Sie standen zu viert vor den beiden roten Holzpflöcken, die den Eingang zur Hütte markieren sollten. Rolf Hassinger war mit der Kawasaki vorgefahren und hatte den Motor, als er Ravi sah, noch einmal demonstrativ aufheulen lassen. »Du kannst gern nachher eine Runde drehen. Ich denke, bei dir ist die Maschine in guten Händen«, hatte er erklärt und ein kumpelhaftes Grinsen hinterhergeschickt. Hassinger steckte in einer schweren Lederjacke, die ihm nur bis zum Gürtel reichte und sein ohnehin breites Kreuz noch zusätzlich disproportional betonte. Ein überdimensionaler Aufnäher auf seinem Rücken verwies in Frakturschrift auf die Existenz eines regionalen Motorradclubs, dessen Heimat das Selztal war. Seine Füße steckten in Cowboystiefeln aus Krokodillederimitat, und er trug ausgewaschene Jeans, die an den Knien zerrissen waren und den Blick auf seine gut gebräunte Haut freigaben. Dazu hatte er Unmengen eines süßlichen Parfums aufgelegt, die langen Haare nach hinten gekämmt und mit Gel so nachhaltig fixiert, dass der Helm seiner Frisur nichts anhaben konnte. Ravi hatte kurz darüber gegrübelt, wann er und Rolf zum brüderlichen Du übergegangen waren und ob diese Verbundenheit auch dann noch fortbestehen würde, wenn er ihm nach einer Spritztour auf der frisch polierten Kawasaki offenbarte, dass sich seine Erfahrungen mit Zweirädern im Wesentlichen auf ein Drei-Gang-Damenrad beschränkten.
Hassinger blickte nach links, nach rechts und dann wieder nach vorne und versuchte, sich zu orientieren. Das fiel ihm sichtlich schwer, da es auf dem Areal außer den roten Plastikheringen, die sie zum Abstecken benutzten, nun keine nennenswerten Orientierungspunkte mehr gab.
»Sie stehen also vor der offenen Tür und schauen hinein in die Hütte. Was sehen Sie?«, fragte Ravi freundlich, um ihm eine zarte Hilfestellung zu geben, bevor Harro ungeduldig dazwischenfahren konnte und Rolf Hassinger daraufhin womöglich gar nichts mehr von sich gab. Er vermittelte trotz seiner Montur nicht den Eindruck, dass er mit Druck gut klarkam.
Der Gemeindegärtner seufzte. Dann begann er zu erzählen, welcher Anblick sich ihm bot, wenn auch zunächst stockend. Aus dem Augenwinkel konnte Ravi erkennen, dass Harro unauffällig die Aufnahmefunktion seines Handys betätigte.
»Am Anfang hat man gar nichts gesehen. Man hat es nur gehört. Das Rascheln überall zwischen den blauen Müllsäcken. Die Hütte war voll davon. Das meiste waren Klamotten oder Ähnliches. Ein Teil war aufgerissen, porös. In den Rest habe ich nicht reingeschaut.« Er hob die Hand und zeigte in Richtung der durch Heringe markierten Außenwand. »Rechts stand ein Doppelbett. Darüber hingen ausgeblichene Bilder.«
»Was für Bilder? Fotos, Ausschnitte aus Zeitungen oder selbst Gemaltes?«
»Ein Foto. Eine Insel mit einer Burg und Türmen und Wasser drumherum. Ein gerahmtes Bild, aber die Scheibe war zersplittert. Das muss ein großes Puzzle gewesen sein.« Rolf Hassinger nickte mehrmals. Er suchte Ravis Blick. »Ganz sicher, die Einzelteile waren fest aufgeklebt, sonst wären sie ja herausgefallen. Und Postkarten, die hatte jemand mit Reißzwecken auf der Innenseite der Tür befestigt. Jede Menge. Blumen, Teddybären, Berge, alles Mögliche, was so auf Urlaubskarten drauf ist. Einen kleinen Ofen gab es da vorne links. Dann kam die Spüle und abgetrennt vom Rest eine Toilette, nicht größer als ein Wandschrank. Nur noch der Klorollenhalter hat daran erinnert. Über der Spüle befand sich ein richtiges Fenster. Die Scheibe war längst eingeworfen, die Gardine hing in Fetzen herunter. Und überall hat es nach den Viechern gestunken, den Ratten. Widerlich.«
Hassinger drehte sich zu ihnen um. Ihm war anzusehen, dass er gern jetzt schon zu einem Ende kommen wollte. Leider konnten sie ihm diesen Gefallen nicht tun. Seine Erinnerung war die einzige Möglichkeit, einen Eindruck vom Inneren der Behausung zu bekommen. Vielleicht kam dabei ein Detail zur Sprache, das sie weiterbrachte.
»Und als dann alles ausgeräumt war, haben Sie den Boden aufgemacht?« Ravi hoffte, dass dieser kleine Anstoß schon ausreichte, um ihn zum Weiterreden zu bringen.
Rolf Hassinger drehte sich wieder in Richtung der Türöffnung. Er brauchte noch einen Moment, bevor er seinen Bericht fortsetzte. »Das waren massive und schwere Platten, alles fest verschraubt. Es war daher gar nicht so einfach, das aufzustemmen.«
»Warum?«
Rolf Hassinger sah Ravi fragend an. Er schien den Einwurf nicht zu verstehen.
»Sie hätten die leer geräumte Hütte doch einfach mit dem Radlader zerlegen können, ohne großen körperlichen Aufwand.«
Hassinger wich seinem Blick aus und starrte wieder nach vorne. »Ich wollte sehen, ob da noch mehr Ratten drunter sind.«
»Wie waren die Knochen angeordnet?«
Hassinger schwieg. Er rieb sich umständlich über die Stirn und fuhr sich dann durch die Haare. »Ich habe eigentlich nur den Schädel gesehen. Und den auch nicht vollständig. Vielleicht bis zur Nase. Die Augenhöhlen und darunter den Sand. Alles andere muss bedeckt gewesen sein. Ich habe mich so erschrocken und bin sofort raus, weil ich nicht wusste, was ich machen sollte. Ich rief den Bürgermeister an. Aber der Medinger hat mich sofort angeschrien. Der wollte mir gar nicht zuhören.«
»Ja, das wissen wir.« Darüber mussten sie nichts mehr hören. »Und als Sie dann mit dem Radlader das ganze Grab auf die Schaufel luden, was haben Sie da gesehen?«
»Ich wollte nichts mehr sehen. Der Schädel hat mir Angst gemacht. Ich kann mit Toten nichts anfangen. Deswegen bin ich auch nie dabei, wenn auf dem Friedhof irgendetwas gemacht werden muss. Der Jugo hat da seinen Spaß dran, aber ich nicht. Ich habe das ganz vorsichtig mit reichlich Erde aufgenommen, den Sand und den Boden darunter, so tief es nur ging. Dabei habe ich weggeschaut. Später am Friedhof habe ich die Ladung dann behutsam von der Schaufel wieder runterrutschen lassen. Ich wollte nichts sehen von den alten Knochen und habe mit Erde von der Halde alles so abgedeckt, wie es der Medinger wollte.«
»Haben Sie irgendetwas von hier mitgenommen?«
Rolf Hassinger sah ihn irritiert an und schüttelte entschieden den Kopf. »Da war nichts mehr zu gebrauchen. Was die Ratten nicht angefressen hatten, das haben die Halbstarken zerschlagen und zerhauen. An zwei Stellen in den Schuppen neben der Hütte hatten sie sogar Feuer gelegt. Offenbar zu einer Jahreszeit, in der das Material so klamm und durchfeuchtet war, dass es nicht brennen wollte. Alles war verkohlt.«
Ravi sah zu Harro und Tobias, kaum verhohlene Frustration im Blick.
Sie waren hier fertig, die beiden Kollegen schienen auch kein weiteres Interesse an Hassinger zu haben.