Louisiana und Raymie saßen auf dem Rücksitz des Wagens der Clarkes.
Sie waren dabei, aus Dodge City zu verschwinden.
Laut Louisianas Großmutter befanden sich die Behörden gerade auf dem Kriegspfad und es wäre sicher eine gute Idee, wenn sich Louisiana ›weit, ganz weit weg von dem Elefante Anwesen‹ aufhalten würde.
Also würde Louisiana die Nacht bei Raymie verbringen.
Das war der Plan von Louisianas Großmutter gewesen.
Um Mitternacht würde Beverly Tapinski zu Raymies Haus kommen und die drei, die Glorreichen Drei, würden in Gebäude 10 einbrechen und eine tote Katze befreien.
Das war der Plan der Glorreichen Drei.
Es war ein Plan, den sie auf die Schnelle ausgebrütet hatten, nachdem Louisianas Großmutter den Schauplatz verlassen hatte.
Es war genau die Art Plan, die Mrs Borkowski gefallen hätte. Sie hätte gelacht. Sie hätte all ihre Zähne gezeigt und dann hätte sie gesagt: »Phhhtttt, ich wünsche euch viel Glück.«
»War das nicht aufregend«, sagte Louisiana, als sie von Ida Nees Haus abfuhren. »Ich wüsste zu gern, wer Ida Nees Stab gestohlen hat.«
Sie stieß Raymie in die Rippen.
»Es war nur ein Sturm im Wasserglas«, sagte Raymies Mutter. »Nichts weiter. Wer um alles in der Welt ruft die Polizei, bloß weil ein Stab vermisst wird?«
»Ich bin so aufgeregt, weil ich die Nacht in Ihrem Haus verbringen darf«, sagte Louisiana. »Wird es etwas zu essen geben, Mrs Nightingale?«
Nach einer Weile sagte Raymies Mutter: »Zu wem sprichst du?«
»Ich spreche mit Ihnen, Mrs Nightingale.«
»Ich heiße Mrs Clarke.«
»Oh, das wusste ich nicht«, sagte Louisiana. »Ich dachte, sie hätten den gleichen Nachnamen wie Raymie.«
»Ich heiße auch Clarke«, sagte Raymie.
»Wirklich? Ich dachte, du wärst Raymie Nightingale. Wie in dem Buch.«
»Nein, ich bin Raymie Clarke.«
Wie kam Louisiana nur auf solche seltsamen Ideen? Und wie wäre es wohl, Raymie Nightingale zu sein? Wie wäre es, auf einem hellen und leuchtenden Pfad zu gehen und eine Laterne über dem Kopf zu tragen?
»Okay, ist auch egal«, sagte Louisiana. »Wird es Abendbrot geben, Mrs Clarke?«
»Natürlich wird es was zum Abendessen geben.«
»Ach du meine Güte«, sagte Louisiana. »Und was wird es geben?«
»Spaghetti.«
»Wie wär’s mit Hackbraten?«, schlug Louisiana vor. »Ich liebe Hackbraten.«
Raymies Mutter seufzte. »Ich denke mal, ich kann auch einen Hackbraten machen.«
Raymie schaute aus dem Fenster. Irgendwo würde ihr Vater jetzt auch gerade beim Abendessen sein. Sie stellte sich vor, wie er in einer Nische des Restaurants mit Lee Ann Dickerson saß, eine Speisekarte in der Hand hielt und eine Zigarette rauchte. Sie sah, wie Lee Ann Dickerson ihre Hand ausstreckte und den Arm ihres Vaters berührte. Sie sah, wie Rauchkringel hoch zur Decke stiegen, und plötzlich wusste sie es.
Ihr Vater kam nicht zurück.
Er würde niemals zurückkommen.
»Uff«, machte Raymie. Ihre Seele schrummpfte, sie fühlte sich an, als habe sie ihr jemand in den Magen gestopft.
»Hast du was gesagt?«, fragte Louisiana.
»Nichts«, sagte Raymie.
»Vielleicht können wir nach dem Abendessen aus dem Nightingale-Buch vorlesen«, sagte Louisiana. »Granny liest mir jeden Abend vor.«
»Na klar«, sagte Raymie.
Beim Essen sah Raymies Mutter erstaunt dabei zu, wie Louisiana drei Stück Hackbraten verschlang und sämtliche grünen Bohnen. Die drei saßen am Esstisch unter dem kleinen Leuchter.
Louisiana sagte: »Wir haben auch einen Leuchter. Aber wir können ihn zur Zeit nicht anmachen wegen dieser Stromgeschichte. Es ist nett, etwas Licht zu haben. Ich mag auch den Tisch. Es ist ein sehr großer Tisch.«
»Ja«, sagte Raymies Mutter. »Das ist er.«
»Es passen sehr viele Leute um diesen Tisch«, fügte Louisiana hinzu.
»Vermutlich«, sagte Raymies Mutter.
Raymie konnte hören, wie in der Küche die Uhr in Form einer Sonne tickte, langsam und bedacht.
»Deine Mutter kann sehr gut kochen«, sagte Louisiana, als sie nach dem Essen in Raymies Zimmer waren und die Tür geschlossen hatten. »Aber sie redet nicht sehr viel, oder?«
»Nein«, sagte Raymie. »Ich glaube nicht.«
Sie schaute hoch zur Deckenlampe, die hoffnungsvoll von einer Motte umschwirrt wurde.
»Hat dein Vater dir abends einen Gutenachtkuss gegeben, als er noch hier lebte?«, fragte Louisiana.
»Manchmal«, sagte Raymie. Sie wollte nicht weiter über ihren Vater nachdenken. Sie wollte sich nicht daran erinnern, wie er sich vorbeugte und ihre Stirn küsste oder seine Hand auf ihre Schulter legte. Sie wollte sich nicht daran erinnern, wie er sie anlächelte.
»Granny gibt mir immer einen Gutenachtkuss«, sagte Louisiana. »Und dann gibt sie mir Küsse von denen, die nicht da sind. Also von meiner Mutter, meinem Vater und meinem Großvater. Ich bekomme vier Küsse.«
Louisiana seufzte. Sie schaute aus dem Fenster. »Im Heim gibt es niemanden, der dir einen Gutenachtkuss gibt, das hab ich zumindest gehört. Wollen wir jetzt aus dem Florence-Nightingale-Buch vorlesen?«
»In Ordnung«, sagte Raymie.
»Ich zuerst«, sagte Louisiana. Sie nahm das Buch, schlug es in der Mitte auf und las einen einzigen Satz.
»Florence war einsam.«
Dann schloss sie das Buch, öffnete es wieder und las eine Zeile auf Seite drei.
»Florence wollte helfen.«
Dann schlug sie das Buch wieder zu.
»Solltest du nicht besser von vorn anfangen?«, fragte Raymie.
»Warum?«, fragte Louisiana. »So ist es doch viel interessanter.«
Sie schlug das Buch wieder auf und las den Satz: »Florence hielt die Laterne hoch.«
Draußen vor Raymies Fenster war die Welt dunkel.
»Wenn du ein Buch so liest, dann weißt du nie, was als Nächstes geschieht«, sagte Louisiana. »Und das hält dich auf Zack. Das sagt Granny immer. Und es ist wichtig, auf Zack zu sein, weil man nie weiß, was als Nächstes auf dieser Welt passiert.«