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Sie musste sich nicht sonderlich sputen. Ihr blieb ausreichend Zeit für alles, was sie noch erledigen wollte. Auf dem Weg zurück kam er bestimmt in den beginnenden Berufsverkehr. Aber so lange wollte sie nicht mehr hierbleiben. Sie hatte es bald hinter sich.

Mit wenigen Handgriffen raffte Johanna Weigel die Noten von Schuberts »Winterreise« zusammen und schleuderte sie in den Kamin. Zufrieden beobachtete sie das erste zaghafte Züngeln der Flammen an den Rändern. Als ob sie probierten, ganz vorsichtig nur, um sicherzugehen, dass es auch schmeckte, was man ihnen da zum Fraß vorwarf. Gierig fielen sie darüber her, nachdem der Erste das Startsignal gegeben hatte. Von allen Seiten zerrten und rissen sie an ihrer Beute, die ihnen nun nicht mehr entkommen konnte.

Sie genoss den Anblick, der sich befreiend anfühlte. Schön wäre es gewesen, wenn die Melodie noch einmal erklungen wäre. Zerfetzte Takte, die sich langsam auflösten und in wisperndem Aufbegehren erstarben. Schräge und falsche Töne, die er nicht mehr hören konnte, die ihn aber dennoch quälen würden. Sie lachte schallend und bekam sich kaum wieder ein, obwohl sie wusste, wie sonderbar sich das anhörte. Vor allem, weil der Resonanzboden des Flügels ihre schrillen Laute aufnahm und sie als zarten Nachhall an die Umgebung abgab. Doch das war ihr egal, Jakobs Blick konnte sie nicht treffen. Sie schrie daher noch einmal aus Leibeskräften und lauschte mit geschlossenen Augen dem, was das Instrument daraus machte.

Im Gehen langte sie nach der eleganten Vase. Den Rohrkolben bekam die Hitze auf dem Kaminsims nicht. Die schweren hellbraunen Köpfe mit der weißen Hutspitze reckten sich ihr bittend entgegen. Sie wollte ihnen den Wunsch erfüllen. Es war ohnehin das Letzte, was sie für sie tun konnte. Sie schleuderte alles in das aufgerissene Innere des Flügels. Die Scherben tanzten auf den Saiten und zauberten eine einmalige Kakofonie, von der sie gleich darauf bereute, sie nicht mit dem Handy aufgenommen zu haben, um sie sich immer wieder anhören zu können.

Sie eilte in den Flur und blickte nicht mehr zurück. Ihr Koffer stand schon an der Haustür bereit. Sie hinterließ ihm keinen Brief. Das hätte sie als reichlich albern empfunden. Was hätte sie auch schreiben sollen? Ich habe es geahnt, aber nie für möglich gehalten. Ich habe gegen alle Verdachtsmomente angekämpft und es geschafft, sie immer wieder im Keim zu unterdrücken, weil es nicht sein konnte, nicht sein durfte. Wie konntest du uns das nur antun? Auch wir leben nun bis an unser Ende mit dieser Schuld.

Sie wusste schon seit vielen Jahren, dass er eine Wohnung in der Innenstadt besaß, die er vor ihr verheimlichte. Aus seinem Fenster konnte man vielleicht sogar den Dom sehen. Sie hatte den Prospekt in seiner Bibliothek gefunden, ein paar Jahre bevor er die Praxis verkaufte. Er hatte nie darüber geredet, und sie hatte es fast vergessen. Irgendwann hatte der kleine Dicke mit dem Oberlippenbart vor der Haustür gestanden. Es war in der Zeit, als sich Jakob von früh bis spät um die Flüchtlinge kümmerte. Sie war froh, dass er eine Beschäftigung hatte, die ihn aus dem Haus führte. Es bedeutete mehr Zeit, die sie allein für sich ausfüllen durfte und in der sie nicht unter seinem abfälligen Blick zu leiden hatte, der nichts als Geringschätzung ausdrückte.

Der Dicke stellte sich als Heiner Gerber vor und drückte ihr einen gepolsterten Briefumschlag in die Hand. »Mit bestem Dank zurück. Schön, wie Sie hier wohnen. Davon hat Jakob gar nichts erzählt.« Er tat so vertraut bei den wenigen Sätzen, dass sie sich hinterher schämte, ihn nicht hereingebeten zu haben. Durch die Noppen des Luftpolsters konnte sie die harten Kanten ertasten. An den Klebestellen trennte sie das Kuvert vorsichtig mit dem Teppichmesser auf und suchte die Bestätigung für ihren Verdacht. Im Umschlag befand sich nur ein Wohnungsschlüssel, den sie erschrocken sofort wieder hineingleiten ließ und die Hülle mit etwas flüssigem Klebstoff verschloss.

Warum Gerber hierhergekommen war, wusste sie nicht. Sie hatte an der Tür gelauscht, als Jakob ihn abends am Telefon anzischte: »Was soll das? Bist du verrückt geworden? Wir hatten vereinbart, dass keiner beim anderen auftaucht.« Alles fügte sich nur langsam zusammen. Ein Puzzle mit so vielen verschiedenen Einzelteilen. Bis heute hatte sie noch gehofft, dass er die Wohnung in der Stadt unterhielt, um sich mit einer Geliebten zu treffen. Sie hatte immer die kleine Blonde aus der Praxis im Verdacht gehabt. Der glaubte man anzusehen, dass sie sich einem Verhältnis mit dem Chef gegenüber offen zeigte, auch wenn der ihr Vater hätte sein können.

Sachte ging sie in die Knie und griff nach dem Koffer. Dem dunklen Umriss vor der abgetönten Scheibe neben der Haustür öffnete sie, just bevor er klingeln konnte, und lächelte ihn freundlich an.

»Das passt ja perfekt.«

Er nahm ihr sofort den Koffer aus der Hand und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass er ihn für deutlich leichter gehalten hatte. »Wo soll die Reise hingehen?«

Das Taxi stand mit laufendem Motor halb auf dem Bürgersteig. Sie folgte dem Fahrer und überlegte, was sie ihm antworten sollte. Er schien seine Frage schon vergessen zu haben, als er den Kofferraum öffnete und ächzte, während er ihr kompaktes Gepäckstück hineinwuchtete. Ein paar winzige Schweißperlen zeigten sich auf seiner Stirn, die jetzt genauso glänzte wie der Rest seines kahlen und kantig wirkenden Schädels. »Als ob Sie Goldbarren im Koffer hätten.«

Sie kicherte erschrocken und nickte ihm wohlwollend zu, als er ihr die Tür aufhielt. Ein Hauch Wehmut umfing sie, als ihr Blick die Fassade streifte, obwohl sie doch froh war, das alles endlich hinter sich lassen zu können. Nie wieder würde sie einen Fuß in dieses Haus setzen.