Es war sinnlos gewesen, in die Wohnung zu fahren. Der Weg war das Ziel. Er hatte den abrupten Aufbruch gebraucht, die rasende Panik und die Beklemmung, um langsam im Auto wieder zu sich zu kommen. Die sanften Wogen des Rheins beruhigten und klärten den vom Schock der Situation verstellten Blick auf die Realität. Angst war stets ein schlechter Begleiter bei wichtigen Entscheidungen. Sie führte in die Irre und verleitete zu völlig überzogenen Handlungen. Er hatte nichts zu befürchten. Wenn die Polizei etwas gegen ihn in der Hand hätte, wären sie anders aufgetreten. Der Typ in dem lächerlichen, von der Oma gestrickten Pullunder hatte versucht, ihn aus der Reserve zu locken. Aus der Aggressivität, mit der er das Gespräch führte und ihn um Auskunft anging, hatte die Frustration gesprochen, weil sie wahrscheinlich maximal vage Vermutungen hegten. Zum Glück hatte er die Ruhe bewahrt und während des größten Teils der knappen Unterhaltung ja auch noch geglaubt, dass sie wegen des Einbrechers den Weg aus der Stadt auf sich genommen hatten. Er hatte die Überraschung daher nicht spielen müssen, sondern sich schlicht so verhalten, wie es genau in die Situation passte.
Er trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad die schnellen Sequenzen der Bläser mit, in die in diesem Moment die Streicher einfielen. Mit einer knappen Bewegung drehte er die Lautstärke bis fast zum Anschlag. Das war genau der richtige Punkt, um die Schläge der Pauke in seinem Magen spüren zu können. »Short Ride in a Fast Machine« von John Adams, knappe fünf Minuten fulminante Klangkraft, die nur wenige Orchester so hinbekamen, dass die durchdachte Komposition nicht in undifferenziertem Getöse endete.
Zu gern wüsste er, was Melanie ihnen erzählt hatte. Sie war damals die Einzige gewesen, die nachfragte, als der Junge verschwand. Er musste sie überzeugen und ihr weismachen, dass er sich den anderen Jugendlichen angeschlossen hatte, die in der gleichen Nacht in Richtung Ruhrgebiet aufgebrochen waren. Geglaubt hatte sie es letztlich, weil so viele kamen und ohne Erklärung wieder gingen. Längere Zeit erachteten sie es deshalb als unnötig, die mutmaßlich Weitergezogenen bei der Polizei als vermisst zu melden. Erst als durch die Medien waberte, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge leicht zu Opfern werden könnten, hatte Melanie die Praxis in der Einrichtung geändert. Danach wurde jeder unter achtzehn, der die Containersiedlung ohne Abmeldung verließ, bei der Polizei angezeigt.
Den Jungen hatte er am Abend zu sich geholt, als Nachtruhe einkehrte. Vom Personal war kaum noch jemand da. Wenn man wie er täglich vor Ort war, bekam man schnell einen guten Überblick, wann sich ein Plan gefahrlos umsetzen ließ. Gerber kannte er da schon seit vielen Jahren. Er vertrieb das Material, das sonst nirgendwo zu bekommen war. Erst durch das Internet änderte sich das. Den Schritt hatte er selbst aber nie mitgemacht, weil er die damit verbundenen Gefahren nicht zu überschauen vermochte. Niemals würde er seine Adresse oder andere Daten, die ihn und seine Vorlieben verrieten, irgendwo hinterlegen. Dass das selten sicher war, wusste man ja mittlerweile. Er holte die Videokassetten daher bis zum Ende stets persönlich bei Gerber ab und deponierte sie in einem Safe in der Praxis, für den es nur einen Schlüssel gab, der sich immer in seiner Hosentasche befand. In der Praxis stand auch der Videorekorder, weil er dort ungestört verweilen konnte, so lange er wollte, wenn er seine Sprechstundenhilfen in den Feierabend entlassen und hinter ihnen abgeschlossen hatte. Als er sich zur Ruhe setzte, hatte er die alten Filme vernichtet und sich im Tresor seiner Mainzer Wohnung, von der niemand wusste, eine kleine, aber feine neue Sammlung aufgebaut. Es gab daher nirgendwo eine Spur, die verriet, dass Gerber und er miteinander in Verbindung gestanden hatten. Vor seinem Tod hatte Gerber alles restlos getilgt, was ihn belastete. Geblieben war nur die Erinnerung an dieses halbe Jahr, das ihnen eine Möglichkeit geboten hatte, wie es sie nie wieder geben sollte.
Über Gerber war er mit Roos in Kontakt gekommen. Der war ebenfalls ein langjähriger Abnehmer seiner Produkte und absolut zuverlässig. Sonst hätte er den beiden nie zugesagt.
Dem Jungen hatte er, gleich als er an jenem Abend zu ihm gekommen war, ein leichtes Sedativum gegeben. Zusammen warteten sie ab, bis es draußen ganz still war. Nur noch vereinzelt konnte man das schrille Kreischen der Möwen hören. Er hatte ihn an der Hand genommen und mit ihm den Container verlassen. Hinter der Sanitäreinheit bogen sie zum Zaun ab. Dort wartete Gerber an der verschlossenen Tür, für die ein Teil der festen Helfer einen Schlüssel besaß. Die Übergabe dauerte nur ein paar Sekunden, in denen alles hätte auffliegen können.
Zwei Tage blieb Gerber mit dem Jungen in der Wohnung. Sie hatten diese Zeit bewusst als Sicherheitsphase eingeplant, weil nicht kalkulierbar gewesen war, wie sich die anderen in der Einrichtung verhalten würden, wenn der Junge verschwunden war. Er versorgte beide mit Essen und den Vorräten an Diphenhydramin, die er noch aus seiner Praxis besaß, um den Jungen ruhigzustellen. Abends kamen Roos und er dazu, und zusammen organisierten sie später den Abtransport des Jungen in Gerbers Haus. Mit Roos’ Unterstützung hatte der seinen Keller so hergerichtet, dass sie ihn dort gefahrlos über lange Zeit hätten bei sich behalten können. Er war jetzt ihr Kind. Ein Geisterkind, das nicht vermisst wurde und nach dem daher auch niemand suchte. Jetzt nicht und später nicht. Alles lief so, wie sie es sich erträumt hatten. Bis zu dem Moment, als Gerber seine Diagnose bekam. Pankreaskarzinom, Bauchspeicheldrüsenkrebs. Viel Zeit blieb ihnen danach nicht mehr.
Sie trafen sich noch einmal in Gerbers Garten. Ein letzter gemeinsamer Nachmittag, den Gerber filmte, um ihnen ein Andenken zu hinterlassen. Das hatte er davor nie gemacht. Er wollte während seiner letzten Monate allein mit dem Jungen sein, so lange, wie es machbar erschien. Sie hatten darüber diskutiert und beschlossen, dass er sich melden sollte, wenn er ihn freilassen würde. Sie hatten nie wieder etwas von Gerber gehört, und er war froh darüber.
Bei ihm würde man nichts finden, was ihn mit den anderen in Verbindung brachte. Eben gerade hatte er noch rasch das in mehrere graue Mülltüten eingeschlagene halbe Dutzend DVDs in einem irgendwo am Rhein stehenden Container entsorgt. Ihm konnte nichts passieren.
Er drückte den kleinen roten Knopf. Das Warnlicht, das er schon aus der Entfernung sehen konnte, signalisierte ihm, dass sich das Garagentor jetzt langsam öffnete. Wenn er die Zufahrt gleich erreichte, brauchte er nicht anzuhalten. Hoffentlich war Johanna zum Tee bei der Nachbarin, so wie sie es vorhin angekündigt hatte, als er das Haus verließ. Er wollte sie jetzt nicht sehen.
Langsam schritt er die Treppen aus dem Keller nach oben. Es war alles so still. Das mochte er. Ein flüchtiger Blick ins Wohnzimmer bestätigte ihm, dass seine Frau in der Nachbarschaft weilte. Die Kälte im Raum ließ ihn frösteln. Er eilte zum Kamin und sah den Haufen verkohlten Papiers, das in der halb verlöschten Glut schwelte. Kleine Fetzen tanzten in die Höhe. Was hatte sie denn da wieder für Dummheiten angestellt? An ihrem Verstand zweifelte er in letzter Zeit immer häufiger. Schnell langte er nach einem der Holzscheite, die in dem grob geflochtenen Korb neben dem offenen Kamin immer bereitstanden. Zweimal am Tag schaffte sie im Herbst und Winter das Brennholz in diesem Behältnis vom Lagerplatz neben der Terrasse, wo es sauber geschichtet und trocken ruhte, ins Haus. Sie brauchte das Flackern des Feuers. Er konnte gut darauf verzichten, weil er meistens oben in seiner Bibliothek saß und die Hitze direkt davor ohnehin nur schwer aushielt.
Das Scheit war ihm sehr leicht vorgekommen. Der Händler, der jedes Jahr mehr dafür verlangte, konnte ihm viel erzählen, aber Eiche oder Buche konnte das unmöglich sein. Er warf noch zwei weitere hinterher und beobachtete, was mit dem verbrannten Papier passierte, das der Erdanziehung nicht mehr gehorchte. Weitere schwarze Schnipsel erhoben sich und folgten den anderen in das rußige Schwarz des Schornsteins. Die Flammen zumindest hatte er gerettet. Sie loderten gelb in die Höhe. Den Dreck auf den Fliesen vor dem Kamin konnte sie nachher selbst wegmachen.
Als er sich aufrichtete, registrierte er, dass sie die albernen Rohrkolben entsorgt hatte. Er atmete erleichtert durch. Nach der Aufregung vorhin und der Angst, die ihn aus dem Haus getrieben hatte, spürte er jetzt, wie sich Entspannung wärmend in ihm ausbreitete. Ein kaum vernehmbares Tropfen fand den Weg in seine Ohren, unterbrochen von kurzen Pausen. Sein Blick wanderte suchend über die Zimmerdecke. Vor ein paar Jahren war oben im Bad ein Rohr geplatzt. Das musste er nicht schon wieder haben. Den Aufwand, die Unruhe und vor allem nicht die Kosten, die damit einhergingen. Der nächste Tropfen wies ihm den Weg. Aus dem Flügel fiel er auf den Marmor und landete in einer Lache, die sich dort ausdehnte. Zorn stieg in ihm auf, und er ballte die Hände zu Fäusten.