34

Ravi war froh, für einen Moment dem Bildschirm entkommen zu sein. Draußen war es langsam hell geworden. Es war Mittwoch. Sie saßen seit zwei Uhr vor den Geräten. Sein Magen rumorte. Auch wenn der Grund ein Hungergefühl war, würde er doch keinen Bissen hinunterbekommen. Beim Gedanken an Nahrung stieg regelrechter Ekel in ihm auf. Langsam trottete er den Flur entlang, um vom Besprechungsraum, in dem sie drei provisorische Arbeitsplätze für die Durchsicht der Videos und DVDs eingerichtet hatten, zum Büro zu kommen, das er mit Tobias teilte. Den Kampf gegen die Müdigkeit würde er ohne Kaffee nicht durchhalten.

»Du siehst nicht gut aus.« Tobias blickte hinter seinem Monitor auf. Sein luftiger Mittelscheitel verlief heute alles andere als gerade. Er musste zum Friseur. Die dunkelblonden Haare hingen ihm über die Ohren.

»Mir fehlen ein paar Stunden.« Ravi rieb sich über die Augen und von dort weiter durch seine Haare, die sich fettig und strähnig anfühlten.

»Kein Wunder. Ich wäre zu euch gekommen, wenn der Chef mich nicht so vehement davon abgehalten hätte.«

»Wer hätte dann auf die Kinder aufgepasst, oder ist Sara wieder soweit in Ordnung?«

»Nein, aber meine Mutter ist noch da. Ihr müsst mich also nicht mit Samthandschuhen anfassen.«

Ravi überlegte kurz, ihm von seinem Streit mit Harro zu berichten. Sein erster Ärger war zwar verraucht. Aber jetzt glaubte er, dass der Chef Tobias in der Nacht ganz bewusst nicht dazugeholt hatte, um sich nicht noch mit einem weiteren kritischen Geist auseinandersetzen zu müssen. Doch er entschied sich dagegen. Vorerst. »Dafür bist du jetzt ausgeschlafen.« Er platzierte seine Tasse unter der Maschine und drückte den Knopf. Rauschend kündigte das Gerät das ersehnte Heißgetränk an.

»Weiter bin ich trotzdem nicht gekommen.« Tobias stöhnte verdrossen. Er durchforstete die Vermisstenmeldungen im Jahr vor Gerbers Tod in der Hoffnung, bei einem Jungen entsprechenden Alters mit vielleicht arabisch klingendem Vornamen auf ein Foto des Opfers zu stoßen.

»Soll ich dir einen mitmachen?« Ravi deutete auf die Maschine, die jetzt sonderbar ratternde Geräusche von sich gab. So als würde das Gerät die Kaffeebohnen mit einem Hammer zerkleinern.

»Nein, ich hatte schon zwei. Das ist mehr, als mein nervöser Reizmagen verträgt. Ich hätte mich heute besser an Kräutertee gehalten.«

Die Kaffeemaschine beendete ihren Auftrag mit einem kurzen Rauschen. Ihre Unterhaltung war versiegt. Keiner schien den anderen nach dem Fortgang seiner Bemühungen fragen zu wollen, weil sie beide ahnten, dass bisher nichts Brauchbares aufgetaucht war. Gleich heute Morgen hatte ihnen das Labor des LKA mitgeteilt, dass es sich bei dem Metall, das den Roos getroffen und das sie außerdem im zweiten Kotbeutel in den Reben gefunden hatten, um selbst hergestellte Splitter und Späne handelte. An einigen Kanten hatten sie unter dem Mikroskop wiederkehrende Muster erkennen können, die es ihnen später unter Umständen ermöglichten, nachzuweisen, mit welchem Gerät das Metall bearbeitet worden war. Dazu mussten sie die betreffende Maschine aber erst einmal sicherstellen.

Was die Durchsicht der Videos aus dem Keller anging, so waren sie damit noch längst nicht durch, aber aus dem Garten stammte bisher nur der eine Film, der den Jungen in den roten Turnschuhen zeigte. Der Rest war aus irgendwelchen Wohnungen. Die Kollegen vom Kommissariat 2, die sich so was nahezu ständig anschauten, hatten das eine oder andere Material sogar wiedererkannt. Die Videos kursierten auf einschlägigen Seiten im Netz. Es handelte sich also um Material, das über dunkle Kanäle gehandelt wurde und nur für die, die sich in der Szene auskannten, erreichbar war. Insgesamt machte es eher den Eindruck, dass Achim Roos als Konsument eingestuft werden musste, nicht als Produzent der Filme. Das war aber lediglich ein Zwischenstand. Hätte er keinen Garten in unmittelbarer Nähe des Tatorts besessen, wäre man auch bei der Sequenz mit dem Jungen nicht auf die Idee gekommen, dass er dort mit dabei gewesen sein könnte.

Vor Ravis Augen flimmerte immer wieder dieses Bild auf. Der Junge, der für einen Moment in die Kamera blickte, um dann zaghaft den Arm zu heben und zu winken. »Farid, bitte sag unseren Freunden noch mal Auf Wiedersehen.« Dann schnürte sich ihm der Hals endgültig zu. Er hatte den Gedanken, den dieser Satz in ihm auslöste, vorhin verdrängt, als er sich die Szene zum vierten oder fünften Mal hintereinander ansah. Jetzt drängte er sich unerbittlich wieder in sein Bewusstsein. War das ein Abschiedsgruß gewesen? Sie besaßen kaum Informationen über den Gerber. Hatte er gewusst, dass sein Tod nahte, und den Jungen davor umgebracht? Ravi spürte, dass die Übelkeit, die sich in seinem Magen austobte, nach oben drängte. Er schluckte dagegen an.

Tobias blickte ihn fragend an.

Er räusperte sich. »Es ist widerlich, das ansehen zu müssen. Und es ist mindestens genauso schlimm, nicht zu wissen, wer der Junge ist und wie er in die Fänge dieser Schweine geraten konnte.«

»Ich glaube, wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, ihn über die übliche Suche in der Vermisstenkartei zu finden.« Tobias wollte fortfahren, war aber irgendwie ins Stocken geraten und schien nicht weiterzuwissen.

»Hast du nichts entdeckt, was uns zumindest einen kleinen Schritt voranbringt? Eine engere Auswahl von Fällen, bei denen wir noch mal genauer hinsehen könnten?«

Tobias schüttelte den Kopf. Seine Resignation ließ sich nicht verhehlen. »Das kannst du vergessen. Zumindest ist bei den Kindern zwischen acht und zwölf, über die der Eintrag in der Vermisstenkartei mehr verrät als nur den Namen, niemand dabei, der in unser Raster passt.«

Sie schwiegen und lauschten den gedämpften Geräuschen, die aus dem Flur zu ihnen hereindrangen. Ravi wollte etwas sagen, wusste aber nicht, was. Tobias kam ihm zuvor.

»Von den anderen gibt es in diesem Zeitraum so viele. Hunderte Namen ohne nähere Angaben, da weiß ich gar nicht, wo ich mit der Suche anfangen soll.«