Levi atmete tief ein. Der Geruch von Blut und Schweiß hing durchdringend in der Luft des Unterschlupfs, während er auf die reglose Gestalt von Alexander Rybakow starrte. Der Mann war nach vorn gesackt. Fest angezogene Lederriemen fesselten ihn an einen mit dem Boden verschraubten Stuhl aus Stahl. Das rechte Auge war fast völlig zugeschwollen. Blut tropfte von der aufgeplatzten Unterlippe. Levis letzter Schlag hatte dem Russen das Bewusstsein geraubt.
Die Zimmertür öffnete sich. Paulies fast 2,10 Meter hohe Silhouette füllte den Eingang aus, als er hereinkam und die schalldichte Tür hinter sich schloss. Er schaute auf Rybakow hinab. Seine Nasenflügel blähten sich ein wenig, als er den Kopf schüttelte. »Hast du alles bekommen, was du brauchst?«
Levi spritzte etwas Desinfektionsmittel auf die Handflächen, rieb sie aneinander, griff sich ein weißes Handtuch von dem Stapel auf einem nahen Kartentisch und wischte sich sauber. »Ich hab zumindest genug.« Er musterte den Gesichtsausdruck des großen Mannes. Obwohl Paulie ein Capo war, ein Gruppenleiter innerhalb der Familie Bianchi, und schon jeden Aspekt der dunklen Seite des Lebens in der Mafia gesehen hatte, spürte Levi, dass ihm der Anblick eines fast zu Tode Geprügelten an die Nieren ging.
Gut. Das bewies seine Menschlichkeit.
»Paulie, was ist mit den anderen beiden?« Levi deutete zur geschlossenen Tür.
»Es hat sich herausgestellt, dass sie doch Englisch beherrschen. Die beiden waren nur die Handlanger für den Kerl hier. Anscheinend hat sich einer Jimmie von einer Straßenecke irgendwo in der Nähe von Flatbush geschnappt. Der andere hat ihn verhört und anschließend aus dem Auto geworfen. So viel wissen wir.« Paulie reichte Levi sein Telefon. »Frankie hat angerufen und will ein Update.«
Levi nahm das Handy entgegen, wählte eine Nummer und hielt das Gerät ans Ohr.
»Wer ist da?«, drang Frankies Stimme grollend über die sichere Leitung.
»Ich bin’s. Ich bin hier fertig.«
»Okay, klär mich auf. Was wissen wir?«
»Ein Teil muss warten, bis wir uns persönlich sehen, aber die Typen arbeiten für jemanden in Russland namens Juri Popow.«
»Da klingelt bei mir nichts. Kennst du ihn?«
»Nie von ihm gehört. Jedenfalls haben die Kerle hier meinen Namen von ihrem Boss. Sie wollten mich für einen Job ausgerechnet in Russland anheuern.«
»Wieso will ein russischer Mafioso externe Hilfe für etwas, das sich in Russland abspielt? Das ergibt keinen Sinn. Irgendwas muss da noch fehlen.«
»Sehe ich auch so. Aber sie hätten in Gold bezahlt, die Hälfte im Voraus. Der Typ hier hatte einen Schließfachschlüssel dabei. Ich hab ihn Carmine zum Überprüfen gegeben. Jetzt bin ich geschlaucht. Ich brauch ein bisschen Schlaf und fahre zurück in mein Apartment.«
»Vinnie wird mit dir reden wollen, wenn er heute Nachmittag zurückkommt.«
»Geht klar. Ich bin seit über 36 Stunden auf den Beinen und brauche ein paar Stunden Ruhe. Danach gern. Sind wir fertig?«
»Ja. Sag Paulie, er soll dich zurückfahren. Überlass den Rest dort der Mannschaft.«
»Verstanden.«
Levi legte auf und wandte sich an Paulie. »Die Adresse drüben in Brighton Beach. Haben wir ...«
»Unsere Leute haben das Haus ausgeräumt. Die Sachen werden gerade in einem unserer Lagerhäuser gesichtet. Ich hab ihnen gesagt, sie sollten alles protokollieren und jeglichen Papierkram zum Helmsley bringen. Du weißt schon, Kontaktnamen oder Aufzeichnungen und so.«
»Gut.« Levi gähnte. »Du bist doch mit dem Auto hier, oder?«
Paulie nickte.
»Dann lass uns zurückfahren, ich muss ein wenig schlafen.«
Der große Mann deutete mit dem Daumen auf Rybakow. »Musst du sonst noch irgendwas aus dem da oder den anderen rausbekommen?«
»Nein. Wir sind fertig mit ihnen.« Auf dem Weg zur Tür schaute Levi zu Paulie zurück und begegnete seinem Blick. »Ich bin sicher, die Typen vermisst keiner.«
Paulie legte den Kopf schief und musterte Levi. »Was ist mit ihrem Boss?«
Levi schnaubte und schüttelte den Kopf. »Seine Leute haben es vermasselt, indem sie einen von uns so behandelt haben. Wir kümmern uns um unsere Leute. Mir ist egal, wer diese Pisser sind, klar?«
Der große Mann grinste und nickte langsam. »Ich sag’s der Säuberungsmannschaft. Ich kenne da eine Deponie, die dringend aufgefüllt werden muss.«
* * *
Mit vollem Magen nippte Levi an seinem Selters. Über den Travertin-Tisch im Esszimmer hinweg beobachtete er, wie Vanessa und Michael Bianchi, die Kinder des Dons, beide im Teenageralter, gegen die Bekanntgabe ihres Vaters protestierten.
»Dad, das ist nicht fair. Wir planen das schon seit zwei Wochen«, klagte Michael, ein gutaussehender 14-Jähriger mit den blauen Augen seiner Mutter. »Du hast gesagt, wir können dieses Wochenende mit den Ragussos an den Strand.«
»Bitte, können wir?« Vanessa, Michaels zweieiige Zwillingsschwester, klimperte mit den Wimpern und schaute zwischen den Tischenden hin und her. Sie hoffte sichtlich, ihre Eltern mit ihrer Schmollmiene zu überzeugen. »Ich sorge dafür, dass Michael diesmal keinen Ärger kriegt.«
Phyllis’ Stimme fuhr durch die Beschwerden wie ein Schwert. »Ihr habt euren Vater gehört, und damit basta.«
Nach einem Seufzen richtete Vinnie den Blick auf die Kinder. »Es tut mir leid. Ich mach’s auch wieder gut. Nur dieses Wochenende ist abgesagt.«
»Aber ...«
»Genug jetzt!« In Vinnies Augen flammte ein Funke der Wut auf, die Levi noch aus der Zeit kannte, als der Don und er Anfang zwanzig gewesen waren. Er gab seinen Kindern ein Zeichen. »Sagt unserem Gast gute Nacht, geht duschen und macht euch bettfertig.«
Michael ließ die Schultern hängen. Jeglicher Trotz verflog, als er und seine Schwester vom Tisch aufstanden.
Beide gingen zu Levi und drückten ihm einen Kuss auf die Wange. »Gute Nacht, Onkel Levi«, sagten sie unisono.
»Gute Nacht, Kinder.«
Die beiden verließen das Esszimmer im Penthouse. Als Phyllis begann, das schmutzige Geschirr einzusammeln, sah sie Vinnie an und fragte: »Ist alles in Ordnung?«
»Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest, Schatz.« Vinnie warf ihr einen Kuss zu. »Ich bin bloß vorsichtig.«
Mit zweifelnder Miene griff die Frau des Dons nach Levis Teller und sagte: »Solange Levi dabei ist, weiß ich, dass ihr nichts allzu Verrücktes anstellt.«
»Was soll das denn heißen?« Vinnie reagierte mit gespielter Empörung.
»Du weißt genau, was ich meine. Du bist immer noch ein Hitzkopf, Levi hingegen stets cool wie ein Eisblock.« Sie richtete den Blick auf Levi und runzelte die Stirn. »Aber zu cool bei seiner chinesischen Freundin. Warum seid ihr noch nicht verheiratet und habt eigene Kinder? Und wenn es mit ihr nicht passt, kenne ich viele Frauen, die genauso gut aussehen und vielleicht ein bisschen pflegeleichter wären, wenn du ihnen eine Chance gibst.«
»Und schon geht’s wieder los!« Vinnie schüttelte den Kopf.
Levi lachte. »Phyllis, ich weiß deine Besorgnis um mein Liebesleben zu schätzen, aber so, wie es ist, passt es mir vorerst ganz gut.«
Vinnie stand auf und gab Levi ein Zeichen. »Verschwinden wir, bevor Phyllis dir Blind Dates mit ihren aufgetakelten Freundinnen aufschwatzt. Wir reden im Arbeitszimmer weiter.«
Levi stand auf, drückte Phyllis einen Kuss auf die Wange und sagte: »Das Abendessen war großartig.«
Er folgte Vinnie aus dem Esszimmer, vorbei am Foyer und ins vordere Arbeitszimmer, wo der Don zur Bar ging und sich einen Drink einschenkte. »Willst du noch ein Selters?«
»Nein danke.« Levi ließ sich auf dem Sessel neben dem großen Kamin nieder und genoss die Wärme, die vom knisternden Feuer ausging. »Hat Frankie dir erzählt, was wir in Brighton Beach herausgefunden haben?«
»Hat er, und es hat sich was Neues ergeben.« Vinnie holte eine kleine Reisetasche aus Leder von seinem Schreibtisch und kam mit seinem Drink in der anderen Hand herüber. Er stellte die Tasche mit einem dumpfen, schweren Pochen vor Levis Füßen ab und sagte: »Mach mal auf.«
Levi öffnete den Reißverschluss. Zwischen mehreren Handtüchern zeichnete sich ein goldener Schimmer ab. Er fasste hinein und ergriff eines der Frotteebündel. Ein Goldbarren mit russischer Kennzeichnung rutschte heraus.
Den Angaben nach wog der Barren ein Kilo und bestand aus purem Gold, zu 999 Promille rein.
Vinnie zeigte mit seinem Drink auf Levi, als er sich ihm gegenüber auf einem anderen Sessel niederließ. »Du hast da gerade ungefähr sechzig Riesen in der Hand. Und es sind noch vier in der Tasche.«
»Hat Gino das aus dem Schließfach der Russen geholt?«
»So ist es.« Vinnie griff zu dem kleinen Tisch neben seinem Sessel, hob ein ledergebundenes Notizbuch davon auf und warf es Levi zu. »Das haben unsere Leute auch gefunden.«
Levi fing das Notizbuch auf und legte den Goldbarren beiseite. Er schlug das kleine Buch auf und erblickte einen Haufen handgeschriebener kyrillischer Schriftzeichen. Als er durch die Seiten blätterte, wurde schnell klar, dass sie mit Namen, Adressen und Telefonnummern gefüllt waren.
»Das ist ein Adressbuch.«
»Richtig.« Levi grinste, während er weiter durch die Seiten blätterte.
»Apropos.« Vinnie stellte seinen Drink auf den Tisch und beugte sich vor. »Wo um alles in der Welt hast du Russisch gelernt? Ich weiß, dass vor Jahren bei deiner Rückkehr irgendwas Seltsames zwischen einem Russen und dir abgegangen ist ...«
»Wladimir Porschenko.« Levi erinnerte sich an den Namen jedes Menschen, dem er je das Leben genommen hatte. Porschenko, ein russischer Politiker und Mafioso, war indirekt verantwortlich für den seltsamen Weg gewesen, den Levis Leben eingeschlagen hatte. Auf seinen Befehl hin war Maria getötet worden, Levis Frau.
»Genau. Daran, wie du das Buch durchblätterst, merke ich, dass du die Einträge lesen kannst. Ich würde wetten, du sprichst sogar Russisch. Die Familie hat früher nie viel mit den Russen zu tun gehabt. Woher kannst du es also?«
Levi grinste, während er das Buch weiter durchblätterte und nach einem Namen suchte. »Weiß ich ehrlich gesagt nicht. Nach Marys Tod war ich so viele Jahre in Japan, China, Russland und einigen anderen Ländern. Irgendwie hab ich die Sprachen im Verlauf der Zeit aufgeschnappt.«
»Einfach so?« Vinnie schnippte mit den Fingern und schüttelte ungläubig den Kopf. »Vielleicht hat’s was mit deinem verrückten Erinnerungsvermögen zu tun.«
Levi hielt auf halbem Weg durch das Buch an und grinste, als er einen bekannten Namen entdeckte. Er sah Vinnie an und fragte: »Hast du was über Juri Popow rausgefunden?«
Vinnie nickte. »Darüber müssen wir reden. Ich kann dir den einfachen Kram sagen. Er ist ehemaliger ukrainischer Boxchampion. Während du geschlafen hast, hab ich jemanden stöbern lassen.«
Levi legte den Kopf erwartungsvoll schief, als der Don kurz verstummte und die Lippen zu einer schmalen Linie zusammenpresste.
»Er war bekanntermaßen mit diesem Wladimir assoziiert, mit dem du deine Begegnung hattest.«
»Verdammt ... das kann nichts Gutes verheißen.« Levi verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Steht er mit irgendjemandem in Verbindung, der noch lebt und interessant für uns ist?«
»Da bin ich mir nicht sicher. Mir hat man gesagt, dass er einer von Wladimirs Vollstreckern war. Als du damals den großen Boss ausgeknipst hast, ist drüben ein Machtkampf ausgebrochen – den Juri nicht gewonnen hat.« Vinnie richtete den Zeigefinger auf Levi. »Lass dich davon nicht täuschen. Er hat in Russland trotzdem eine kleine loyale Armee. Und man erzählt sich, dass er sein Geschäft ausweiten will. Er hat schon Leute in ein paar amerikanischen Städten, in Los Angeles, Chicago und hier. Da wir uns ein paar seiner Jungs gekrallt haben, müssen wir uns bei ihm melden und die Sache mit ihm klären. Du weißt schon, branchenübliche Höflichkeit.«
»Hast du deshalb die Pläne der Kinder abgesagt?«
Vinnie zuckte mit den Schultern. »Ich bin nicht gern angreifbar, wenn ich nicht sicher bin, mit wem und was ich’s zu tun habe.«
»Leuchtet ein.« Levi grinste und drehte das Notizbuch so, dass Vinnie es sehen konnte. Er tippte auf einen Namen. »Tja, ich hab seinen Namen und eine Nummer. Soll ich ihn anrufen?«
»Jetzt?« Vinnie sah auf die Armbanduhr. »Wie spät ist es dort drüben?«
»Ungefähr vier Uhr morgens.« Levi holte sein Handy heraus und hielt die Einschalttaste gedrückt, um es wieder anzuwerfen. »Er sollte also gerade nicht allzu beschäftigt sein, falls die Nummer überhaupt stimmt.«
Der Don bedeutete Levi, es zu tun, lehnte sich auf dem Sessel zurück und nippte an dem bernsteinfarbenen Drink, den er sich eingeschenkt hatte.
Levi wählte die Nummer, schaltete den Lautsprecher ein und lauschte dem knisternden Klingelgeräusch am anderen Ende der Leitung.
Nach dem dritten Mal ging jemand ran. »Da?«
Ja?
Levi antwortete auf Russisch. »Ist Popow am Apparat?«
»Wer will das wissen?«
»Mein Name ist Yoder.«
Ein Rascheln drang aus dem Lautsprecher des Telefons. Es klang, als stünde der gerade aus dem Bett auf. »Ah, also hat Rybakow Sie gefunden. Gut. Ich habe versucht, Sie zu erreichen. Ich habe einen geschäftlichen Vorschlag für Sie.«
»Und der wäre?«
»Holen Sie Alexej ans Telefon.«
»Er ist gerade nicht greifbar.« Levi wusste nicht, wie Popow zu Rybakow stand. Daher hatte er auch keine Ahnung, wie der Mann die Nachricht von dessen vorzeitigem Ableben aufnehmen würde.
»Verstehe. Hat er Ihnen mein Geschenk überreicht?«
Levi bückte sich, wickelte einen der anderen Goldbarren aus und klopfte klirrend damit auf den ersten. »Wenn Sie das Gold meinen, dann ja.«
»Gut. Das ist nur ein Vorgeschmack. Das Zehnfache wartet bei einer Bank in der Schweiz auf Sie, wenn Sie meinen kleinen Auftrag erledigt haben. Ich brauche hier in Russland Ihre Dienste. Wann können Sie herkommen?«
»Moment.« Levi starrte stirnrunzelnd auf das Telefon. »Warum brauchen Sie ausgerechnet mich? Sie haben eigene Leute. Bestimmt können auch die erledigen, was immer Sie erledigt haben wollen.«
Einen Moment lang lachte Juri leise, bevor er sich räusperte. »Es gibt da jemanden, den ich sehr gern verschwinden lassen möchte. Nur kommt von meinen Leuten niemand nah genug ran. Sie hingegen würden es.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Ganz einfach. Der Mann, den ich beseitigen haben will, steht tief in Ihrer Schuld. Und ich weiß, dass er Sie nur zu gern treffen würde. Unter Umständen kennen Sie ihn nicht mal. Aber mit Sicherheit kennen Sie seinen ehemaligen Arbeitgeber. Er war übrigens auch mein Arbeitgeber. Regen sich beim Namen Wladimir Porschenko irgendwelche Erinnerungen?«
»Ja.« Levis Stirnrunzeln vertiefte sich. »Und von wem reden Sie? Wer will sich unbedingt mit mir treffen?«
»Jewgeni Karpow. Sein Vater war Mitglied der Duma, ein recht berühmter Mann. Leider gehört der gute Jewgeni zu den geschützten Personen in meinem Land. Er ist mit dem Präsidenten befreundet. Jewgeni ist ständig von einem Ring von Leuten umgeben, den niemand von meinen Leuten durchdringen kann. Wir haben es versucht. Aber ich weiß, dass Jewgeni mit Ihnen reden will, Lazarus Yoder. Seit Wladimirs Tod. Tatsächlich sind wir Ihnen beide zu Dank verpflichtet, auch wenn es schwierig zu erklären ist, warum. Ich weiß aus sehr zuverlässigen Quellen, dass Jewgeni eine stattliche Belohnung für Hinweise auf Ihren Aufenthaltsort ausgesetzt hat. Wenn Sie sich bei ihm melden, bin ich überzeugt davon, dass Sie an seinen Sicherheitsvorkehrungen vorbei und tun könnten, was getan werden muss. Glauben Sie mir, die Welt wäre besser dran, wenn Jewgeni nicht mehr atmet.«
Levi schüttelte den Kopf und blätterte erneut durch das ledergebundene Notizbuch. »Wenn der Kerl so gut beschützt wird, wie Sie sagen, fällt mir schwer zu glauben, dass er einfach die Tür öffnen und mich wie einen verschollenen Bruder begrüßen würde.«
»Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen seine Handynummer geben.«
Mitten im Blättern hielt Levi inne und starrte auf den Namen »Jewgeni Karpow« mit einer Telefonnummer und einer Adresse.
Juri leierte eine Nummer herunter, die mit der im Notizbuch übereinstimmte. »Alles verstanden? «
»Ja.« Levi warf einen Blick zu Vinnie, der ihn mit besorgter Miene musterte. Er hatte eindeutig keine Ahnung, wovon sie sprachen. Levi konzentrierte sich wieder auf das Telefonat, atmete tief ein und langsam wieder aus. »Yuri, ich denke über Ihr Angebot nach. Aber Sie sollten wissen, dass Ihre Leute einen schweren Fehler begangen haben, als sie versucht haben, mich zu erreichen.«
»Was ...«
»Sie haben einen von meinen Leuten umgebracht. Rechnen Sie nicht damit, dass Rybakow oder seine beiden Begleiter Sie je zurückrufen werden. Verstanden?«
Fünf Sekunden lang herrschte Schweigen in der Leitung. Dann sagte Juri: »Das ist bedauerlich, aber ich habe verstanden. Fehler kommen vor.«
Levi beugte sich näher zum Telefon. »Um es völlig klarzustellen, ich kann guten Gewissens sagen, dass es zwischen Ihnen und mir kein Problem gibt. Wir sind quitt. Bekomme ich die gleiche Zusicherung von Ihnen?«
»Einverstanden.« In Juris Stimme schwang eine leichte Schärfe mit. »Auge um Auge. Die Lage in Russland ist derzeit kompliziert, trotzdem kann ich dafür sorgen, dass Sie es über die Grenze schaffen. Lazarus, sind Sie dabei?«
»Das kann ich noch nicht sagen. Ich muss erst ein paar Dinge klären.«
»Ich kann das Angebot noch versüßen.« Juris Tonfall wurde milder. »Falls Sie an einer neuen Zugehörigkeit interessiert sind, in meiner Organisation hat sich offenbar gerade eine freie Stelle aufgetan. Alexej war wichtig für meine Expansionspläne. Vielleicht können wir Konditionen ausarbeiten, die im Vergleich zu Ihrer derzeitigen Situation günstiger für Sie wären. Ich brauche eine Antwort.«
Levi grinste, und Vinnie bedachte ihn mit einem verwirrten Blick. »Die kriegen Sie von mir, wenn ich alles gründlich durchdacht habe.«
»Ein Denker, was? Gut ... Eine Woche sollte Ihnen genug Zeit zum Nachdenken geben.« Juris Tonfall hatte sich leicht verändert. Die Ungeduld, die sich darin eingeschlichen hatte, grenzte an eine Drohung.
»Ich melde mich unter dieser Nummer bei Ihnen. Gute Nacht.« Damit legte Levi auf.
Seine Gedanken überschlugen sich mit den Informationen von Juri. Wahrscheinlich würde er sich an Brice wenden müssen, um etwas darüber zu erfahren, worauf er sich mit diesem Kerl einlassen könnte.
Vinnie starrte ihn an, beide Handflächen nach oben gerichtet, eine typisch italienische Geste. »Worum ist es gegangen?«
Levi grinste. »Wo soll ich anfangen?«
* * *
Ein Mann in den Roben eines buddhistischen Mönchs humpelte auf ihn zu. Über dem rechten Auge trug er eine Klappe, unter den Gewändern lugte ein Holzstumpf hervor. Eine Stimme in Levis Kopf sprach den Namen Amar Van . »Der Unsterbliche« auf Hindi. Als sich der Mann näherte, nahm Levi einen überwältigenden Geruch von Zimt und exotischen Gewürzen wahr.
Amar Van beugte sich dicht zu ihm und hob die Augenklappe an, entblößte die vertrocknete Höhle, in der sich einst ein Auge befunden hatte. Als er ausatmete, musste Levi beinah von dem Fäulnisgestank würgen, den die Gewürze überdeckt hatten.
»Du bist vom selben Fluch befallen ...«, flüsterte der Mann. »Du bist genau wie ich ...«
Japsend richtete sich Levi im Bett auf.
Er atmete tief die klimatisierte Luft seines Apartments ein und schauderte vor Abscheu über den Traum. Er hatte ihn schon oft gehabt, vor allem, wenn er sich gestresst fühlte, trotzdem hatte er nach wie vor jedes Mal dieselbe Wirkung auf ihn.
Der Mann in dem Traum entsprang nicht seiner Fantasie. Levi war ihm in den abgelegenen Regionen Nepals begegnet. Damals war Levi auf der Flucht vor sich selbst und den Erinnerungen an seine tote Frau gewesen. Der Mann hatte sich Narmer genannt und behauptet, er wäre Tausende Jahre alt – offensichtlich bloß ein Märchen, um den Kindern im Dorf Angst einzujagen, damit sie sich benahmen.
»Wenn du deinen Brei nicht aufisst, kommt der alte Narmer und holt dich!«
Während die Erinnerungen in ihm pulsierten, verspürte Levi dieselbe Beklommenheit wie immer nach dem Erwachen aus jenen Bildern.
Er stand auf, ging zum Waschbecken und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Dann betrachtete er auf seiner nackten Brust die Stelle, an der er angeschossen worden war. Nicht der geringste Makel erinnerte daran.
Nicht das einzige Merkwürdige an seinem Erscheinungsbild. Er sah wesentlich jünger aus als 45 Jahre. Viel jünger als sein Freund Vinnie, der nur drei Monate älter war. Der Don sah mittlerweile wie ein gediegenes Oberhaupt einer Mafia-Familie aus – ein bisschen Grau an den Schläfen, hier und da das eine oder andere Kilo zu viel, tiefere Fältchen auf der Stirn und um den Mund herum. Bei Levi zeigte sich nichts davon. Für ihn schien die Zeit stehen geblieben zu sein.
Wie es Narmer gesagt hatte.
Die Wissenschaftler, die Levi nach seiner Rückkehr in die USA beauftragt hatte, konnten keine Erklärung dafür liefern, was sie in seinem Blut entdeckten. Sie hatten keine Ahnung, was sie von den mikroskopischen Dingern halten sollten, die in ihm herumschwammen. Levi hatte sämtliche Beweise jener Untersuchung vernichtet – die Blutproben, die Röntgenbilder, die Elektronenmikrofotografien. Nur die Erinnerung an die dabei aufgedeckten Mysterien konnte er nicht auslöschen.
Die Ärzte hatten eingestanden, dass er ihnen Rätsel aufgab.
Seither hätte Levi mehrmals sterben müssen. Er war vergiftet worden. Angeschossen. Niedergestochen. Alles davon hätte ihn töten können – geradezu müssen . Hatte es aber nicht.
Weil in ihm ein überaus aktives Heilsystem arbeitete.
Davor hatte Narmer ihn gewarnt.
Es gehörte zu Levis Vergangenheit, die er zu verleugnen versuchte. Aber jeder Blick in den Spiegel erinnerte ihn daran, dass er sich belog. Nur in den frühen Morgenstunden wie diesmal gestattete er sich Kapitulation vor der damit einhergehenden Furcht.
Was, wenn Narmer recht hatte?
Der Gedanke, ewig zu leben, jagte ihm eine Heidenangst ein. Isolation von anderen. Für immer an seine Fehler gebunden. Der Schmerz, geliebte Menschen altern zu sehen.
Irgendwann würde er sogar den Tod seiner Kinder miterleben müssen.
Er löste den Blick vom Spiegel, kehrte zurück ins Schlafzimmer und betrachtete das neben dem Bett stehende Foto seiner Mädchen. Auch Lucy befand sich darauf. Sie verkörperte einen wichtigen Bestandteil seines Lebens, auch wenn sie kein Paar waren. Jedenfalls nicht im traditionellen Sinn.
Lucy war fast ihr gesamtes Leben lang von den Menschen in ihrer Umgebung missbraucht worden – aber sie hatte sich als stark genug erwiesen, um alles zu überwinden. Sie war die Witwe eines Anführers der Triaden und gehörte zu den wenigen Frauen mit echter Macht in dem chinesischen Verbrechersyndikat. Lucy würde sich nie irgendjemandem unterordnen. Sie war rücksichtslos, doch auf ihre eigene Weise ähnelte sie Levi – auch sie hatte gute Absichten.
Was ihre Methoden anging ...
Nun ja, wenigstens die Absichten waren gut.
Levi und Lucy waren zwei überaus willensstarke Menschen, die zusammen die Welt erobern könnten. Nur kannte Levi kein Machtstreben. Für ihn waren seine Adoptivtöchter alles. Sie standen unangefochten an erster Stelle.
Er sah auf die Uhr. Fünf Uhr morgens, und Alicia würde zu Besuch kommen. Er schnappte sich seine Trainingssachen und zog sich rasch an.
Es gab nur eine Möglichkeit, den Stress abzubauen, den er empfand. Unten im Keller erwartete ihn der schwere Sandsack.