüchsigen Triebe. Ein erster zarter Schleier legte sich auch auf die dünnen Plastikgläser der billigen Schutzbrille. Ohne sie müsste er die Augen zumachen, mit unabsehbaren Folgen. Nur eine kleine Unachtsamkeit, und er hing wieder im Draht oder fuhr mit dem Vorderrad des Traktors einen der knorrigen Stämme seiner Reben kaputt. In dem alten Weinberg fehlten schon so viele, es wäre schade um jeden, der noch daran glauben musste.

Die Hälfte der ersten Rebzeile lag hinter ihm, als er den schwarzen Beutel im dichten Geäst an sich vorbeiziehen sah. Die Messer hatten ihn zum Glück nicht erfasst, und selbst wenn, hätte er wenig dagegen ausrichten können. Wie schon einmal wäre die Scheiße um ihn herumgeflogen. Sollte er einen von denen erwischen, die die Kackbeutel ihrer lieben Vierbeiner im hohen Bogen so in die Weinberge warfen, dass sie im oberen Teil der Rebstöcke hängen blieben und dort baumelnd nur darauf warteten, dass er mit seinem Laubschneider das Plastik und seinen stinkenden Inhalt pulverisierte, dann würde er ihm sämtliche Knochen brechen und ihm zum Abschluss den Beutel in den Rachen stopfen. Achim Roos grinste breit bei diesem Gedanken, den er sich farbig und bis ins Detail genüsslich ausmalte.

Den zweiten schwarzen Beutel bemerkte er viel zu spät. Er tauchte urplötzlich auf Augenhöhe vor den erbarmungslos kreisenden Messern auf. Instinktiv schloss er sofort die Augenlider und presste die Lippen aufeinander, damit er das Zeug wenigstens nicht in den Mund bekam.

Ein metallisches Kreischen durchschnitt die Luft. Es glich einer Kreissäge, von deren Blatt sich die Zähne lösten. Das Zischen kleinster Splitter, die an ihm vorbeischossen, konnte er noch hören. Grausame Laute, die nicht aufzuhalten waren. Dann raubte ihm der Schmerz unzähliger Nadelstiche, die alle zugleich in sein Gesicht, seinen Hals und den Brustkorb eindrangen, die Luft. Tief bohrten sie sich in ihn hinein. Das Blut lief warm von seiner Stirn unter der Brille hindurch in seine nun weit aufgerissenen Augen, während er der plötzlichen Dunkelheit entgegenraste, die ihn gleich darauf verschluckte.