Levi stieg im obersten Stockwerk des Helmsley aus dem Aufzug. Die frisch polierte Holztäfelung im Raum schimmerte in warmen Tönen. Zwei muskelbepackte Mafiosi saßen zu beiden Seiten der Doppeltür, die zu Vinnies Salon im Penthouse führte. »Luca, Giuseppe, was macht ihr zwei Hornochsen denn noch hier oben?«
Beide standen von ihren Stühlen auf, als sich Levi näherte. Luca zuckte mit den Schultern. »Seit dem Vorfall heute mit Jimmie will Frankie kein Risiko eingehen und uns für alles gewappnet haben. Er hat die Sicherheitsmannschaft verdoppelt und bis auf Weiteres rund um die Uhr auf dem Posten. Ich glaube, wir werden um Mitternacht abgelöst.«
Giuseppe, der kleinere der beiden, ergriff mit seinem starken italienischen Akzent das Wort. »Der Don erwartet dich.« Er rieb sich die geschwollene Wange, an der Levi bei einem ihrer Übungskämpfe einen blauen Fleck hinterlassen hatte. Dann bekreuzigte er sich. »Mamma mia , dieser pezza di merda wird sich wünschen, er wäre nie geboren worden, sobald du ihn gefunden hast.«
Levi trat mit verschmitzter Miene auf Giuseppe zu, tätschelte ihm behutsam die geschwollene Wange und sagte auf Italienisch: »Wenn ich ihn finde, unterhalten er und ich uns über die Zukunft seiner Seele. Verlass dich drauf.«
Ein Grinsen breitete sich im Gesicht des bulligen Mannes aus, dann öffneten die beiden Wächter die Doppeltür. Die warmen Klänge einer Oper umfingen Levi, als er den riesigen, verschwenderisch eingerichteten Raum betrat.
Die Musik verstummte fast sofort, als sich Vinnie aus einem gepolsterten Sessel neben dem angezündeten Kamin erhob und den Wachleuten ein Zeichen gab. Sie schlossen die Türen hinter Levi, der den geschmackvoll eingerichteten Salon durchquerte.
Der Raum diente Vinnie zugleich als Arbeitszimmer und eine Art Lobby, indem er die Wohnräume seiner Familie vom Eingangsbereich im Penthouse trennte. Die Einrichtung bestand aus kunstvoll geschnitzten Holzmöbeln, wunderschönen Gemälden und einer Marmorstatue der Venus von Milo in Museumsqualität.
Der Statue hatte Vinnie einen Filzhut aufgesetzt, den er zunehmend öfter trug, seit sein Haaransatz allmählich zurückwich.
Vinnie legte einen Finger an die Lippen und zeigte zu seinem Schreibtisch.
Levi fiel ein schwarzer, pyramidenförmiger Gegenstand aus Stein ins Auge. Oben daran leuchtete eine rote LED. Das Objekt sah wie ein Zierstück aus, doch er wusste, dass es sich um etwas anderes handelte. Er nickte, holte sein Handy heraus und hielt die Einschalttaste mehrere Sekunden lang gedrückt, um das Gerät vollständig auszuschalten.
Vinnie ging zu einer hinter dem Schreibtisch in die Wand eingelassenen Minibar und füllte sein Kristallglas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Dann drückte er den Hebel eines großen Metallkanisters – eines altmodischen Wassersprudlers, der mit CO2 -Patronen betrieben wurde. Ein lautes Zischen ertönte, und Vinnie schenkte für Levi frisch zubereitetes Selters in ein hohes Glas ein.
Das rote Licht an der Pyramide wechselte zu Grün. Damit wurde angezeigt, dass in der Umgebung keinerlei Signale mehr empfangen wurden. Levi steckte das ausgeschaltete Telefon zurück in die Tasche.
Vinnie reichte ihm sein Selters, schaute zu der Pyramide und nickte knapp. »Dein Kumpel, dieser Denny, baut cooles Zeug. Er ist doch noch im Geschäft, oder?«
Denny hatte die Sicherheitssysteme im Gebäude auf Vordermann gebracht. Auch die Pyramide stammte von dem Elektronikgenie.
»Klar. Brauchst du was?« Sie schlenderten zum Kamin und ließen sich auf einander zugewandten, dick gepolsterten Ledersesseln nieder. Levi balancierte sein Selters auf der Armlehne.
Vinnie kramte etwas aus der Hosentasche, beugte sich vor und reichte Levi einen Gegenstand, der wie ein USB-Stick aussah. »Das hat mir Frankie für dich gegeben. Auf dem Stick ist eine Kopie der Überwachungsaufnahmen von dem Vorfall vor dem Gebäude. Frankie und ich haben uns das Video genau angesehen. Irgendjemand hat Jimmie aus einem Lincoln SUV direkt vor unserer Haustür in die Gosse geworfen. Wir konnten weder das Kennzeichen noch sonst irgendwas Nützliches erkennen. Deshalb hab ich mich gefragt, ob vielleicht dein Kumpel aus dem Video etwas rausholen kann, das uns entgeht.«
Levi runzelte die Stirn, trank einen ausgiebigen Schluck Selters und beugte sich vor. »Ich rede mit ihm. Mal sehen, was er tun kann.«
»Wann?«
»Also, ich hatte vor, mich morgen mit Denny zu treffen. Vorher wollte ich noch im Mount Sinai vorbeischauen und Jimmie besuchen ...«
Vinnie winkte ab und verzog die Lippen. »Ich war heute dort. Den Krankenhausbesuch kannst du dir vorerst sparen. Jimmie liegt im Koma. Er würde nicht mitkriegen, ob du da bist oder nicht. Scheiße, die Rockettes könnten in seinem Zimmer tanzen und die Titten vor seinem Gesicht hüpfen lassen, nicht mal davon würde er was merken. Die Ärzte schätzen die Chancen, dass er wieder ganz gesund wird, auf fifty-fifty. Blutungen im Gehirn. Die Schwellung ist zwar nicht allzu schlimm, trotzdem liegt er auf der Intensivstation.« Der Pate deutete mit dem Zeigefinger auf den USB-Stick in Levis Hand. »Sieh zu, ob dein Kumpel aus dem Material da drauf was machen kann und uns einen Namen liefert, dem wir einen Besuch abstatten können.«
»Hast du zufällig den Zettel mit der Botschaft zur Hand, den sie an Jimmie angebracht haben? Vielleicht kann Denny davon Fingerabdrücke nehmen.«
»Hab ich tatsächlich.« Vinnie erhob sich aus dem Sessel und ging zu seinem Schreibtisch. »Leider hatten ein paar der Jungs die Griffel auf dem Zettel. Also keine Ahnung, ob Denny noch was damit anfangen kann.« Er ergriff einen Umschlag und reichte ihn Levi. »Der Zettel ist da drin. Eigentlich wollte ich einen unserer Leute nach Fingerabdrücken darauf suchen lassen, aber wenn dein Kumpel es kann, dann nur zu.«
Levi steckte den Umschlag in die Innentasche seines Jacketts und lehnte sich auf dem Sessel zurück. Er spürte, wie Wut in ihm aufstieg. Wer immer das getan hatte, musste gewusst haben, dass er damit in ein Hornissennest stechen würde. Normalerweise reichte es schon, einem Vollmitglied zu widersprechen, um sich eine Tracht Prügel einzuhandeln. Einen Mafioso der Cosa Nostra zu schlagen, war praktisch undenkbar. Dafür würde man im besten Fall von einem Schlägertrupp besucht, der einem genüsslich ein paar Knochen brechen würde. Wer auch immer der Täter sein mochte, war so gut wie tot.
»Vinnie, ich rufe Denny sofort an und sehe zu, was wir tun können. Falls er nicht helfen kann, soll ich dann versuchen, ein paar andere Fäden zu ziehen?«
Der Don legte den Kopf schief. »Was meinst du damit?«
»Na ja, das Outfit könnte ...«
»Nein.« Vinnie schüttelte den Kopf und grinste. »Ich weiß, die Sache mit dem Outfit ist neu für dich, aber glaub mir, das ist nichts für sie. Vergiss nicht, dass diese Leute ziemlich empfindlich in Hinblick darauf sind, was wir so machen.« Er hob einen Finger und trank einen ausgiebigen Schluck von seinem Amaretto.
Levi hatte bis vor kurzem nicht gewusst, dass Vinnie bereits vor etlichen Jahren vom Outfit angeworben worden war. Schon damals, als noch Vinnies Vater den Familienbetrieb geleitet hatte. Und obwohl Vinnie nicht mehr viel für die Geheimorganisation tat, gehörte er immer noch der ungewöhnlichen Gruppe ihrer außenstehenden Mitarbeiter an. Mittlerweile wusste Levi, dass Vinnie bei Levis Rekrutierung die Hand mit im Spiel gehabt hatte.
Sein Freund fuhr fort. »Wenn’s bei der Sache nicht um etwas geht, das legitime Ermittlungen rechtfertigt und nichts mit uns zu tun hat, sollten sie besser nichts davon erfahren. Fällt dir irgendein Grund ein, warum es die Russen auf dich abgesehen haben könnten?«
Levi schüttelte den Kopf, dann hielt er inne. »Warte, kurz bevor ich zurückgekommen und wieder ins Geschäft eingestiegen bin, haben mich diese Russen damals im Knast angegriffen.«
»War das nicht abgekartet?«
»War es, und ich bin mir auch ziemlich sicher, dass der Typ, der sie auf mich angesetzt hat, inzwischen tot ist.«
»Stimmt, ich erinnere mich daran. Du hast damals im Gefängnis die ganze Truppe deiner Angreifer aufgemischt.« Vinnie schmunzelte und deutete mit seinem Drink auf Levi. »Die haben nicht mit einem Kung-Fu-Dämon gerechnet, als sie dir einen Besuch abstatten wollten. Vielleicht hast du dir damit Feinde gemacht, von denen du nicht mal weißt. Aber das ist unsere eigene Schmutzwäsche. Halt das Outfit da raus.«
»Na ja, die Botschaft besagt, dass sie nach dem ›Problemlöser‹ suchen. Klingt also eher nach meiner Schmutzwäsche als nach deiner.«
Vinnie erhob sein fast leeres Glas, und sie stießen miteinander an. »Du gehörst zur Familie. Welches Problem diese Russen mit dir haben, sie haben es mit uns allen.« Er deutete zum Eingang und sagte: »Geh und sieh zu, was du mit deinem Freund herausfinden kannst. Danach schauen wir weiter.«
Levi warf einen Blick auf die Armbanduhr. Kurz nach Mitternacht. Denny würde wach sein. Immerhin betrieb er hauptberuflich eine Bar, die erst um drei Uhr morgens schloss.
Er stand auf, und die beiden Männer küssten sich gegenseitig auf die Wangen. Als Levi den Salon verließ, wusste er etwas mit Sicherheit.
Weder Denny noch er würden in dieser Nacht Schlaf bekommen.
* * *
Kurz vor Sperrstunde betrat Levi das Gerard’s , eine Kneipe an der Delancey Street im New Yorker Stadtteil Little Italy.
Das Lokal war fast verwaist, als Rosie, eine Mittdreißigerin aus Puerto Rico, einen älteren Mann auf wackeligen Beinen hinausscheuchte. Als sie Levi erblickte, verdrehte sie genervt die Augen, bevor sie sich wieder darauf konzentrierte, dem Betrunkenen durch die Tür hinauszuhelfen. »Pappi , soll ich dir wirklich keinen Uber oder so rufen?«
»Ne, alles gut.« Der Mann wischte den Vorschlag mit einer übertriebenen Armbewegung weg und stolperte durch die Tür, die Levi für ihn aufhielt. »Ich bin Rosie ... äh, ne, ich bin bloß besoffen. Meine Bude ist nur zwei Blocks entfernt.«
Rosie schaute zu Levi auf und deutete ins Lokal. »Denny wartet hinten auf dich, aber kannst du hinter mir abschließen? Ich sorge dafür, dass unser Freund hier in einem Stück nach Hause kommt.«
»Klar.«
Levi beobachtete, wie die Barfrau den älteren Burschen am Arm stützte, während sie zur Delancey Street gingen. Er kannte Rosie als ausgebuffte Frau mit großer Klappe, die ihm regelmäßig auf die Zehen stieg, weil er Denny von der Arbeit in der Kneipe abhielt. Daher fand er es interessant, eine andere Seite von ihr kennenzulernen.
Levi verriegelte die Tür und ging nach hinten, vorbei an den Toiletten, bevor er nach links in einen schwach beleuchteten Flur bog. Die rechte Seite wies ein buntes Mosaik einer Strandszene auf.
Levi kannte von Denny die Kombination der Kacheln, die man drücken musste, um das versteckte Hinterzimmer zu betreten. Als er den Arm zur Wand ausstreckte, ertönte ein Klicken, und mit einem Zischen von Luft erschienen die Umrisse einer Tür.
Sie schwang nach innen auf, und Denny steckte den Kopf in den Flur heraus. Sein sonst so kurz gestutzter Afro war ein wenig gewachsen, und er wirkte etwas abgehärmt, als er Levi hineinwinkte. »Wir auch verdammt noch mal Zeit. Ich dachte, du würdest früher kommen.«
Levi betrat den höhlenartigen, hell erleuchteten Raum und neigte den Kopf von einer Seite zur anderen, um die steifen Halsmuskeln zu lockern. »Ich weiß. Zu Fuß wäre ich schneller hier gewesen. Der Uber hat ewig gebraucht, bis er endlich aufgekreuzt ist und mich hergebracht hat.« Er ließ den Blick durch den Raum wandern und betrachtete die zahllosen Regale voller elektronischer Überwachungsgeräte, Oszilloskope, Teile zerlegter, topmoderner Sicherheitssysteme und so ziemlich jeder erdenklichen technischen Spielerei. Schließlich reichte er Denny den USB-Stick und den Umschlag von Vinnie. »Du hast wohl nicht vor, mal aufzuräumen, oder? Sieht ja aus, als hätte sich hier drin ’ne Filiale von RadioShack übergeben.«
»Von wegen.« Denny schnaubte, als er zu seinem Schreibtisch ging und sich an seinen Computer setzte. »Viel von dem Zeug hier hatte kein RadioShack je im Sortiment. Abgesehen davon glaub ich, die Firma gibt’s gar nicht mehr.«
Levi zog sich einen Stuhl heraus, während der Computerguru den Stick anschloss und die Finger über die Tastatur rasen ließ.
»Okay, das ist ’ne große Datei. Ich übertrage sie in meinen RAID-Speicher, damit ich sie schneller verarbeiten kann.« Nachdem er einige weitere Befehle getippt hatte, richtete er die Aufmerksamkeit auf den Umschlag. Er zog eine Schreibtischschublade auf, holte Latexhandschuhe heraus und sah Levi an. »Das hast du mir noch gar nicht gesagt. Was hat’s mit dem Stick und dem Zettel auf sich? Will ich das überhaupt wissen?«
Levi neigte den Stuhl nach hinten und zuckte mit den Schultern. »Ehrlich, wir wissen echt nicht viel. Wie schon am Telefon gesagt, stammt das Video von der Überwachungskamera am Eingang und zeigt, wie jemand einen unserer Jungs auf die Straße wirft. Unser Mann kann uns leider nichts sagen, weil er im Koma liegt.« Er zeigte auf den Umschlag, während Denny mit einer Pinzette vorsichtig ein blutverschmiertes Blatt Papier herauszog. »Der Zettel da war an sein Hemd geheftet.«
»Verstanden.« Denny öffnete eine kleine Plastikdose und streute behutsam ein feines schwarzes Pulver auf den blutverschmierten Zettel mit der handgeschriebenen kyrillischen Botschaft. Mit etwas, das wie ein feiner Pinsel aussah, wischte er sorgfältig einen Teil des Pulvers weg und runzelte die Stirn. »Da hatten aber viele Leute die Wurstfinger drauf.«
Levi beugte sich näher hin und erblickte auf dem Papier zahlreiche verschmierte Flecke, die das Pulver zum Vorschein gebracht hatte.
Denny drehte den Zettel um und wiederholte den Vorgang. Schließlich deutete er kopfschüttelnd auf eine Ecke des Papiers. »Sieht so aus, als hätten wir hier einen Teilabdruck. Ich kann versuchen, den durch die FBI-Datenbank laufen zu lassen.« Mit transparentem Klebeband übertrug Denny eine Kopie des Teilabdrucks auf ein quadratisches Stück Papier. Er legte das Papier auf einen Scanner und rief eine Website mit dem Logo des FBI auf. Nach wenigen Tastenanschlägen erschien ein rotierendes Symbol, das eine laufende Suche anzeigte. »Ich lasse den Abdruck zuerst durch die Datenbank der Next Generation Identification laufen. Wenn wir Glück haben, haben wir dort schon einen Treffer.«
»Klingt gut.« Levi zeigte auf den an den großen Computer angeschlossenen USB-Stick. »Was ist mit dem Video?«
Denny verstaute den Zettel wieder im Umschlag, gab ihn Levi zurück und zog die Handschuhe aus. Dann richtete er den Blick auf den Monitor und seufzte. »Was für USB-Sticks benutzt ihr eigentlich?«
»Warum? Stimmt was nicht?«
Nach ein paar Tastenanschlägen schnaubte Denny. »Lass mich nicht vergessen, dir eine Schachtel mit USB-3.0-Sticks mitzugeben, wenn du gehst. USB 1.1 hab ich seit der Jahrtausendwende nicht mehr gesehen.«
»Ist das ein Problem?«
»Nein, es wird nur dreißigmal länger dauern, die Datei zu übertragen.« Denny stand auf und bedeutete Levi, ihm zu folgen. »Aber macht nichts. Ich hab da was, das du ausprobieren kannst, während die Datei übertragen wird.«
Levi folgte Denny vorbei an Reihen aus Metallregalen und blieb stehen, als sein Freund ein Fedex-Paket von einem langen, schlichten Tisch ergriff.
Er öffnete es und holte daraus etwas hervor, das wie ein Kunststoffbehälter für Kontaktlinsen aussah. Denny reichte es Levi.
»Wieder eine Kontaktlinse?«, fragte Levi. Im Verlauf der Jahre hatte Denny ihn mit verschiedensten technischen Hilfsmitteln und Innovationen versorgt, die ihm aus so mancher Zwickmühle geholfen hatten. Er trug sogar gerade etwas davon. Mittlerweile besaß er fünf Exemplare dieses Anzugs, der mit einem dünnen, wie ein Gürtel um die Brust geschlungenen Akkupack verbunden war. Der Anzug selbst stammte nicht von Denny. Andere hatten ihn nahezu kugelsicher und stichfest angefertigt, eine geradezu geniale Arbeit. Denny hatte Infrarot-Lichtsender entlang der dunkelgrauen Nadelstreifen beigesteuert. Dank der versteckten, vom Akkupack versorgten Emitter wurde Levi gewarnt, wenn ihn jemand anstarrte.
»Ja, wieder eine Kontaktlinse, aber die ist anders.« Denny griff sich einen Laptop von einem nahen Regal, klappte ihn auf und tippte drauflos. »Ich übertrage dir eine App aufs Handy, die sich mit den Linsen verbindet. Die letzte, die ich dir gegeben habe ...« Er schaute zu Levi auf und runzelte skeptisch die Stirn. »Du hast sie doch noch, oder?«
Levi nickte.
»Gut. Wie du weißt, überträgt die letzte alles, was du durch sie siehst, direkt auf dein Handy, und ich kann auf die Daten zugreifen. Aber seit ich sie konstruiert habe, hat sich die Technik weiterentwickelt.« Denny zeigte auf das Etui in Levis Hand. »Setz sie ein, während ich’s dir erkläre.«
Levi schraubte den Verschluss auf und betrachtete die in Linsenflüssigkeit schwimmende Kontaktlinse. »Da sind mehr Silberstreifen drin als in der letzten.«
»An der Konstruktion hat sich nicht viel geändert. Das sind Glasfaserkanäle, verwoben mit gebündelten Arrays aus Kohlenstoffnanoröhrchen. Glaub mir, du bemerkst sie nicht, wenn du die Linse eingesetzt hast. Nimm das rechte Auge, weil ich dafür die Messdaten hatte.«
Levi holte die Kontaktlinse aus der Flüssigkeit, platzierte sie auf der Spitze seines Zeigefingers und sah Denny an. »Und diese Werte ändern sich nicht?«
Denny zuckte mit den Schultern. »Schätze, das werden wir gleich erfahren.«
Den Teil konnte Levi nicht ausstehen. Als er den Finger auf seinen Augapfel zubewegte, fragte er sich, warum sich irgendjemand freiwillig für Kontaktlinsen entschied. Die Idee, sich etwas direkt ins Auge zu drücken, erschien ihm verrückt. Und doch tat er es.
»Du weißt ja, wie es geht. Nur leicht draufdrücken, dann heftet sie sich von selbst an dein Auge. Sie richtet sich automatisch aus, wenn du ein paar Mal blinzelst.«
Levi tat, wie ihm geheißen. Die Welt wurde verschwommen, als er die überschüssige Kontaktlinsenlösung wegblinzelte. Dann wischte er die Nässe ab, sah sich um und bemerkte nichts Ungewöhnliches. »Okay, was jetzt?«
»Hol dein Handy raus. Die neue App sollte auf deiner Startseite sein. Tipp drauf, um sie zu aktivieren. Danach solltest du nichts weiter tun müssen. Solange du Empfang oder eine WLAN-Verbindung hast, bist du startklar.«
Levi zückte sein Handy. Kaum hatte er auf die App getippt, wurde vor seinem rechten Auge eine Verbindungsmeldung eingeblendet wie in einem Head-up-Display. Es fühlte sich seltsam an, weil der Text nur wenige Handbreit entfernt zu sein schien. Aber als er den Blick durch den Raum schwenkte, stellte er fest, dass er irgendwie direkt in sein Auge projiziert wurde. »Okay, ich kriege angezeigt, dass die Verbindung gerade hergestellt wird.«
Er richtete den Blick auf Denny. Plötzlich erschien um das Gesicht des Technikgenies herum ein rotes Rechteck. Darunter blinkte »Unbekannt«.
»Oha. Wenn ich dich ansehe, wird dein Gesicht markiert, und darunter steht ›Unbekannt‹.«
»Hervorragend!« Denny grinste. Mit ein paar Tastenanschlägen rief er ein Bild einer bekannten Persönlichkeit auf seinem Laptop auf und zeigte es Levi. »Und jetzt?«
Levi betrachtete es. In dem Moment, als er es erkannte, erschien ein grünes Rechteck um das Gesicht des Stars. Darunter stand in leuchtender Schrift »Nick Searcy, Schauspieler «. Während er weiter hinstarrte, scrollten biografische Daten nach oben.
»Das ist ziemlich cool.« Er wandte sich ab und konzentrierte sich wieder auf das Bild. Die Daten begannen mit dem Namen und dem Beruf. »Die Linse erkennt also, wen ich ansehe, und liefert mir biografische Daten, wenn ich länger hinschaue.«
»Genau. Außerdem dreistufig farbcodiert nach Herkunft der Identifizierung, kriminellen Verbindungen und aktiven Haftbefehlen oder ähnlichen Warnhinweisen.« Mit enthusiastischer Miene sprach Denny zunehmend schneller, während er seine Erfindung erklärte. »Das ist dank neuester Fortschritte in der Siliziumtechnologie möglich. Ich kann blitzschnell Hashes berechnen und sie fast wie einen Fingerabdruck für ein Bild verwenden, das du dir gerade ansiehst, indem der Hash ans Telefon übertragen wird und ich recherchieren kann ...«
Grinsend ließ Levi seinen Freund weiter über Dinge referieren, die ihn nicht interessierten und ohnehin seinen Verstand überstiegen. Er holte sein Handy heraus und scrollte durch willkürliche Bilder. Die ältere Kontaktlinse legte ein von einer Stiftkamera übertragenes Bild fast vollständig über sein rechtes Auge. Durchaus nützlich, aber in mancherlei Hinsicht auch unpraktisch. Diese Version beeinträchtigte seine Sicht und Orientierung weit weniger. Sobald der Schwall von Dennys Erklärungen verebbt war, fragte Levi: »Die meisten Bilder, die ich mir auf dem Handy ansehe, kann deine Linse identifizieren. Aber dich hat sie nicht erkannt. Ist ...«
»Bei der Suche verwende ich die Backend-APIs für den Zugriff auf NGI, das Identifizierungssystem der nächsten Generation des FBI. Außerdem NCIC, INTERPOL, die Passbilddatenbank unseres Außenministeriums und von etwa hundert anderen Ländern. Wenn’s sein muss, greife ich sogar auf die umgekehrte Bildersuche von Google zurück.« Denny bedachte ihn mit einem schiefen Grinsen. »Nur hab ich mich selbst aus so gut wie jedem dieser Repositorys entfernt, deshalb funktioniert die App bei mir nicht.«
Levi schwenkte den Blick durch den Raum, als Denny den Laptop weglegte. Er nahm die Linse überhaupt nicht wahr, was er großartig fand.
Denny bedeutete Levi, ihm zu folgen, als er zum vorderen Bereich des versteckten Lagerraums zurückkehrte. »Mal sehen, ob das Video auf mein System überspielt ist.«
Levi steckte den Kontaktlinsenbehälter ein und gähnte, als er Denny zu seinem Schreibtisch folgte. Ein Blick auf die Armbanduhr verriet ihm, dass es auf vier Uhr morgens zuging. Damit war er weit über seine übliche Schlafenszeit hinaus.
Der Computerguru zeigte auf ein am Monitor blinkendes Symbol. »He, die Datenbanksuche hat was ausgespuckt.«
Levi verspürte einen Anflug kribbelnder Erregung, der seine Erschöpfung vertrieb.
Denny rief eine Website mit dem Logo des FBI auf. »Ja, wir haben einen Treffer.« Nach ein paar Tastenanschlägen erschien auf dem Bildschirm eine Textseite mit dem Foto eines Mannes in der rechten oberen Ecke. »Kennst du einen Anthony Montelaro? Von ihm stammt der Teilabdruck.«
Levi stöhnte. »Ja. Tony hatte an dem Morgen Dienst bei unserer Sicherheitsmannschaft. Er muss den Zettel mit bloßen Fingern angefasst haben.«
»Ist eigentlich keine allzu große Überraschung. Ich wäre unter den Umständen wohl auch nicht so geistesgegenwärtig gewesen, mir erst Handschuhe zu holen.« Denny minimierte das Browserfenster und rief einen anderen Bildschirm auf. »Apropos Umstände, die Datei ist fertig kopiert. Mal sehen, womit wir’s zu tun haben.«
Levi beobachtete, wie Denny irgendein Programm öffnete. Sekunden später wurde das Videomaterial der Überwachungskamera auf dem Bildschirm angezeigt.
Die beiden sahen sich die Aufnahmen in Echtzeit an. Ein Geländewagen raste in Sicht und kam mit quietschenden Reifen zum Stehen. Die hintere Tür auf der Beifahrerseite schwang auf, und Jimmie Costanza wurde kopfüber auf die Straße geschleudert. Sofort setzte sich das Fahrzeug wieder in Bewegung und verschwand vom Bildschirm. Sekunden später tauchte eine Gruppe von Männern in Anzügen auf – das Sicherheitsteam der Familie Bianchi. Damit endete das Video.
Es kam einem Wunder gleich, dass die Hinterräder Jimmie nicht den Schädel zermalmt hatten, als der Geländewagen auf dem regennassen Asphalt davongebrettert war.
»Tja, das war hässlich«, kommentierte Denny und spulte zu einer Stelle zurück, an der man das Heck des Fahrzeugs sehen konnte. »Okay, was können wir hier erkennen?«
Er schaltete Bild für Bild weiter, während das Auto vom Tatort davonraste. Soweit Levi es erkennen konnte, hatte die Kamera kein einziges Mal das vollständige Kennzeichen erfasst. Als Denny das deutlichste Bild vergrößerte, das er finden konnte, erwiesen sich die Buchstaben als völlig verschwommen.
Levi runzelte die Stirn. »Wir müssen wohl die Auflösung unserer Überwachungskameras verbessern.«
»Nein.« Denny schwenkte abwiegelnd die Hand. »Für die Bedingungen sind die Aufnahmen gar nicht so schlecht. Anscheinend war es ein verregneter Tag, also waren die Lichtverhältnisse nicht ideal. Und Überwachungskameras sind grundsätzlich nicht auf perfekte Hochgeschwindigkeitsfotos ausgelegt. Wir haben ein Excelsior-Kennzeichen, also ist es aus New York. Und ich kann dir sagen, dass es irgendwann nach Juni 2020 ausgegeben worden ist.«
Mit gerunzelter Stirn starrte Levi eindringlich auf das verschwommene Bild. Er konnte den goldenen Klecks unten auf dem Nummernschild kaum erkennen. »Und der erste Teil des Kennzeichens scheint ›KKL‹ zu lauten. Aber sonst haben wir nichts.«
»Du, das reicht wahrscheinlich schon.« Denny wechselte das Fenster und rief eine andere Seite auf, die wie die Anmeldeseite für einen Mitarbeiter der Polizei von New York aussah. Er tippte etwas. Es folgten einige weitere Webseiten, bevor das Computergenie das Teilkennzeichen eingab. »An der Karosserieform erkenne ich, dass es ein brandneuer Lincoln Navigator ist. Also rufe ich bei der Zulassungsstelle die Datensätze für jedes Auto mit unserem KKL-Teilkennzeichen und diesem Modell auf.« Nach kurzem Tippen drückte er die Eingabetaste.
Levi beobachtete das Symbol einer Sanduhr in der Mitte des Bildschirms, bevor nach wenigen Sekunden drei Einträge erschienen.
Denny zeigte auf den Bildschirm. »Beim ersten steht, dass der Wagen blau ist, den können wir also überspringen. Der zweite ist schwarz, hat das richtige Baujahr und ist auf eine Frau namens Marsha Springfield in Canarsie zugelassen.« Der Eintrag zeigte ihre Adresse und eine Telefonnummer.
Levi rief sich eine Karte der Gegend ins Gedächtnis und konzentrierte sich auf Canarsie im südöstlichen Teil von Brooklyn. Eine gutbürgerliche Nachbarschaft, in der er im Verlauf der Jahre das eine oder andere Mal gewesen war.
»Bei Nummer drei passen Modell und Farbe. Zugelassen auf einen gewissen Alexander Rybakow ...«
»Warte, was kannst du mir über ihn sagen?«
Denny tippe kurz und rief etwas auf, das wie ein Passfoto aussah. Darunter lief ein kurzer Text über den Bildschirm.
»Anscheinend hat er einen russischen Pass. Geboren in der Ukraine, mit fünf Jahren in eine Region knapp außerhalb von Moskau gezogen. Er ist mit einem abgelaufenen Visum im Land.« Denny tippte rasant auf der Tastatur. Auf dem Bildschirm erschienen neue Logos samt Text. Er sah Levi an. »Der Mann ist bei INTERPOL gelistet. Hat zehn Jahre alte Vorstrafen wegen kleinerer Delikte. Er hat gesessen, ein Jahr in ...« Mit gerunzelter Stirn starrte Denny auf den Monitor. »Das kann ich nicht aussprechen.«
Levi sprach die Worte auf Russisch aus. Ihm fiel auf Anhieb ein, dass er den Namen des Knasts aus einer Dokumentation über die härtesten Strafanstalten Russlands kannte, die er vor etwa einem Jahr gesehen hatte. »Man kennt das Gefängnis unter dem Namen Schwarzer Delfin . Gehört angeblich zu den schlimmsten überhaupt. Nicht unbedingt ein Ort für einen Kleinkriminellen.«
Denny zuckte mit den Schultern und überflog weiter die Textseiten. »Aus den Aufzeichnungen von INTERPOL geht nicht hervor, wofür er verurteilt wurde. Hier ist nur der Schweregrad des Vergehens angegeben. Wer weiß, möglicherweise hat er den falschen Kommissar in Moskau gegen sich aufgebracht.«
»Vielleicht. Marshas Adresse habe ich. Hast du auch eine für unseren Russen?«
Die von Levi gewünschten Daten wurden angezeigt.
»Typisch ... Brighton Beach.« Levi beugte sich näher hin und betrachtete eingehend das Foto des Mannes. Die Kontaktlinse in seinem rechten Auge erfasste das Bild und identifizierte das Gesicht als Alexander Rybakow.
»Willst du einen Ausdruck?«
Levi tippte sich an die Schläfe. »Nicht nötig. Hab ich hier oben drin.«
Denny schüttelte den Kopf und seufzte. »Dein eidetisches Gedächtnis gehört mit zum Coolsten, was ich mir vorstellen kann.«
Levi stand auf und klopfte dem Computergenie auf die Schulter. »Ist nicht so fantastisch, wie du es dir denkst. Gut, ich kann mich an Bilder von Dingen erinnern, die ich gesehen habe. Aber das ist nicht dasselbe wie das Wissen, was sie bedeuten. Zum Beispiel hab ich mich in letzter Zeit mit Gesetzbüchern befasst ...«
»Hast du vor, Anwalt zu werden?« Denny lächelte.
»Nein, aber es schadet nicht, in groben Zügen zu wissen, was das Gesetz besagt. Wenn du mich fragst, was auf Seite 205 im Vorbereitungsmaterial für die Anwaltsprüfung steht, kann ich’s dir auf Anhieb sagen. Aber wenn du mir eine Frage zu der Antwort auf Seite 205 stellst, könnte ich die Verbindung nicht unbedingt herstellen. Lernen muss ich trotzdem auf althergebrachte Weise.«
»Oh.« Denny wirkte ein wenig enttäuscht. Schließlich stand er auf, gab Levi die Ghettofaust und gähnte. »Brauchst du sonst noch was?«
»Nein danke.« Levi folgte Denny aus dem Lagerraum. Vorn betrat gerade Rosie die Kneipe.
Rosario Fuentes. Seine Kontaktlinse identifizierte sie sofort.
Die Frau warf ihm ihren üblichen finsteren Blick zu, bevor sie die Aufmerksamkeit auf Denny richtete. »Freundchen, du wirst noch krank werden, wenn du Tag und Nacht arbeitest.«
Levi schmunzelte, klopfte Denny auf die Schulter und sagte: »Ich bin dann mal weg.« Er wandte sich an Rosie und deutete mit dem Daumen auf das Elektronikgenie. »Pass gut auf ihn auf.«
»Mache ich immer«, erwiderte sie, schwenkte wegwerfend die Hand, starrte Denny an und tappte ungeduldig mit dem Fuß.
Levi verließ die Kneipe und atmete tief den Geruch der Straßen in der Morgendämmerung ein.
Für ihn rochen sie ... nach einem Zuhause.
Er holte sein Handy heraus und wählte eine Nummer. In seinem Ohrstöpsel meldete sich die verschlafene Stimme von Frankie Minnelli. »Levi, ich hoffe, es ist dringend.«
Er grinste, als er sich durch die dunklen Straßen von Little Italy in Bewegung setzte. »Sieht so aus, als hätte ich eine Spur zu den Kerlen, die Jimmie aufgemischt haben. Ich müsste abgeholt werden und brauche eine Mannschaft.«
In der Leitung raschelte es. Levi stellte sich vor, wie Frankie hastig aus dem Bett aufstand.
Plötzlich klang die Stimme des Mannes stahlhart. »Wo bist du, und wo ist unser Ziel?«
»Ich bin in Little Italy, nicht weit vom Gerard’s . Unser Mann wohnt in Brighton Beach. Ich hab die Adresse.«
»Bleib dran, ich hab da ’ne Mannschaft, die gerade am Pier 36 unterwegs ist.« Frankie verstummte kurz. »Ich hab ihnen eine Nachricht geschickt. Sie sitzen schon im Auto und sind auf dem Weg zu dir. In ungefähr fünf Minuten sollten sie bei dir sein. Brauchst du irgendwas Besonderes?«
»Einen ungestörten Ort in der Nähe. Du weißt schon ... damit ich mich mit dem Mann unterhalten kann.«
»Verstanden. Ich schicke noch eine Mannschaft als Verstärkung. In der Gegend dort wimmelt’s nur so von Russen. Bis du fertig bist, steht außerdem ein Team bereit, das nach dir aufräumt. Und nur, damit du’s weißt ... Jimmie hat’s nicht geschafft. Das Krankenhaus hat mir vor ungefähr einer Stunde Bescheid gegeben.«
Levi blieb mitten auf der menschenleeren Straße stehen. Wut stieg in ihm auf.
Jimmie.
Verdammt noch mal.
Scheinwerfer blitzten auf. Ein Auto kam über die Grand Street angerast. 15 Meter entfernt bremste der Cadillac mit quietschenden Reifen ab. Carmine Ricci steckte den Kopf auf der Fahrerseite durchs Fenster heraus.
»Frankie, sie sind hier. Ich melde mich, wenn es vorbei ist.«
Levi beendete den Anruf und ging zum Auto hinüber. Er stieg hinten in der großen Limousine ein und sagte: »Brighton 7th Street. Sehen wir zu, dass wir dort sind, bevor die Leute in der Gegend aufwachen.«
Carmine legte den Gang ein und trat das Gaspedal durch.
Sie hatten alle einen Termin in Brighton Beach.
* * *
Aus Osten wehte ein leichter Wind. Levi atmete tief ein und genoss den Duft der salzigen Luft von der Sheepshead Bay. Es war kurz vor fünf Uhr morgens. Carmine saß am Steuer des Cadillac, während Levi vor einem Backsteinhaus in Brighton Beach wartete.
Der Rest der Mannschaft bestand aus Gino, einem ihrer besten Einbrecher, und den Gebrüdern Scarpetti, Männern fürs Grobe. Während Carmine im Wagen blieb, waren die anderen hinter das Haus gegangen. Nur Levi stand vorn, in der Morgendämmerung eine schemenhafte Gestalt auf der einsamen Straße.
Er ließ den Blick von links nach rechts wandern, betrachtete die Anordnung der Gebäude, achtete auf jede Einzelheit. Das Viertel war so vielschichtig wie der Großteil der Stadt. Die Russen lebten unmittelbar neben einem Laden mit kyrillischer Schrift unter einem Schild mit der Aufschrift »Friseursalon«. Daneben wiederum warb ein Schaufenster für Übersetzungsdienste.
Plötzlich bemerkte Levi eine Bewegung, und die Eingangstür öffnete sich.
Kälte lief Levi über den Rücken, als er einen großen, schlanken Mann aus der Doppelhaushälfte kommen sah. Lächelnd rief er Levi auf Russisch zu: »Ich habe mit einem Besuch gerechnet, und Sie haben mich nicht enttäuscht.«
Hinter dem Mann tauchte ein muskelbepackter Hüne mit den Händen in den Taschen seiner Windjacke auf. Taschen groß genug, um eine kurzläufige Schusswaffe zu verbergen.
Levi hatte draußen keine Kameras entdeckt. Aber woher sollte der Russe sonst wissen, dass er hier war? Und wo steckten Gino und die Jungs?
Auf der Straße herrschte eine gespenstische Stille, abgesehen von der Stimme des 15 Meter entfernten Mannes. »Lazarus Yoder, mein Boss möchte Ihre Dienste in Anspruch nehmen ...«
Der große Kerl neben dem Sprecher grunzte, als sich Gino aus einem Fenster im ersten Stock direkt auf dessen Schultern fallen ließ und ihm ein Tuch über Nase und Mund klatschte.
Der andere hob langsam die Arme, als einer der Gebrüder Scarpetti einen Revolver auf seinen Kopf richtete.
Gino sprang von dem Hünen, der zusammenbrach und mit dem Gesicht voraus auf der Eingangstreppe landete.
Der andere Russe betrachtete die auf ihn gerichtete Waffe und rief über die Schulter: »Das ist nicht nötig, Mr. Yoder. Mein Boss ist Juri Popow. Er möchte eine Vereinbarung mit Ihnen treffen.«
Gino näherte sich dem Russen und sprühte ihm ohne Vorwarnung etwas ins Gesicht, das ihn röchelnd zurücktaumeln ließ. Der Mafioso setzte sofort nach, schlang den Arm um den Hals des Mannes und zerrte ihn zu Boden. Dabei hielt er auch ihm ein Tuch über das Gesicht.
Stöhnend wehrte sich der Russe, doch nach wenigen Sekunden erschlaffte auch er.
Damit war es vorbei.
Levi ging die Stufen hinauf, während Gino in sein Handgelenkmikrofon sprach. »Wir brauchen einen Transport für drei. Und Beeilung, bevor die Leute in der Nachbarschaft aufwachen.«
Levi klopfte den Russen ab. Er fand dessen Brieftasche und klappte sie auf. Sie enthielt eine laminierte Karte mit kyrillischer Schrift und der französischen Übersetzung PERMIS DE CONDUIRE.
Der Führerschein eines gewissen Alexander Rybakow.
Ein ungekennzeichneter Kastenwagen hielt vor dem Doppelhaus, und die Gebrüder Scarpetti schleiften die Bewusstlosen zu dem Fahrzeug.
Gino verstaute eine Spraydose und die mit Chemikalien getränkten Tücher in einer wiederverschließbaren Plastiktüte. »Tut mir leid wegen der zwei Momos . Sie sind in dem Moment rausgegangen, als ich uns Zugang verschafft habe.« Grinsend hielt er die Tüte mit der Sprühdose und den Tüchern hoch. »Das Zeug funktioniert wunderbar. Ich hab den Russen in der Küche damit besprüht. Er hat mich nur eine Sekunde lang angeglotzt, bevor er zusammengesackt ist wie eine verkochte Nudel.«
Bei der Chemikalie in der Dose handelte es sich um Sevofluran, ein starkes Narkotikum. Levi hatte einigen Mitgliedern der Familie Bianchi beigebracht, wie man es einsetzte. Levi selbst war vor mehreren Jahren durch Leute von der CIA zum ersten Mal damit in Berührung gekommen. Seither bildete es einen festen Bestandteil seiner Trickkiste.
Er bedeutete Gino, ihm zu folgen, als er zum Cadillac ging, der im Leerlauf wartete. Unterwegs hielt er aufmerksam Ausschau nach Anzeichen von Bewegung. Das Letzte, was er brauchte, wäre jemand, der beobachtete, wie zwei leblos wirkende Körper in einen Lieferwagen verfrachtet wurden.
Nachdem sich Levi vergewissert hatte, dass die Luft rein war, nickte er dem Mann am Steuer des Kastenwagens zu, der in nördliche Richtung zur Brighton 7th Street losfuhr.
Levi stieg hinten in den Cadillac ein, Gino wie üblich vorn auf der Beifahrerseite.
Carmine legte den Gang ein und folgte dem weißen Kastenwagen.
»Wie weit bis zum Unterschlupf?«
Carmine warf einen Blick in den Rückspiegel und trat das Gaspedal durch. »Liegt direkt an der Avenue P. Wir sind in etwa acht Minuten dort.«
Levi nickte. Bis dahin würden die Männer höchstwahrscheinlich bewusstlos bleiben.
Er schaute nach Osten. Die Schatten der Nacht zogen sich zurück, als es am Horizont heller wurde und ein neuer Tag anbrach.
Levi rollte die steifen Schultern, um sie zu lockern, bevor er sich zurücklehnte und entspannte. Für ihn war es bereits ein unheimlich langer Tag gewesen, und er würde nicht so bald enden.
Ich habe mit einem Besuch gerechnet, und Sie haben mich nicht enttäuscht , hatte der Russe gesagt. Irgendwie erschien die Äußerung lächerlich, vor allem von jemanden, der anscheinend über ihn Bescheid wusste. Mein Boss möchte Ihre Dienste in Anspruch nehmen.
Levi hatte keine Ahnung, wer dieser sogenannte Boss sein mochte. Es spielte auch keine große Rolle. Er würde es aus dem Kerl herausbekommen, bevor er nicht mehr sprechen könnte, so viel stand für ihn fest.