Medinger erwies sich sofort als sehr hilfsbereit. Er schien äußerst bemüht, den ungünstigen Eindruck, den er bei ihrem ersten Besuch hinterlassen hatte, aufzuhellen. Sie rasten über die Landstraße auf die Dörfer zu, die sich wie kleine Buckel aus dem Meer der Weinreben erhoben. Ravi versuchte, den Wagen nach jedem Kreisel möglichst zügig wieder an die zulässige Höchstgeschwindigkeit heranzubringen. Harro saß auf dem Beifahrersitz. Nachdem sie ihm in groben Zügen ihre Erkenntnisse der letzten Stunden erläutert hatten, waren die Maßregelungen überraschenderweise ausgeblieben. Marianne Rosenberg ließ sie halblaut an ihren gereimten Lebensweisheiten teilhaben: »Hallo, mein Freund, wir sind älter, aber weise sind wir nicht. Die Träume sind immer die gleichen, auch mit Falten im Gesicht.« Der Chef zeigte sich zumindest im Hinblick auf die Lautstärke großzügig. Ihm reichte heute eine zarte melodische Untermalung aus, die es ermöglichte, nebenbei ein Gespräch zu führen, ohne schreien zu müssen.
Tobias navigierte vom Rücksitz aus. Der Bürgermeister hatte den Mann anhand des Fotos, das sie ihm während des kurzen Telefonats vor ein paar Minuten zugeschickt hatten, umgehend identifizieren können. »Hat der Rainer den Jungen umgebracht? Das kann ich mir nicht vorstellen.« Bevor sie sich verabschiedeten, hatte Harro Medinger unmissverständlich dargelegt, dass er ihm ernsthafte Probleme machen werde, wenn sich ein solches Gerücht schneller verbreitete, als sie Essenheim erreichen konnten.
Zusätzlich erhielten sie vom Dorfoberhaupt neben der Anschrift noch ein paar Details und den Hinweis, dass sich Rainer Veith entweder daheim oder auf dem Friedhof am Grab seiner Eltern aufhalten werde. Da er schwer krank sei, sehe man ihn nur noch selten woanders. »Lange hat er nicht mehr. Zumindest erzählt man sich das hier bei uns, obwohl niemand groß Kontakt zu ihm hat. Er war schon immer ein Eigenbrötler. Der Vater war da ein ganz anderer, aktiv in allen Vereinen, und er hatte jahrzehntelang die Jagd im Dorf und den Nachbargemeinden gepachtet. Das sich anschließende Schüsseltreiben und die feuchtfröhlichen Verhandlungen vor dem Jagdgericht unter seiner Ägide sollen legendär gewesen sein. Er war ein Waffennarr. Ein ganzes Jagdzimmer hing voller Gewehre und Trophäen. Aber der Hans-Helmut ist schon länger tot.«
»Hier rechts, das braune überdachte Hoftor müsste es sein.« Tobias schob seinen Kopf zwischen den beiden Sitzen nach vorne. Ravi fuhr noch ein kleines Stück weiter und stellte den Wagen am Straßenrand ab. Eine sachte Bewegung hinter der Gardine im Erdgeschoss des Hauses direkt neben ihrem Parkplatz signalisierte, dass man sie bereits im Blick hatte. Ein Wagen, aus dem drei unbekannte Männer stiegen. Ravi war sich sicher, dass die Dame am Fenster sie so lange beobachten würde, wie es nur irgend möglich war.
Das Gehöft, in dem Rainer Veith wohnte, lag eingekeilt zwischen den anderen Gebäuden im alten Ortskern. Das Namensschild an der Hauswand neben dem Tor war verwittert. Dort, wo sich einst die Klingel befunden hatte, starrten zwei dünne Drähte aus der Wand. Harro drückte die Klinke und schob das Türchen auf. Ravi blickte sich noch einmal nach allen Seiten um und folgte dann seinen beiden Kollegen in den lang gezogenen Innenhof, der auf ein halb geöffnetes Scheunentor zulief. Wenn die Nachbarin sie im Auge behalten hatte, wovon auszugehen war, blieben ihnen jetzt wahrscheinlich noch gut fünf Minuten, bevor die Sirenen der eilig herbeigerufenen Polizeistreife erklangen. Ravi musste schmunzeln.
»Herr Veith, sind Sie zu Hause?« Harro ging voraus und rief noch einmal in Richtung des Scheunentors. »Wir sind von der Polizei und möchten mit Ihnen sprechen. Bitte kommen Sie heraus.«
Ravi legte, so wie Tobias, die Hand auf seine Dienstwaffe. Einzelne Worte aus dem Telefonat mit Medinger hallten in seinem Kopf nach. »Waffennarr« und »Der hat nicht mehr lange«. Das verlagerte die Situation auf eine hochgradig unvorhersehbare Ebene. Beide blieben sie stehen, während Harro langsam auf die Haustür zusteuerte. Er passierte eine kleine Bank, neben der ein tönerner Bottich stand, wie man ihn früher zur Gärung von Sauerkraut benutzte.
Harro erreichte die Haustür. Sie war verschlossen. Ravi behielt den Eingang der Scheune im Blick. Es sah dunkel aus dort drinnen. Der Chef wandte sich zu ihnen um und blickte sie fragend an.
»Auf dem Friedhof, am Grab der Eltern, wenn man dem Medinger Glauben schenken darf.« Tobias deutete, während er sprach, mit einer knappen Bewegung seines Kopfes in Richtung der niedrigen Scheune. Harro nickte. Vorsichtig zogen sie weiter. Der Hof glich einer Schlucht, die an der dunklen Öffnung endete. Außer dem schmalen Ruhebänkchen und dem mächtigen dunkelbraunen Tontopf stand nichts weiter herum. Alles wirkte wie leer geräumt. Es fehlte an einer Möglichkeit, schnell Deckung zu finden, falls es zum Äußersten kam. Aus den schmalen Ritzen des Betonpflasters quoll vereinzelt Grün.
Die Metallsplitter im Kotbeutel in den dürren Rebzweigen, sein Blick in die Kamera, das Bild von Farid, der dem Betrachter winkte, alles irrte in wilder Folge durch Ravis Schädel. Jetzt zog er doch lieber die Dienstwaffe aus dem Halfter und blieb nahe an der linken, fensterlosen Wand stehen. Der Putz war an etlichen Stellen in großen runden Flecken von der Wand gefallen. Darunter schauten die gelben Backsteine hervor. Feine Salpeterausblühungen überzogen den Sockel auf Kniehöhe wie ein zarter weißer Pilzrasen. Ravis Blick suchte hektisch nach einem Schatten, einer Bewegung, die verriet, ob sich im Stockwerk über Tobias jemand hinter einem der Fenster verbarg und sie beobachtete.
Harro erreichte die Scheune. Er hielt inne, um die Taschenlampe aus seiner Jacke zu kramen. Tobias hatte seine bereits in der Hand.
»Herr Veith, sind Sie in der Scheune? Dann kommen Sie bitte heraus.«
Sie lauschten auf irgendein Geräusch, das ihnen weiterhalf. Harro drehte sich um. Er grinste, als er sie beide mit der Waffe in der Hand sah.
»Da fühle ich mich ja gleich viel sicherer, wenn mir beide Kollegen Feuerschutz geben. Ich glaube aber, unser Kunde ist ausgeflogen.« Er leuchtete geradewegs in die Dunkelheit und trat ein.
Tobias blieb am Eingang stehen, um die Haustür und das Hoftor im Blick zu behalten. Ravi zögerte einen Moment. Der Chef war schon verschwunden. Er konnte den blassen Lichtschein seiner Taschenlampe im Inneren der Scheune herumspringen sehen. Dann folgte er ihm hinein.
Der Boden bestand aus gestampftem und über die Jahrzehnte festgefahrenem gelbem Lehm. Er dämpfte jeden Schritt. Es roch leicht nach altem Öl und Metall. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Was er gleich darauf zu erkennen glaubte, ließ ihn zusammenzucken. Er riss die Pistole in die Höhe und erstarrte.
Harros Lachen zerriss die Stille. »Ich hätte mir auch fast in die Hosen gemacht.«
Ravi atmete stöhnend aus, bemüht, trotz des Schrecks zu lächeln. Sein Herz hämmerte. Der Schweiß rann seinen Nacken herab. Vor ihm stand der Oberkörper einer männlichen Schaufensterpuppe auf einer Werkbank. Ihre weit aufgerissenen Augen starrten ihn an. Die Reste ihres ehemals schwarzen Haupthaares schimmerten schmutzig.
Im Regal hinter der Werkbank, das so weit in die Höhe reichte, dass er einen Schemel benötigt hätte, um an die oberen Ablagen zu gelangen, stand ordentlich aufgereiht eine Anzahl unterschiedlicher Küchengeräte vom Toaster bis zur Kaffeemaschine. Ihre Kabel baumelten wie der Schwanz einer Hauskatze nach unten. Die hölzerne Arbeitsfläche offenbarte furchige Spuren. Tiefe Scharten, die sich in das faserige Holz geschnitten hatten.
»Ich glaube, wir sind richtig.« Harro ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe langsam über die verstreut liegenden kleinen Metallsplitter wandern, zwischen denen sich dünne Spiralen gedreht in die Höhe reckten. Zerrissene schwarze Kotbeutel lagen am Rand neben einem Haufen Sägespäne und schweren, groben Holzbrocken. Der blasse Schein beleuchtete mehrere Holzscheite, die wohl bei dem Versuch, eine kreisrunde Öffnung tief in sie hineinzufräsen, der Länge nach aufgerissen waren. Ravi fuhr verwundert mit dem Zeigefinger über den schwarzen Staub, der auf den hellen Holzspänen schimmerte. Er zerrieb ihn zwischen den Fingerspitzen und schnupperte daran. Ganz schwach roch es nach Schwefel.
Es dauerte nur Sekunden, bis er die Puzzleteile zusammengesetzt hatte. »Wir müssen uns beeilen. Wenn es nicht schon zu spät ist.«