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»Wo seid ihr?«

Ravi konnte Harros Stimme hören und ihn auch verstehen, obwohl Tobias das Telefon an sein Ohr hielt und es nicht laut gestellt hatte.

»Kaum lässt man euch eine halbe Stunde allein, da macht ihr euch aus dem Staub.« Einen Moment herrschte Stille, weil Tobias keine Antwort gab. »Zumindest hättet ihr mir mal Bescheid geben können. Die Kollegen fragen nach euch, und ich kann nicht einmal eine Antwort geben. Ich stehe da wie ein Idiot!«

»In zehn Minuten sind wir im Präsidium. Wir sprechen dann.« Es klang wie eine automatische Ansage vom Band. Bei Fragen zum Stand Ihrer Bestellung drücken Sie bitte die Zwei. Bei Fragen zur Rechnungsstellung drücken Sie bitte die Drei. Bei allen anderen Anliegen drücken Sie bitte die Vier. Einer unserer Kundendienstmitarbeiter ist dann für Sie da. Bitte warten Sie.

Ravi steuerte das Auto auf die Bundesstraße. Mit dem nötigen Nachdruck hatte er Tobias den Autoschlüssel aus der Hand genommen. Der Kollege war so aufgewühlt und abwesend, dass er ihm ungern den Platz auf dem Fahrersitz überlassen wollte. Er saß lieber müde selbst am Steuer, als sich dem komplett neben sich stehenden Tobias auszuliefern. Der schüttelte unentwegt den Kopf und murmelte: »Ich erinnere mich an ihn.« Das Foto hielt er starr vor sich, obwohl er gar nicht mehr hinsah.

Ravi warf immer mal wieder einen schnellen Blick auf die unscharfen Gesichtszüge. Der Mann war trotzdem recht gut zu erkennen. Er hatte im Moment der Aufnahme genau in die Kamera über sich geschaut. Fast so, als ob er wüsste, dass er abgelichtet wurde, und sich nicht dagegen zur Wehr setzte. Er trug eine Wollmütze, die er aber nicht besonders weit in die Stirn gezogen hatte. Die Stelle, an der er aufgenommen worden war, kannten sie. Die Kamera hing auf Höhe des Hauseingangs im Dachüberstand. Man konnte sogar die erste Treppenstufe erahnen. Eine zweite Aufnahme zeigte nur die Rückansicht des Mannes auf der Terrasse hinter dem Haus. Er war also um das Gebäude herumgegangen. Das konnte alles und nichts bedeuten.

Tobias wartete kaum ab, bis der Wagen stand. Er schleuderte die Tür auf und hetzte los. Ravi folgte ihm, sah aber keinen Sinn darin, im gleichen Tempo zurück zu den widerlichen Filmen und Harros schlechter Laune zu eilen. Sicher würde der Chef sich in Kürze auch noch einmal bei ihm darüber beschweren, dass sie sich eigenmächtig auf den Weg gemacht hatten. Seine beiden Versuche, ihn über das Telefon zu informieren, wurden dabei ignoriert, die ließ er in solchen Fällen nie als Begründung gelten. Keine Alleingänge ohne vorherige Rücksprache, eine klare Regel, die allerdings nur für sie beide, aber nicht für Harro galt.

Das konnte getrost noch ein paar Minuten warten. Sollte er sich ruhig erst an Tobias austoben. Ravi bog daher im Foyer in die entgegengesetzte Richtung ab. Der Anschiss ließ sich besser ertragen, wenn sein Magen dabei nicht auch noch knurrte. In der Kantine holte er sich zwei belegte Brötchen. Für das Seelachsfilet »Flipper«, das als Tagesgericht wärmstens angepriesen wurde, war es eindeutig noch zu früh. Es würde ihn nachher noch reichlich Überwindung kosten, einen Fisch zu essen, der ihn an den Delfin aus dem Kinderprogramm im Fernsehen erinnerte. Daran änderte auch die in reichlich blumigen Worten beschriebene Kräuterkruste wenig, in der das Aroma und die Sehnsucht nach der Provence stecken sollten.

Solche Überlegungen erledigten sich bestimmt ganz von allein. Wenn er die nächsten Videos aus der Sammlung von Achim Roos angesehen hatte, bekam er sowieso keine warme Mahlzeit mehr hinunter. Selten sehnte er sich so sehr nach einem Notfall, der ihren Einsatz unabdingbar machte. Er würde lieber zu einer grausamen Bluttat gerufen werden, als weiter diese unsäglichen Filmchen anzusehen. Da ihm die beiden Kollegen vom KDD aber in der Kantine über den Weg gelaufen waren, besaß der Wunsch kaum Aussicht auf Erfüllung.

Vielleicht war in ihrer Abwesenheit eine Nachricht aus der Unfallklinik gekommen und der Roos schon vernehmbar. Bei der Schwere seiner Verletzungen war das vermutlich zu früh, aber die Hoffnung starb zuletzt. Ravi hatte das Gefühl, dass er mit jedem Schritt, den er dem Besprechungsraum näher kam, langsamer wurde. Er biss in das Baguettebrötchen, das mit dünnen Tomaten- und Mozzarellascheiben belegt war. Ein Stück Tomate spritzte zur Seite weg und klatschte auf den Boden. Er wischte es schnell mit der dünnen Serviette auf und ging weiter. Beim Pesto hatten sie am Knoblauch nicht gespart und statt mit Butter beide Brötchenhälften vor dem Belegen mit einer süßlichen Salatmayonnaise zugekleistert. Zumindest im Hinblick auf die Kalorien ging das Brötchen also als vollwertige Mittagsmahlzeit durch. Er entschied sich eher unbewusst für einen weiteren Umweg und bog in ihr gemeinsames Büro ab. Sein Körper forderte eine Tasse Kaffee, um der Müdigkeit etwas entgegensetzen zu können.

Tobias starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Es lag ein triumphierendes Lächeln auf seinem Gesicht. »Ich habe ihn!« Er zog die Augenbrauen in die Höhe und grinste breit. Seine Haare wippten mit, als er auf seinem Drehstuhl eine halbe Wende vollführte. Die Anspannung schien sich gelöst zu haben. Zwei kreisrunde Schweißflecken auf dem himmelblauen Hemd, dort wo der Pullunder die Ärmel freigab, zeugten noch davon. Die gewagte Kombination war Ravi vorhin gar nicht aufgefallen. Er tippte bei diesem Strickensemble eher auf Tobias’ Mutter denn auf Sara als Schöpferin. Das wulstige Zopfmuster schlängelte sich ungelenk vom V-Ausschnitt bis zum unteren, farblich abgesetzten Bündchen. Eine Eleganz, als ob sich drei Wiener Würstchen ineinander verschlungen hätten. Sie schienen auch nicht mehr ganz frisch gewesen zu sein. Zumindest legte das der Farbton nahe, der zwischen Khaki und schlichtem Braun changierte. Das himmelblaue Hemd störte ein wenig, sonst wäre der Kollege heute als Jagdgehilfe durchgegangen. Ravi schluckte schnell den halb zerkauten Rest seines Brötchens hinunter und stand gleich darauf hinter Tobias, der mit dem Zeigefinger auf den Bildschirm tippte. »Das ist er.«

Ravi versuchte sich zu orientieren. Die Auflösung war in Ordnung. Ein groß gezogener Ausschnitt, für dessen Einordnung er einen Moment benötigte. Einen etwas zu langen Moment. Die Ungeduld erfasste ihn. Sie sprang von Tobias, der nervös auf seinem Stuhl herumrutschte, auf ihn über. Sein Blick wanderte zwischen dem Gesicht und den Gegenständen hin und her. Da waren eine Gießkanne und ein Kreuz im Hintergrund, das sich aber nur als schwacher Schatten erahnen ließ.

»Auf dem Friedhof?«

»Genau!« Mit einer schnellen Bewegung der Maus rief Tobias das Foto vollständig auf. »Das habe ich aufgenommen, ehe ich dir mit der Drohne einen Schrecken eingejagt habe.« Sein Lächeln signalisierte, dass er sich auch jetzt noch prächtig darüber zu amüsieren vermochte. Die kleinen Freuden bei der Polizeiarbeit waren wichtig, um das Grauen auf Abstand zu halten. Vorgestern war ihnen das noch gelungen, mittlerweile fiel es sehr schwer.

»Er stand zwischen den anderen Gaffern?«

»Ich habe mit der Dreihundertsechzig-Grad-Kamera alle Zuschauer aufgenommen. Das mache ich immer, weil man ja nie weiß, wer sich so am Tatort tummelt und uns über die Schultern schaut. Dieses Foto ist entstanden, kurz bevor die Kollegen den Bereich abgesperrt haben.« Tobias zog den Ausschnitt wieder groß, sodass die Person gut zu erkennen war. Ravi musste zugeben, dass die Ähnlichkeit mit dem Foto von Weigels Überwachungskamera nur auffiel, wenn ein Rest Erinnerung an den betreffenden Tag vorhanden war. Gebannt starrte er auf das Gesicht. Der Mann stand zwischen den anderen, aber doch allein. Sie hielten Distanz zu ihm. Oder er zu ihnen.

»Den brauchen wir.« Tobias sah ihn an. Er wartete auf Zustimmung. Hastig sprach er weiter: »Der ist am Fundort der Knochen. Die ganze Zeit steht der da und schaut uns zu. Tags darauf schleicht er bei Weigel ums Haus.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich eines in diesem Fall gelernt habe, dann, dass es keine Zufälle gibt! Der weiß mehr als wir.«

»Diesmal sollten wir den Chef aber besser mitnehmen.« Ravi grinste.