»Aktuell werden allein hier bei uns im Bereich des Polizeipräsidiums Mainz knapp siebzig minderjährige Geflüchtete als vermisst geführt. Fast die Hälfte aller in der Datei verzeichneten Vermisstenfälle unseres Bundeslandes ist dieser Gruppe zuzuordnen.« Tobias drehte den Bildschirm etwas zur Seite, sodass Ravi besser sehen konnte. Viel brachte es nicht. Er kannte die Zahlen ohnehin, zumindest grob, weil das Thema immer mal wieder aufkam, auch in der Presse, sie aber nicht die personelle Ausstattung besaßen, um auch nur einem Bruchteil der Fälle nachzugehen. Und es gab noch viele weitere Argumente, die für diese Herangehensweise sprachen.
»Ich weiß.« Ravi versuchte, seine Gedanken zu sortieren. Drüben im Besprechungsraum und bei den Kollegen vom Kommissariat 2 stapelten sich die Videokassetten und DVDs, und sie machten hier ein neues Großprojekt auf. Wäre es nicht sinnvoller, erst damit abzuschließen, bevor sie sich an die nächste Mammutaufgabe machten? Schwer vorstellbar, dass der Chef ihnen zusätzlich ein halbes Dutzend Kollegen beschaffte, damit diese sich durch die Fälle vermisster minderjähriger Geflüchteter aus dem Jahr 2015 und 2016 arbeiteten.
»Die Zahlen sind mittlerweile überschaubar im Vergleich zu damals.« Tobias schien seinen Gedankengang erraten zu haben. »Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingsbewegungen hierher galten bundesweit etwa sechstausend minderjährige Geflüchtete als vermisst.«
»Die sind ja nicht verschwunden.«
»Natürlich nicht. Sie sind nur irgendwann mal als vermisst gemeldet und danach nie wieder aus der Datei herausgenommen worden, weil sich schlicht keiner darum gekümmert hat. Die kommen hier an, werden erfasst und in eine Unterkunft gesteckt. Eigentlich wollen sie aber weiter zu Verwandten nach England oder sonst irgendwo hier bei uns. Also machen sie sich nachts aus dem Staub und werden am nächsten Tag als vermisst gemeldet. Tauchen sie dann eine Woche später bei der Verwandtschaft auf, ist zwar nichts passiert, aber sie gelten weiter als vermisst, weil niemand einen Gedanken daran verschwendet, das der Polizei zu melden.« Auf Tobias’ Stirn zeichneten sich drei deutliche Linien ab. Er wirkte angespannt. »Die unbegleiteten Minderjährigen sind es gewohnt, allein zurechtzukommen. Die haben wochenlang auf der Straße gelebt und sich eigenständig behauptet und durchgeschlagen. Hier steckt man sie in eine Unterkunft, und ein paar Wochen später werden sie nach festgelegten Zahlenschlüsseln auf die Bundesländer weiterverteilt, aus Berlin nach Brandenburg oder von hier in die Eifel oder in den Westerwald. Wenn das allein nicht ausreicht, um abzuhauen, sind der Ordnungsruf der Aufsichtspersonen, eine miese Gemeinschaftsverpflegung oder Konflikte mit den anderen Jugendlichen der Grund dafür, dass sie Reißaus nehmen. Oft sind die Jugendlichen durch Kriegs- und Gewalterfahrungen im Heimatland traumatisiert. Es fällt ihnen dann schwer, sich den Regeln und der Autorität einer Massenunterkunft zu unterwerfen.«
Ravi wusste auch das, und er erinnerte sich noch gut an den Herbst und Winter 2015/16 mit den täglichen Bildern der Wanderungsströme, den eilig aufgebauten Zeltstädten und den Notunterkünften in Turnhallen. Es waren Monate gewesen, in denen vieles aufgrund der schieren Masse an Menschen, die kamen, nicht mehr funktionierte. Das reichte von der Registrierung an der Grenze über die geregelte Verteilung bis hin zur Nachverfolgung von Vermisstenfällen. Trotz aller Emotionen und Ängste, die damals hochkochten, hatten sich die meisten Befürchtungen jedoch nicht bewahrheitet, und vieles normalisierte sich recht bald wieder.
»Wenn damals Straftaten an minderjährigen Geflüchteten verübt worden wären, hätten wir das mitbekommen.«
Tobias schien auf dieses Argument nur gewartet zu haben. »Da liegt das Problem!« Er schlug mit der Faust auf den Schreibtisch und wirkte selbst ein wenig erschrocken über diese für ihn ungewöhnlich heftige Reaktion. Der Monitor wackelte. »Das ist die Augenwischerei von damals! Taucht die Leiche eines geflüchteten Kindes auf, wird in der bundesweiten Vermisstendatenbank nachgesehen.« Die nächsten Worte brachte er ganz langsam auf den Weg. »Taucht aber keine Leiche auf, gibt es auch kein Problem. Das ist ein Argument ex silentio in Perfektion.« Er lachte auf. »Die Schlussfolgerung aus dem Schweigen war während des einen Semesters Geschichte vor meiner Polizeikarriere das Einzige, was ich aus dem schrecklich langweiligen Tutorium eines jungen Doktoranden behalten habe. Sie ist der größte Irrtum, dem man als Historiker erliegen kann. Die Nichtexistenz von etwas wird nur dadurch begründet, dass es in einem bestimmten Kontext nicht erwähnt wird. Das ist sehr dünnes Eis. Ich hätte nie geglaubt, dass ich das mal für meine Arbeit bei der Kripo benötigen würde.« Tobias reckte den Zeigefinger in die Höhe. So hatte Ravi ihn wirklich noch nie erlebt. »Was nicht erwähnt wird, das existiert einfach nicht. Haben wir keine Leiche, gibt es auch das Verbrechen nicht, selbst dann nicht, wenn wir Hunderte oder Tausende Meldungen in der Vermisstendatenbank verzeichnen.«
»Aber die vermissten Geflüchteten sind doch nicht alle ermordet worden.« Ravi ging das zu weit. Ein Berg Videokassetten wartete auf ihn. Er war hundemüde, sein Kopf dröhnte, und er erhielt hier philosophischen Nachhilfeunterricht, gespickt mit lateinischen Fachbegriffen. Sieben Jahre hatte er sich in der Schule damit herumschlagen müssen. Sein Vater hatte ihm diese zweite Fremdsprache aufgezwungen, weil er die Notwendigkeit des Lateinischen für jeden akademischen Lebensweg mit den eigenen Erfahrungen als Mediziner rechtfertigte.
»Natürlich nicht!« Tobias schüttelte abwehrend den Kopf. Er wirkte jetzt wieder ruhiger. »Das habe ich ja auch gar nicht gesagt. Was ich damit andeuten wollte, ist doch nur, dass wir nicht von vorneherein ausschließen können, dass es Verbrechen an minderjährigen Geflüchteten gegeben haben könnte, auch wenn wir keine Hinweise darauf haben und die meisten dieser Fälle in der bundesweiten Vermisstendatenbank hinfällige Karteileichen sind. Viele der Kinder und Jugendlichen sind allein unterwegs gewesen und haben selbst in der Heimat niemanden mehr. Von den Afghanen, die nach Deutschland gekommen sind, waren angeblich mehr als ein Fünftel Waisen. Auf die wartet also niemand, es forscht daher auch keiner nach, wenn sie weg sind. Die sind für so Typen wie den Roos doch die perfekten Opfer. Man muss nur dafür sorgen, dass sie es niemals jemandem erzählen können. Und dass das funktioniert, sehen wir ja an den Knochen, die noch immer dort unter der Hütte liegen würden, wenn der Bürgermeister nicht ein Baugebiet geplant hätte.«
»Du denkst an den Fall in Berlin?« Ravi spürte, dass etwas in ihm den Widerstand gegen Tobias’ Ansatz aufgegeben hatte.
Der Kollege nickte. »Ich habe mir das eben noch mal im Internet angesehen. Der Täter ist 2016 verurteilt worden, nachdem er zwei kleine Jungs entführt und ermordet hatte. Sein zweites Opfer, einen Flüchtlingsjungen, hat er am 1. Oktober 2015 auf dem überfüllten Gelände des Lageso in Moabit einfach mitgenommen. Er ist mit einer Tüte Kuscheltiere dorthin und wenig später mit dem Jungen an der Hand wieder vom Hof. Die Überwachungskameras haben ihn dabei aufgenommen. Das erste Opfer hatte er drei Monate davor missbraucht, umgebracht und auf seinem Gartengrundstück verscharrt. In beiden Fällen haben die Eltern ihre Kinder umgehend als vermisst gemeldet. Dutzende Kollegen haben nach ihnen gesucht und mit den Bildern der Überwachungskameras nach dem Täter gefahndet. Wir haben es vielleicht mit einem anderen Tätertyp zu tun, der planvoller vorging und mit hoher Wahrscheinlichkeit niemals erwischt worden wäre. Er suchte sich ein Opfer, das allein und ohne Angehörige in Deutschland gestrandet war. Stellte sicher, dass ihn keiner dabei beobachtet, wenn er das Kind in seine Gewalt bringt und abtransportiert. Und brachte es dann in ein sorgfältig ausgewähltes Versteck, um Sorge zu tragen, dass in seinem gewohnten Umfeld niemand Verdacht schöpft. Die zugewachsene Hütte in der Kleingartenkolonie, um die herum kaum ein anderes Grundstück mehr genutzt wurde. Ein Einfamilienhaus mit einem Keller. Das muss nicht einmal in der Abgeschiedenheit oder am Ortsrand liegen. Es ist so einfach für ihn, wenn er das Kind erst einmal bei sich hat, weil niemand nach einem Kind sucht, dass es gar nicht gibt.«
»Und was machen wir jetzt damit?«
Tobias starrte auf seinen Monitor, auf dem sich farbige Kreise vor einem schwarzen Hintergrund hin und her bewegten. Er zuckte mit den Schultern. Eine Weile suchten sie jeder für sich nach einem Anknüpfungspunkt, der ihnen die nächsten Schritte aufzeigte.
Ravi fing an zu reden. Er musste seine Ideen formulieren und aussprechen, um weiterzukommen. Oft genug tat er das sogar, wenn er allein war. Hilfreiche Selbstgespräche, bei denen er stets darauf achtete, dass sie keiner der Kollegen mitbekam. »Für den Täter ist es eigentlich am einfachsten und sichersten, wenn er allein operiert. Das Durcheinander im Herbst und Winter 2015 spielt ihm in die Karten. Doch sein Netzwerk besteht bereits. Gerber als Besitzer des Gartens, Roos als Bekannter mit der gleichen Neigung. Sie kennen sich schon länger, haben Videos ausgetauscht. Ein loser Kontakt, nach Bedarf und wenn einer von ihnen neues Material beschafft hatte. Vielleicht gibt es noch mehr Beteiligte.« Ravi nahm einen Schluck aus seiner Tasse. Der Kaffee schmeckte schal und war mittlerweile weitgehend abgekühlt. Trotzdem setzte er die Tasse gleich noch einmal an. »Vielleicht zwei oder drei weitere Männer, aber kaum eine größere Gruppe. Wieso also nicht gemeinsam handeln? Für sie ist die Situation eine Verlockung, der sie nicht widerstehen können.«
Ravi blieben die weiteren Worte im Hals stecken. Sie wollten nicht heraus. Tobias hatte ihn auch so verstanden. Er sprach aus, was ihm nicht über die Lippen gekommen war.
»Sie haben die Gunst der Stunde genutzt und sich ihr eigenes Kind gesucht.«