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Harro hatte es nur kurz daheim ausgehalten. Wie ein Käfig kam ihm seine Wohnung mittlerweile vor, und er war das gefangene Raubtier, das mit stierem Blick tagein, tagaus am Gitter entlanglief. Den Weg als Ziel, weil ein Ausweg nicht zu finden war. Nicht mehr lange, und man konnte auch seine immer gleiche Spur auf dem Fußboden seines Wohnzimmers ablesen. An der Wand und der Fensterfront entlang, hinter der sich die Rampe bis hinauf zur Grasnarbe zog. Ihm fehlte dort unten in seiner Wohnung die Luft zum Atmen, solange er nach den Eindrücken des Tages noch unter Strom stand. Nur ganz langsam löste sich der Druck von ihm. Ruhe fand er auch dann kaum, und heute ganz bestimmt nicht.

Er rieb sich mit der freien Hand über die stoppelige Wange und kippte dann den winzigen Rest aus dem gläsernen Flachmann hinunter, den er am Mittag zur Bulette im Supermarkt erworben hatte. Die Zeit, die er im Wohnzimmer der älteren Dame allein gewesen war, hatte leider nicht ausgereicht, um ihn unbeobachtet mit dem guten Cognac ihres verstorbenen Mannes wieder aufzufüllen. Und von dem anderen hatte ihn zum Glück die Vernunft abgehalten. Wie lange behielt sie noch die Oberhand und bewahrte ihn vor dem Schlimmsten?

Er schlich weiter durch die Dunkelheit, direkt am Rheinufer unter den Platanen entlang. Das trübe Wasser klatschte unregelmäßig gegen die groben Steine, die das Ufer sicherten. Der Wind hatte während des Unwetters den Müll aus den überfüllten Abfalleimern geweht. Selbst jetzt im Herbst bevölkerten abends und in der Nacht zumeist Massen von Menschen die Grünflächen am Wasser. Für all das, was sie leer und verbraucht zurückließen, reichten die wenigen Behältnisse, die zudem viel zu selten geleert wurden, nicht aus. Die Abstände zwischen den noch intakten Straßenlaternen waren mittlerweile so groß, dass er im Dunkeln ständig auf Dinge trat, die knackend unter seinem Gewicht zerbrachen. Er machte sich nicht mehr die Mühe, erschrocken zur Seite zu springen, wenn sich die Hindernisse schwarz vor seinen Füßen abzeichneten. Er wollte nicht wie ein gehetzter Feldhase herumspringen.

Der starke Regen, an den nur noch das Treibgut erinnerte, hatte die Straßen und die Uferpromenade restlos von Menschen geräumt. Keiner schien sich heute mehr herauszuwagen. Alle saßen sie jetzt daheim in ihren warmen Wohnzimmern auf weichen Couchgarnituren oder schaufelten den Schlamm aus ihren leer gepumpten Kellern. Keine Streuner wie er, die es daheim nicht aushielten. Die Sirenen hallten wiederkehrend durch die Häuserschluchten. Die Kollegen von der Berufsfeuerwehr schoben sicher Überstunden bis zum nächsten Morgen.

Wie lange würde er heute brauchen, bis er sich nach Hause trauen konnte? Der Blick auf die Uhr war sinnlos. Er brach in der Bewegung ab. Wie ein herrenloser Kater zog er weiter durch die Dunkelheit, von Mülleimer zu Mülleimer. Er passierte eine Parkbank, über die eine Plastikplane gespannt war. Ein mit Tüten vollgestopfter Einkaufswagen stand daneben. Das Schnarchen unter dem Regenschutz offenbarte, dass hier jemand seine Nachtruhe schon gefunden hatte. Fast beneidete er die Person dafür.

Das Kleingeld in seiner Hosentasche klimperte, als er mit den Fingern prüfend dazwischenfuhr. Es reichte für keine der sonst üblichen Ablenkungen aus. Wenn er Pech hatte, schlich er ziellos bis zum Morgengrauen durch die Stadt und verirrte sich nur zum Duschen kurz in seine Wohnung. Das würde ihm zumindest den peinigenden Dämmerzustand vor dem Einschlafen ersparen, in dem ihm die Ausweglosigkeit seiner Situation grell im Kopf herumspukte. Sie geizte nie mit Schreckensszenarien.

Vor einem guten Jahr im Sommer war er schon einmal an diesem Punkt gewesen. Sie hatten ihn unter Druck gesetzt, weil er nicht mehr bezahlen konnte. Zwei Schlägertypen hatten vor seiner Haustür gestanden. Er blickte sich schnell um, weil ihm der Gedanke ein zartes Unwohlsein in den Magen trieb, begleitet von der Furcht, dass sie auch jetzt wieder hinter ihm her sein könnten. Es war absurd, das wusste er. Sie würden ihm niemals etwas antun. Solange er im Staatsdienst stand, war er wertvoll für sie.

Im Sommer hatte ihn der alte Mann in der Dusche gerettet. Er war mit Tobias zu dem Einsatz geschickt worden. Die Nachbarn in der Wohnung darunter hatten den Hausmeister einbestellt, weil es von der Decke tropfte. Ein handtellergroßer Wasserfleck, in dessen Mitte sich alle paar Sekunden ein Tropfen bildete und auf das glänzende neue Fischgrätparkett der Einliegerwohnung klatschte.

Da der Mann im grauen Kittel den Wohnungsbesitzer nicht erreichen konnte, hatte er sich zur Verhinderung größeren Schadens Zugang zur Wohnung verschafft – und bei dem Geruch, der ihm entgegenwehte, schon im Türrahmen erschrocken kehrtgemacht. Sie waren stattdessen hineingegangen.

Der Estrich in dem Neubau war anscheinend so gut gewesen, dass es mehrere Tage gedauert hatte, bis sich das Wasser endlich einen Weg in das Geschoss darunter gebahnt hatte. Sie wateten durch eine subtropische Fäulnislandschaft, in die sich die Zimmerpflanzen-Vegetation des Besitzers perfekt einfügte. Die Palmen reckten ihre Blätter kraftstrotzend in die Höhe. Selbst die Kakteen hielten sich noch erstaunlich gut. Es schien, als senkten sie ihre schweren Köpfe zum Gruß. Aufgequollen starrte ihnen zudem ein halbes Dutzend ausgestopfter Tiere entgegen. Fuchs und Dachs fletschten drohend die Zähne. Bereit, ihr Reich zu verteidigen.

Sie setzten ihre Expedition durch ein bei sommerlichen Temperaturen und geschlossener Dreifachverglasung in vollständiger Auflösung befindliches Gruselkabinett fort, in dem der tote Besitzer in der Duschtasse, auf den noch immer ein sanfter Schauer aus der Regenwaldbrause niederging, den traurigen Höhepunkt bildete.

Tobias hatte den Gestank keine Minute länger ausgehalten und war nach Luft japsend hinausgestürzt. Harro hatte das noch nie viel ausgemacht. Vielleicht war es aber auch schlicht der Überlebensdrang des fast verhungerten Raubtiers, der ihn antrieb. Ausreichend lange blieb er allein, weil sich der Rest der herbeigerufenen Mannschaft viel Zeit ließ und sein Kollege es vorzog, draußen vor der Tür den aufgewühlten Magen zur Ruhe kommen zu lassen. Es gab nichts mehr zu retten. Vorsichtig und leise hatte er mit Gummihandschuhen an den Fingern nacheinander all jene Schubladen aufgezogen, die noch nicht so weit verquollen waren, dass man dafür ein Stemmeisen benötigte. Schon nach wenigen Versuchen war er fündig geworden. Unter einer von der alles beherrschenden Feuchtigkeit verzogenen dünnen Furnierplatte quollen hellgrüne stockfleckige Geldscheine hervor. Die im Geheimfach sauber aufgeschichteten Bündel hatten Raum erhalten und drängten hinaus.

Wie ferngesteuert hatte er zwei dicke Packen Hunderter in den beiden Innentaschen seiner Lederjacke verschwinden lassen und den Reißverschluss trotz der feuchten Hitze bis unter das Kinn hochgezogen. Es war so einfach gewesen, und sein schlechtes Gewissen hatte er mit einer halben Flasche Rémy Martin am Abend schnell so weit betäubt, dass es ihn kaum noch plagte.

Es sollte nie wieder vorkommen. Sogar im Vollrausch hatte er sich diesen Schwur unzählige Male selbst abgerungen, solange noch ausreichend Geld dagewesen war, um durch die Nächte zu kommen. Vorhin bei der alten Dame war alles ins Wanken geraten. Aber nur für einen kurzen Moment, den sie durch ihre schnelle Rückkehr aus der Küche beendet hatte. Vom Cognac hatte er sich gierig noch einmal die Kaffeetasse vollgeschenkt. Viel hatte nicht gefehlt.

Harro trottete weiter und bog am Schloss ab in Richtung Bahnhof. Ein Bus fuhr langsam an ihm vorbei und auf die nahe gelegene Haltestelle zu. Den brauchte er nicht. Er kicherte in sich hinein. Er hatte Zeit, viel zu viel Zeit, die er irgendwie totschlagen musste. Eine lange Nacht lag vor ihm. Ohne eine sinnvolle Beschäftigung und die sonst übliche kostspielige Flucht aus dem Alltag, die ihm irgendwann zum Verhängnis werden würde. Wenn nicht diesmal, dann ganz sicher bei einer der nächsten Gelegenheiten. Und ganz zum Schluss, wenn er ihnen nicht mehr von Nutzen war, würden die Typen ihn schließlich doch fallen lassen. Hatte es da überhaupt einen Sinn, so lange durchzuhalten?