Er fühlte sich befreit von aller Last – seit dem Moment, als er die drei Polizisten aus seinem Hof herauskommen sah. Er hatte sie auch auf dem Weg hinein beobachtet. Aber da war noch nicht klar gewesen, ob sie das alles auch verstanden. Auf dem Fahrersitz seines Autos war er tief nach unten gerutscht, aber sie hätten auch so keine Notiz von ihm genommen. Aus ihren Augen sprach die Panik. Sie wussten also, dass sie sich beeilen mussten. Egal, ob es den Arzt erwischte oder sie noch rechtzeitig kamen, sie würden die notwendigen Fragen stellen und die Verbindungen erkennen.
Er schloss die Augen und lauschte den Geräuschen um ihn herum. Über ihm heulten die Turbinen eines Flugzeugs im Landeanflug auf. Wie lange brauchte es wohl von hier, bis die Reifen quietschend auf dem Asphalt des Frankfurter Flughafens aufsetzten? Vielleicht zehn Minuten, nicht wesentlich länger, sonst würden sie nicht so tief fliegen. Manchmal fuhren sie die Fahrwerke schon aus, so als ob sie den Moment kaum erwarten konnten, in dem sie wieder festen Boden gewannen.
Er verlor sich in dem Gedanken. Der Moment des Sterbens musste sich so anfühlen. Ein sanftes Sich-Lösen und -Aufschwingen. Ein Blick zurück auf alles, was zu schwer war. Auf den Ballast, den er abgestreift hatte, um die Leichtigkeit zu besitzen, mit ein paar wenigen mühelosen Flügelschlägen in die Höhe zu kommen. Getrost konnte alles andere unten bleiben; es wurde mit jedem Flügelschlag kleiner und unbedeutender, bis es sich gänzlich auflöste, weil er schon viel zu weit davon entfernt war.
Rainer Veith öffnete die Augen, weil er wusste, dass er nun bald so weit war. Er spülte die letzten Tabletten mit einem ordentlichen Schluck Tresterbrand hinunter. Die ersten wirkten bereits. Alles um ihn herum fühlte sich weich und wie in Watte gepackt an. Gedämpft nahm er die wenigen Geräusche wahr, die zu ihm in den Wagen drangen. Entfernte Stimmen, das Kreischen einer Möwe über ihm. Schon legte sich der nächste dünne Schleier über ihn. Er spürte die verschiedenen Schichten. Jede einzelne so leicht, dass sie kaum wahrzunehmen war. Ein Hauch, der ihn nicht drückte, sich aber behutsam auf die ihn bereits bedeckenden wärmenden Schichten herabsenkte. Es durften weitere kommen.
Vorsichtig tastete er nach der Handbremse und zog sie ein klein wenig an. Die Verriegelung löste sich. Danach drückte er sie nach unten und spürte, wie sich sein Wagen in Bewegung setzte. Die tiefen Rillen im Beton der Nato-Rampe ließen das Auto auf seiner lautlosen Fahrt erzittern. Fünfzig Meter führte sie sachte hinab, bis in den Strom und noch weiter. Im Verteidigungsfall sollten die Rampen den Transport von Panzern und anderen Fahrzeugen mit Hilfe von Amphibienfahrzeugen oder Fähren über den Rhein ermöglichen.
Das Wasser bremste gleich darauf seine letzte Fahrt. Die Wogen empfingen ihn freudig. Die Strömung des Flusses nahm ihn auf und drehte den Wagen. Er wankte leicht und trieb noch einen Moment voran, dann senkte sich die schwere Schnauze. Es gurgelte. Das Sprudeln des eindringenden Wassers konnte er hören und spüren. Es knackte um ihn herum.
Eine Fontäne schoss durch das offen stehende Handschuhfach, in dem er zur Sicherheit noch zwei weitere Päckchen Tabletten aufbewahrte. Die brauchte er jetzt nicht mehr. Er schloss die Augen und freute sich auf den Moment, in dem ihn seine Mutter wieder in die Arme schließen würde.