KAPITEL DREI

Levi atmete den satten Geruch von neuem Leder ein, als er sich auf dem dick gepolsterten Sitz von Vinnies neuem Auto zurücklehnte, einem Mercedes Maybach S580. Als er durchs Beifahrerfenster hinausschaute, erkannte er auf Anhieb, wo sie sich befanden – südöstlich von Lancaster, nachdem sie von der Leaman Road auf einen unbefestigten Feldweg abgebogen waren. Als Kind war er diese ländliche Straße unzählige Male entlanggegangen. Levi schaute nach links zu seinem langjährigen Freund, mittlerweile Oberhaupt der Familie Bianchi. »Gut möglich, dass sich gerade das erste Mal so ein Mercedes ins Hinterland der Amischen verirrt.«

Vinnie fuhr mit dem Finger über die Mittelkonsole und grinste. »Deine Leute sprechen Deutsch, und wir sitzen in einem deutschen Auto, alles passt das schon. Und ich kann ja nicht in irgendeiner Schrottkarre auftauchen. Immerhin hab ich einen Ruf zu wahren.«

»Verwöhn nur die Kinder nicht zu sehr.« Lächelnd dachte Levi an das letzte Mal zurück, als Vinnie ihn zur Farm begleitet hatte. Ohne sein Wissen hatte der Mann eine Fünf-Kilo-Tüte Bonbons mitgebracht. Bis Levis Mutter mitbekommen hatte, was vor sich ging, hatte der Mafiaboss bereits alle nicht nur an Levis Kinder verteilt, sondern auch an andere, die zufällig vorbeigekommen waren. Schlagartig war Vinnie unheimlich beliebt bei der örtlichen Jugend geworden. »Reiß dich diesmal mit den Süßigkeiten zusammen, sonst liegt mir meine Mutter wieder ewig damit in den Ohren.«

Der Mafiaboss wischte Levis Bemerkung mit einer Handbewegung weg, als der Wagen einer schwarzen Pferdekutsche auswich, dem üblichen Fortbewegungsmittel in den von Amischen bewohnten Gebieten Pennsylvanias. »Hin und wieder was zum Naschen schadet nicht. Deine Kinder wachsen hier genauso richtig auf wie du. Mit Dreck unter den Fingernägeln.«

»Leute, wir kommen gleich zur Abzweigung.« Paulie sprach gerade laut genug, dass seine Stimme trotz des Geräuschs der Klimaanlage vom Mikrofon seines Ohrstöpsels erfasst wurde.

Vinnie warf einen Blick durch die Heckscheibe und beugte sich dann vor. »He, Paulie, was ist mit dem BMW? Ich seh ihn nicht.«

BMW? Levi drehte sich um und schaute ebenfalls durch die Heckscheibe. Soweit er sehen konnte, folgten ihnen nur zwei große Cadillacs mit den üblichen Männern fürs Grobe, die den Mafiaboss überallhin begleiteten.

Der Fahrer sah Vinnie im Innenspiegel an und lächelte. »Don Bianchi, Richie hat gefragt, ob er zum Tanken anhalten kann, bevor er den Wagen zustellt. Ich habe ihm grünes Licht dafür gegeben.«

Vinnie nickte. »Sorg nur dafür, dass er sich nicht verfährt.«

»Moment mal.« Levi drehte sich zu seinem langjährigen Freund und Boss zu. »Was meint er mit zustellen? Du willst doch nicht etwa Alicia ein Auto schenken, oder?«

»Pffft.« Vinnie gab einen abweisenden Laut von sich und schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Ich hab nur Süßigkeiten zum Verteilen dabei.«

Mit zu Schlitzen verengten Augen musterte Levi seinen Freund, der irgendetwas im Schilde führte, das wusste er. Aber er wusste auch, dass es keinen Sinn gehabt hätte, nachzubohren. Der Mann konnte stur wie ein Maultier sein, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte.

Das Auto bog in einen langen Feldweg ein, der zwischen zwei Feldern verlief. Auf einem wuchs Tabak, das andere lag für die Jahreszeit brach.

Levi bemerkte einen nagelneuen Bentley Continental, der vor der Scheune seiner Mutter parkte. Bei dem Anblick zuckte er zusammen.

Vinnie bemerkte das Auto. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht zeigte er in die Richtung. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass der nicht deiner Mutter gehört. Ist das der Wagen deiner Drachenlady?«

Levi entdeckte Lucy ein Stück entfernt in der Nähe des kleinen Schulhauses. Sie drehte sich in ihre Richtung. Und obwohl sie sich zu weit entfernt befand, um es zu sehen, spürte er, dass sie direkt zu ihnen starrte.

»Hab nicht damit gerechnet, dass Lucy hier sein würde.«

Paulie zog die Handbremse an, stieg aus und öffnete die Tür auf Vinnies Seite.

Vinnie knuffte Levi verspielt in die Schulter. »Versucht sie immer noch, dir ihr Brandzeichen aufzudrücken?«

Levi zuckte mit den Schultern. »Es ist kompliziert.«

»Kann ich mir vorstellen.« Der Mafiaboss lachte, als sie beide aus dem Auto stiegen.

Mehrere Kinder riefen mit hohen Stimmen »Daddy!« Ein Dutzend Mädchen im Alter von 12 bis 17 Jahren kam in Levis Richtung gerannt.

Er wäre beinah von den Beinen gerissen worden, als die Mädchen ihn erreichten, gegen ihn prallten und ihn in eine Gruppenumarmung zogen. Er hatte sie seit Monaten nicht mehr gesehen. Deshalb flossen ein paar Tränen, und es wurde viel und innig geherzt wie immer nach einer längeren Abwesenheit.

Die zwölf asiatischen Gesichter strahlten, während sie alle gleichzeitig plapperten und um seine Aufmerksamkeit buhlten.

Diese Mädchen bedeuteten Levi alles. Er hatte sie vor langer Zeit aus der Hölle des Lebens auf der Straße gerettet. Zum Glück konnten sich einige nicht mehr an ihre Zeit vor der Farm erinnern. Die anderen waren von ihren früheren Erlebnissen zwar gezeichnet, aber nicht gebrochen.

Aus der Sicht der Kinder waren sie völlig normale amische Mädchen, die auf dem Land lebten. Dass sie asiatischer Abstammung waren und einen Adoptivvater hatten, der als »Problemlöser« für eine Familie der New Yorker Mafia arbeitete, spielte keine Rolle.

Vinnie schlenderte mit einer Tüte voller zellophanverpackter Bonbons auf die Schar der Mädchen zu. Eine der Jüngsten rief »Onkel Vinnie!« und umarmte den Mafioso innig, der prompt begann, die Süßigkeiten zu verteilen.

»Mädchen!«, rief Levis Mutter auf Pennsylvania-Deutsch von der Veranda des Hauses, in dem er aufgewachsen war. »Helft mir, die Tische für unsere Gäste zu decken. Alicia, du kannst dich entspannen und es ruhig angehen lassen. Heute ist dein besonderer Tag.« Dann wedelte sie mahnend mit dem Finger in Levis Richtung: »Lazarus, sagt deinem Freund, dass es vor dem Abendessen keine Süßigkeiten gibt.«

Als die meisten Mädchen loseilten, um ihrer Adoptivgroßmutter zu helfen, beobachtete Levi schmunzelnd, wie seine fast 70-jährige Mutter die Schar ins Haus scheuchte. »Vinnie, wir sind noch keine drei Minuten hier, und schon bringst du mich in Schwierigkeiten.«

Der Mann klopfte ihm auf den Rücken. »Genau wie früher bei uns im Viertel.« Er wandte sich ab und ging zu dem über zwei Meter großen Paulie. Die beiden tuschelten miteinander.

Alicia, Levis Älteste, näherte sich ihm mit einem strahlenden Lächeln. »Du bist die Zahnspange los! Schatz, du siehst fantastisch aus.«

Tat sie wirklich. Levi konnte kaum fassen, wie reif und bodenständig sie wirkte, obwohl sie an diesem Tag erst 17 Jahre alt wurde. Er hatte sie noch als die tapfere Zehnjährige vor Augen, die er aus den Händen von Kindersexhändlern gerettet hatte.

Obwohl sie die bescheidene Kleidung eines typisch amischen Mädchens trug und ihr langes schwarzes Haar unter einer weißen Gebetsmütze steckte, ließ sich nicht übersehen, zu was für einer Schönheit sie herangewachsen war. Sie war groß, fast 1,80 Meter, und sie besaß die markanten Wangenknochen und fein geschnittenen Züge eines Models.

Jungs in ihrem Alter würde sie reihenweise den Kopf verdrehen.

Alicia umarmte Levi innig und flüsterte: »Ahbah , du hast mir mehr gefehlt, als du dir vorstellen kannst. Ich glaube, ich habe eine Entscheidung über meine Ausbildung getroffen.«

Ahbah war das kantonesische Wort für Vater. Alicia gehörte zu jenen, die nichts von ihrer Vergangenheit vergessen hatten. In vielerlei Hinsicht war das Mädchen erstaunlich. Vom ersten Moment an hatte sie wie selbstverständlich den Jüngeren geholfen und war immer für sie da gewesen, wenn er es nicht konnte. Levi hielt sie auf Armeslänge vor sich und fragte hoffnungsvoll: »Hast du schon von Princeton gehört?«

Alicia legte die Stirn in Falten. »Nein. Das nervt irgendwie. Dabei hab ich sogar dort angerufen. Ich dachte mir, es müsste irgendwas schiefgegangen sein, weil ich gar keinen Brief von dort bekommen habe, nicht mal eine Absage. Nur konnte mir niemand bei der Zulassungsstelle eine klare Antwort geben. Die gute Nachricht ist, dass man mich in Stanford angenommen hat. Das ist ja auch eine wirklich gute Uni.« Alicia ließ den Kopf leicht sinken und fügte in besorgtem Ton hinzu: »Wirklich gut, aber auch irre teuer. Fast 80.000 Dollar im Jahr, und ich hab keine Stipendien bekommen. Wenn das zu ...«

»Moment, junge Dame.« Vinnie kam herüber und bot ihr ein in Zellophan eingewickeltes Bonbon an. Als sie es entgegennahm, fragte er: »Hast du nicht gesagt, du willst nach Princeton?«

Alicia schaute auf und antwortete sachlich: »Schon, aber man hat mich nicht angenommen, also muss ich ...«

»Bist du dir sicher?« Vinnie holte einen Umschlag aus einer Innentasche seines Jacketts hervor und übergab es ihr. »Ich hatte ein Gespräch mit einem Freund, der zufällig mit der Uni zu tun hat. Dekan von irgendwas. Oder so ähnlich. Jedenfalls hab ich ihm alles über dich und darüber erzählt, was für ein kluger Kopf du bist. Und da ich ja wusste, dass ich dich an deinem Geburtstag sehen würde, habe ich ihn gefragt« – der Mafia-Boss lächelte – »ob er mal nach deiner Bewerbung sehen könnte. Dabei hat sich herausgestellt, dass sie wohl irgendwie falsch abgelegt wurde.« Er deutete auf den Umschlag, den mittlerweile Alicia in den Händen hielt. »Nur zu. Schau nach, was drinsteht.«

Levi verspürte einen Anflug von brüderlicher Zuneigung für seinen langjährigen Freund. Obwohl er Alicias Wunsch, in Princeton zu studieren, bei Vinnie nur beiläufig erwähnt hatte, schien der Pate ein paar Fäden gezogen zu haben.

Als sich Lucy der Gruppe näherte, heftete sich Levis Blick unwillkürlich auf die statuenhafte Asiatin, mit der er seit ein paar Jahren eine lose Beziehung unterhielt. Wie immer trug sie ein figurbetontes Kleid. Aus Erfahrung wusste er, dass sie darunter nichts anhatte. Sie zwinkerte ihm zu, bevor sie die Aufmerksamkeit auf Alicia richtete.

Die Hände des Mädchens zitterten. »Das ist von der Zulassungsstelle.«

Behutsam öffnete Alicia den Umschlag, zog mehrere Zettel heraus und faltete das Anschreiben auseinander. Ihr Blick raste über das Papier. Dabei rutschte ihr ein Laut heraus, der sich wie das Fiepen eines überraschten Kükens anhörte.

»Und?« Levi beugte sich näher. »Was steht da?«

Mit wässrigen Augen hielt sie den Brief hoch und las mit zittriger Stimme vor. »Herzlichen Glückwunsch! Der Ausschuss hat Ihre Bewerbung geprüft, und wir freuen uns, Ihnen die Aufnahme in den Jahrgang 2023 anbieten zu können. Princeton hat in diesem Jahr eine Rekordzahl an Bewerbern, aus denen Ihre akademischen Leistungen, Ihr außerschulisches Engagement und Ihre persönlichen Eigenschaften klar hervorstechen. Der Ausschuss war beeindruckt davon, was Sie bereits erreicht haben. Vielen Dank für Ihre Bewerbung. Wir freuen uns darauf, Sie aufnehmen zu können.«

Lächelnd warf Levi einen Blick zu Vinnie, der ebenfalls von einem Ohr zum anderen grinste. »Das ist ja spitze, Liebes ...«

»Aber Ahbah ... « In Alicias Augen glitzerten Tränen, als sie den Rest der Unterlagen von der Zulassungsstelle überflog. »Ich hab wahrscheinlich kein Stipendium bekommen, also wäre das unheimlich teuer.« Mit vor Emotionen bebendem Kinn schaute sie zu Levi auf, bevor sie den Blick auf die Füße senkte. »Es ist zu ...«

»Liebes, das ist schon in Ordnung.« Levi trat vor und umarmte seine älteste Tochter. Die Mädchen wussten nicht, womit er sich wirklich den Lebensunterhalt verdiente. Für sie und seine Mutter war er ein Geschäftsmann, der sich um Angelegenheiten im Zusammenhang mit Vinnies Import- und Exportgeschäft kümmerte. »Kleines, ich habe Vorsorge fürs College für euch alle getroffen. Zerbrich dir also darüber nicht den Kopf. Es ist alles abgedeckt.«

»Und das sollte auch helfen.« Lucy lächelte, als sie Alicia einen roten Umschlag überreichte. Es entsprach der chinesischen Kultur, Geldgeschenke in einen roten Umschlag zu stecken. »Das sollte die Ausgaben für einen Teil deiner Bücher decken.«

Alicia küsste Levi auf die Wange und nahm den dicken roten Umschlag mit zittriger Hand entgegen. »Ich glaub das einfach nicht. Ihr tut alle viel zu viel.«

Lucy gestikulierte ungeduldig. »Jetzt mach schon auf.«

Alicia öffnete den Umschlag. Ihre Augen wurden tellergroß. Levi erspähte darin zwei banderolierte Bündel mit Hundertdollarscheinen. Sie sah Levi an.

»He!« Lucy wechselte abrupt zu Kantonesisch. »Dafür schaust du nicht deinen Vater an und fragst ihn um Erlaubnis. Das ist mein Geschenk an dich – dabei hat er nichts mitzureden.«

Levi grinste und nickte Alicia zu, bevor er Lucy ansah. »Vor einem solchen Geschenk solltest du echt mit mir reden.« Er richtete den Blick wieder auf Alicia und tätschelte dem Mädchen die Wange. »Gehen wir rein und sehen wir nach deiner Großmutter ...«

»Moment, wir sind noch nicht fertig.« Vinnie unterbrach ihn mit einem breiten Grinsen und stupste Levi verspielt mit dem Ellbogen in die Rippen. »Dein Vater hat noch ein Geschenk, das er zu erwähnen vergessen hat.«

Levi drehte sich zu dem Mafiaboss zu und starrte ihn verständnislos an. Er hatte keine Ahnung, wovon sein Freund redete.

Vinnie gab Alicia ein Zeichen. »Komm mit, Liebes. Ich habe es einen meiner Jungs herbringen lassen.«

»Was herbringen?«, fragte Alicia, als sie alle in den Einfahrtsbereich der Farm gingen, wo der Rest von Vinnies Mannschaft geparkt hatte.

Levi heftete den Blick auf einen der Mafiosi, der eifrig einen Seitenspiegel polierte, und plötzlich wusste er, was Vinnie vorhatte. Levi gefiel es zwar nicht, die Kinder mit materiellen Dingen zu verwöhnen, aber an diesem Tag hatte das Oberhaupt der Familie Bianchi andere Pläne, gegen die sich unter den gegebenen Umständen wenig unternehmen ließ.

Vinnie legte Alicia den Arm um die Schultern und wandte sich in verschwörerischem Ton an sie. »Dein Vater ist bescheiden, aber er arbeitet für mich an einigen großen Projekten und hat dafür ein paar stattliche Prämien kassiert. Er wollte sichergehen, dass du was Zuverlässiges hast, wenn du zur Uni fährst.« Der Mafiaboss hob den Arm und zeigte auf das glänzende neue Cabrio, das hinter zwei Cadillacs stand. »Was hältst du davon?«

Alicia schnappte nach Luft, als sie sich dem schillernd orangefarbenen BMW näherte. Im ländlichen Lancaster wirkte das Auto völlig fehl am Platz.

Vinnie reichte Levi verstohlen einen Satz Autoschlüssel und zwinkerte ihm zu.

Er knurrte dem Paten leise entgegen, doch der Mann lachte nur. »Coole Farbe hast du ausgesucht, Levi.« Vinnie sagte es so laut, dass es alle hörten. »Ist das Sunset Orange?«

Lucy stieß einen anerkennenden Pfiff aus und tätschelte Levis Arm. »So was sollte eine junge Dame fahren, die an einer Eliteuniversität studiert. Beeindruckend, dass ihr knausriger Vater tatsächlich sein verstaubtes Portemonnaie für so ’ne schicke Karre geöffnet hat.«

Alicia wandte sich vom Auto ab und sah Levi an. Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Das verdiene ich nicht.« Sie schluchzte.

In dem Moment wusste er, dass es in Ordnung wäre, sie das Fahrzeug behalten zu lassen. Levi passte sich schnell an die Situation an, warf Alicia die Schlüssel zu und sagte: »Komm, Kleines. Beweis mir, dass du das Ding auch fahren kannst.«

Als Alicia zur Fahrerseite eilte, drückte Levi seinem Freund und Boss auf jede Wange einen Kuss und klopfte ihm auf die Schulter.

Worte brauchte es zwischen ihnen nicht.

»Sie sind nur einmal in dem Alter.« Lächelnd deutete Vinnie auf den Wagen. »Fahrt und amüsiert euch ein bisschen.«

»Lazarus!«, rief Levis Mutter auf Pennsylvania-Deutsch von der Haustür herüber. »In zehn Minuten steht das Essen auf dem Tisch. Sag deinen Freunden, sie sollen sich waschen.«

Lucy gab Levi einen Klaps auf den Hintern und kündigte an: »Ich sage deiner Mutter, dass ihr rechtzeitig zum Essen zurück seid.«

Der Motor des BMW erwachte röhrend zum Leben. Levi eilte zur Beifahrerseite und stieg ein.

Seine gesamte Aufmerksamkeit galt seiner Ältesten, als sie den Gang einlegte und langsam auf den Feldweg rollte.

Ein Blick auf den Ausdruck unbändiger Freude in Alicias Gesicht rührte etwas in ihm. Er deutete mit der Hand in Richtung der Stadt. »Fahren wir nur nach Lancaster und wieder zurück. Deine Großmutter bringt uns glatt um, wenn wir zu spät kommen.«

Während Alicia langsam über die holprige Straße fuhr, schaute sie zu ihm. »Ahbah , ich bin jetzt 17. Findest du nicht, es ist an der Zeit, mir die Wahrheit zu sagen?«

Levi drehte sich auf dem Sitz zur Seite und musterte Alicias Profil, während sie sich wieder auf die Straße konzentrierte. »Die Wahrheit worüber?«

»Heißt Onkel Vinnie nicht mit Nachnamen Bianchi?«

»Ja«, bestätigte Levi nach kurzem Zögern. Er konnte sich nicht erinnern, den Kindern je Vinnies Nachnamen gesagt zu haben. »Warum fragst du?«

»Komm schon, ich bin nicht dumm. Onkel Vinnie ist gerade mit dir in einem Maybach angekommen. Kosten solche Autos nicht um die 200.000 Dollar? Und ich weiß seit Jahren, dass Lucy mal bei der Mafia oder zumindest mit einem Mafioso verheiratet war.«

»Langsam.« Levi runzelte die Stirn und spürte, wie sich Anspannung in ihm aufbaute. Mit einem solchen Gespräch hatte er nicht gerechnet. »Wer hat dir das erzählt?«

»Na, sie!« Alicia schwenkte abwiegelnd die Hand in seine Richtung. »Weißt du, Frauen reden halt miteinander.«

»Verstehe«, murmelte Levi, alles andere als begeistert darüber, wohin die Unterhaltung führte.

»Und ihr seid nicht verheiratet, aber ich weiß, dass ihr irgendwie zusammen seid.«

Insgeheim betete Levi, dass Lucy genug Verstand besaß, um wenigstens manches zwischen ihnen für sich zu behalten.

»Also, ich hab in der Bibliothek eine umgekehrte Bildersuche durchgeführt und herausgefunden, dass Vinnie das Oberhaupt der Familie Bianchi in New York ist.«

»Du hast was gemacht?« Levi hatte keine Ahnung, wie man im Internet nach Bildern suchte, schon gar nicht umgekehrt. »Egal, spielt keine Rolle. Vinnie ist ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann. Über Leute wie ihn kursieren immer schräge Gerüchte. Schatz, es gibt wirklich keinen Grund, dir Sorgen zu machen.«

Alicia lachte. »Ach, ich mache mir doch keine Sorgen. Ich hab mich nur gefragt, wie es möglich ist, dass ein Amischer wie du zur Mafia gehört.«

»Alicia!«, blaffte Levi. »So was darfst du nie laut aussprechen.«

»Also gehörst du wirklich zur Familie Bianchi?« Alicias Augen weiteten sich, und ihr Mund klappte auf, der Inbegriff einer verdatterten Miene.

Levi schüttelte den Kopf und sich zurück. »Ich habe euch Mädchen immer die Wahrheit gesagt und höre jetzt nicht damit auf. Ich bin echt gut darin, Probleme zu lösen. Und genau das mache ich. Übrigens, dieses Gespräch führen wir nur einmal und dann nie wieder. Verstanden?«

Alicia nickte.

»Ich kenne Vinnie seit fast 30 Jahren. Die Gerüchte über ihn in den Zeitungen sind Schrott, beachte sie gar nicht. Und was ich mache ... Also, ich hab ein paar Freunde, die sind ziemlich schillernde Persönlichkeiten ...«

»Ein paar habe ich ja kennengelernt. Sie sind alle Italiener, oder?«

»Nicht alle.« Levi schmunzelte. »Aber viele. Du bist ja schon bei mir in der Upper East Side gewesen. Da sind nicht viele Italiener. Aber Vinnie, ich und etliche seiner Leute kommen aus einem Teil von New York City, der sich Little Italy nennt. Abgesehen davon kennst du Denny, und der ist ungefähr so italienisch, wie du jüdisch bist. Aber egal. Ich kann dir nicht genau sagen, was ich tue, weil es manchmal geheim ist.«

Wieder wurden Alicias Augen groß. »Geheim? Meinst du Regierungsgeheimnisse?«

»Ja. Das ist alles, was ich dazu sagen kann.«

»Oh, super. Willst du damit sagen, mein Vater ist 007?«

»Ich will damit gar nichts sagen, aber man hat mich schon Merkwürdigeres genannt.« Levi lachte und deutete mit der Hand eine Umkehrbewegung an. »Lass uns zurückfahren. Sieht so aus, als hätte ich die Fahrstunden nicht umsonst bezahlt. Du hast das Auto nicht geschrottet, und wir sitzen in keinem Graben fest. Du, um auf das Studium zurückzukommen, interessierst du dich immer noch für Wissenschaft?«

»Das ist das Tolle an Princeton. Dort gibt’s eine neurowissenschaftliche Fakultät. Darauf will ich mich konzentrieren ...«

Aufgeregt erzählte sie weiter von der Universität, und Levi atmete erleichtert durch. Abgesehen davon, dass er sich der New Yorker Familie gegenüber zu Schweigen verpflichtet hatte, diente es Alicias Schutz, sie mit keinem Wissen über irgendetwas zu belasten. Und er log nicht ... so gut wie nie.

Levis Telefon vibrierte, und er tippte an seinen Ohrstöpsel. »Was gibt’s?«

»Levi, kannst du zu reden?«

Vinnie. Als Alicia zu ihm spähte, bedeutete er ihr, die Aufmerksamkeit auf der Straße zu lassen.

»Ja, ich habe den Ohrstöpsel drin.«

»Frankie hat grade angerufen. Es hat irgendeinen Tumult im Helmsley gegeben.«

Das Helmsley Arms war der Wolkenkratzer mit Luxuswohnungen der Familie Bianchi in der Park Avenue.

»Und bevor du dich aufregst – ich kümmere mich darum. Du bleibst hier und feierst mit deiner Tochter ihren Geburtstag und die gute Neuigkeit. Ich fahre mit den Jungs zurück.«

»Was ist passiert?«

»Man hat Jimmie Costanza vor dem Helmsley aus einem Auto geworfen. Anscheinend ist er übel zugerichtet. Ein paar der Männer haben ihn zur Untersuchung ins Mount Sinai gebracht. Die Täter haben ihm eine Botschaft ans Hemd geheftet. Auf Russisch. Sie suchen ›den Problemlöser‹ und kündigen an, dass sie wiederkommen.«

»Bist du sicher, dass ...«

»Bin ich. Du bleibst vorerst in Pennsylvania. Paulie startet gerade das Auto. Grüß deine Mutter von mir. Die Drachenlady hat gesagt, dass sie dich nach Hause bringt. Und noch mal, mach dir erst mal keine Sorgen. Morgen ist ein neuer Tag.«

»Okay, aber offensichtlich suchten die nach ...«

»Levi, ich werd mich bemühen, dir etwas von ihnen übrig zu lassen. Ich steige jetzt ins Auto. Komm hoch in meine Wohnung, wenn du zurück bist, dann besprechen wir den Rest.«

Damit war die Leitung tot. Keine 30 Sekunden später raste der große Maybach in die entgegengesetzte Richtung an ihnen vorbei, gefolgt von den beiden Cadillacs.

»Wohin fahren sie?«, fragte Alicia, als sie zur Farm der Yoders einbog.

Levi stellte sich Jimmys misshandelten Körper auf einer Transportliege vor und ballte die Hände so krampfhaft zu Fäusten, dass die Knöchel knackten. »In der Stadt ist etwas passiert, deshalb muss Vinnie zurück.«

Alicia zog eine Augenbraue hoch, als sie einparkte und Levi ansah.

Lächelnd beugte und streckte er abwechselnd die Finger. »Gehen wir rein, bevor Ma aus der Haut fährt.«